Kommentar
kontertext: Friedenskongress im Krieg
Ob Israel am ESC teilnimmt oder nicht, ist in Israel kein Thema. Scheint dort niemanden zu interessieren.
Der grosse Friedenskongress, der letzte Woche in Jerusalem stattgefunden hat, ist in der Schweiz und wohl in ganz Europa kein Thema. Scheint hier niemanden zu interessieren.
Ein Friedensgipfel
Auf fünftausend schätzt «The Jerusalem Post» die Zahl der Leute, die sich am 9. Mai im «Jerusalem International Convention Center» trafen, zusammengebracht von «It’s Time!», einer Koalition aus über 60 jüdischen und arabischen Friedens- und Gemeinschaftsinitiativen, unterstützt vom New Israel Fund. Der vielstündige Kongress, der auf einen Tag mit kulturellen Interventionen folgte, bestand aus zahlreichen Reden, Diskussionsrunden, Filmen, Grussadressen, Musikevents usw. und zeigte die Breite der Bewegung.

Man sah und hörte alte Aschkenasim, kriegsdienstverweigernde Reservisten, palästinensische und israelische Frauen, Angehörige von Opfern des 7. Oktober und der israelischen Gewalt, Knesset-Abgeordnete, blutjunge Friedensfreaks. Maoz Inon, dessen Eltern am 7. Oktober getötet wurden, und Aziz Abu Sarah, dessen Bruder nach seiner Entlassung aus einem israelischen Gefängnis an inneren Verletzungen starb, betonten gemeinsam auf der Bühne, dass Rache Israelis und Palästinenser dem Frieden nicht näherbringe. «Gaza is Palestinian; it’s not Israeli!», rief der Ex-Premier Ehud Olmert. «It has to be part of the Palestinian state.»
Von der ersten Intervention an war klar: Ein Ende des Krieges und eine Ära des Friedens sind nur möglich, wenn die israelische Besetzung beendet und ein Arrangement zwischen den beiden Völkern gefunden wird. Natürlich wurde öfter die Zwei-Staaten-Lösung propagiert. Zu hören waren aber auch originellere und nachdenklichere Töne. Es gab mehrere Plädoyers für verschiedene Lebensweisen nebeneinander am selben Ort, Statements gegen «Angleichung». Wir sind eben nicht «ein Volk» sagte ein arabischer Knessetabgeordneter. An der Möglichkeit friedlichen Zusammenlebens aber hielten alle fest. Friede, so hiess es, sei nicht nur ein eurozentristisches, westliches Konzept, Friedenskonzepte und -strategien gebe es auch in anderen Kulturen. Als wichtige Frage wurde aufgeworfen, ob es nicht gelingen könnte, die Friedensfrage mit der sozialen Frage zu verknüpfen. Breite Teile der israelischen Bevölkerung verarmen und verschulden sich. Gleichzeitig nimmt der Reichtum zu. Hier entsteht vielleicht ein sozialer Konflikt, welcher der Regierung Netanyahu gefährlich werden könnte. Ohne den Sturz dieser Regierung mit ihren faschistischen und rassistischen Elementen aber, so viel schien jedenfalls klar, kann es keinen Frieden geben. In vielen Äusserungen war explizit oder implizit die Angst zu hören oder zu spüren, Israel könnte sich immer weiter in Richtung einer faschistisch-theokratischen Schein-Demokratie entwickeln.
Umgebracht zum Dank
Als ein grosses Porträt von Vivian Silver auf der Rückwand der Bühne erschien, wurden die Anwesenden von einer spürbaren Welle der Emotionen erfasst. Diese Friedensaktivistin hatte sich jahrzehntelang für Palästinenser und insbesondere für Kinder aus Gaza engagiert. Im Kibuz Be’eri wurde sie am 7. Oktober 2023 von der Hamas umgebracht. Sie gehörte zu den Gründerinnen der Frauenfriedensinitiative «Women Wage Peace» (WWP, 50’000 Mitglieder), die zusammen mit ihrer Schwesterorganisation, der palästinensischen Frauengruppe «Women of the Sun» (WOS, 3000 Mitglieder) den Kongress prägten und an die starke Präsenz der Frauen in der Friedensbewegung erinnerten. WWP und WOS forderten, dass endlich auch Frauen einbezogen werden sollten, wo immer politisch und diplomatisch über Krieg und Frieden verhandelt wird (1).
Ansonsten wurden als Nahziele das Kriegsende, die Befreiung der Geiseln und die Etablierung einer PLO-nahen Übergangsregierung für Gaza genannt. Sie sollte den Wiederaufbau organisieren und Terroristen (Hamas u.a.) von der Macht fernhalten. Zwischen Israel und der Autonomiebehörde müssten sofort Verhandlungen über die Errichtung eines palästinensischen Staates in den Grenzen von 1967 mit Gebietsabgleichungen und Jerusalem/al Kuds als der Hauptstadt beider Staaten beginnen.
Insgesamt wollte dieser Kongress nicht in erster Linie politische Auswege aus dem heutigen Desaster aufzeigen. Er wollte vor allem Mut machen in entmutigender Zeit und Hoffnung geben in hoffnungsloser Situation. Ermunternde Parolen kamen von der Bühne und wurden im Publikum mit lautstarker Begeisterung gefeiert. Gerade in Kriegszeiten muss, so hiess es, die gemeinsame Perspektive von Israelis und Palästinensern aufrecht erhalten werden.
Gibt es eine adäquate Reaktion auf den Gaza-Horror?
Orly Noy hat eine lesenswerte Grundsatzkritik am Jerusalemer Friedenskongress geschrieben. Noy arbeitet als Journalistin für das Magazin «+972» und für «Local Call», übersetzt persische Literatur und ist Vorstandsvorsitzende der Menschenrechtsorganisation B’Tselem sowie Aktivistin der arabischen Balad-Partei in Israel. Die Friedensbewegung, so argumentiert sie, verweigere mit diesem Kongress die adäquate und notwendige Konfrontation mit dem Horror im Gaza und der Rechtsentwicklung in Israel. Sie weigere sich, die palästinensischen Opfer wirklich anzuerkennen. Die klassischen Rezepte der Linken wie Zusammenarbeit, Zwei-Staaten-Lösung, nette Workshops etc. seien heute nur noch entpolitisierende Ausflüchte, um sich der grausamen Realität nicht stellen zu müssen. Die Hoffnung, «der tiefe und blutige Bruch, den wir gerade erleben», führe die israelische Öffentlichkeit zu der Erkenntnis, dass ein anderer Weg Richtung Friede und Zusammenleben gefunden werden müsse, sei trügerisch. Die allgemeine Auffassung in Israel neige doch eher dazu, die Palästinenser mit Gewalt, Vertreibung und Vernichtung zu beseitigen.
Noy trifft einerseits einen wunden Punkt: Um ihre Basis nicht zu verlieren, muss die Friedensbewegung, wenn die heterogenen Gruppen gemeinsam handeln wollen, vorsichtig sein. Sie muss Wörter wie «Völkermord» oder «Faschismus» vermeiden und ihre Empörung zügeln. Die Gefahr der Realitätsverleugnung und der Verweigerung von Mitgefühl besteht. Auf der anderen Seite landet Noy, wenn es um Handlungsmöglichkeiten geht, im resignierten Abseits. Sie empfiehlt der Linken:
«My suggestion to the left is to linger for a moment in this place of total rupture and helplessness, to recognize our limitations within this genocidal reality, and from that place, to reexamine our role.»
«Mein Vorschlag an die Linke ist, einen Moment an diesem Ort des völligen Bruchs und der Hilflosigkeit zu verweilen, unsere Grenzen in dieser völkermörderischen Realität zu erkennen und von diesem Ort aus unsere Rolle zu überdenken.»
Damit ist den gequälten Gazaouis auch nicht geholfen. (2)
Und wir
Ein einziger europäischer Staatsmann liess sich per Video zum Jerusalemer Kongress zuschalten, um eine Gruss- und Ermutigungsbotschaft zu überbringen: Emmanuel Macron. Man hätte gerne noch andere gehört.
Aber auch unsere grün-bunt-links bewegten Aktivisten halten sich sehr zurück. Meine Standardfrage an Leute, die seit anderthalb Jahren regelmässig an die Demos in Tel Aviv oder Jerusalem gehen, ob sie sich an Grussadressen von europäischen Parteien oder Bewegungen erinnern können, wurde fast immer verneint. Ich selbst fand es berührend und erhellend, als man mir auf einer Demo in Jerusalem sagte: «Thank you for coming here.» Aus Gesprächen mit Bekannten in der Schweiz weiss ich, dass hierzulande bei vielen die Sympathie für «die» Palästinenser oft die Hamas mit ein- und «die» Israelis, auch die Friedenskämpferinnen, ausschliesst. In dieser Kriegslogik bleibt natürlich kein Raum für Solidarität mit der Friedensbewegung.
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1) zu WWP und WOS siehe «Das Magazin» Nr.17 vom 26. April 2025
2) In die gleich Richtung wie Noy geht die radikalere Kritik von Abed Abou Shhadeh in «Middle East Eye»
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
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Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren. Sie greift Beiträge aus Medien auf, widerspricht aus journalistischen oder sprachlichen Gründen und reflektiert Diskurse der Politik und der Kultur. Zurzeit schreiben regelmässig Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler, Felix Schneider und Beat Sterchi.
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