Kommentar
kontertext: Eine Flotilla ohne Waffen
Am 31. August starteten fünfzig Boote mit etwa 500 Menschen aus 57 Ländern von verschiedenen Mittelmeerhäfen in Richtung Gaza mit dem Motto: Sailing to Gaza. Ihre Mission war es, die israelische Seeblockade zu durchbrechen und dringend benötigte Medikamente, speziell für die vom Hungertod bedrohten Kleinkinder, abzuliefern. Unter ihnen waren viele Ärzt:innen; die Schweizer Delegation wurde von einem Walliser Arzt angeführt. Die internationale Aktion zeigte Flagge gegen das Versagen und die Ohnmacht der Politik – als Flotte eines globalen «sumud», eines gewaltfreien Widerstands. Mit welcher Wirkung?
Waves of Freedom
Seit zwei Jahren hoffen Millionen Menschen weltweit, dass Israel seinen Vernichtungskrieg stoppt und dass die Hamas die Geiseln freilässt. Und zuletzt auch, dass Medikamente und Lebensmittel die vom Hungertod bedrohte Bevölkerung Gazas erreichen. Niemand schloss sich der Flotilla leichtsinnig an. Alle wussten, auf welche Gefahren sie sich einliessen und dass sie scheitern könnten. Dennoch hofften alle, dass fünfzig Schiffe schaffen könnten, was fünf nicht können.
Hoffnung braucht es nur, wo auch Angst ist. Vor seinem Aufbruch sagt der Anführer der Schweizer Delegation, Hicham El Ghaoui, nüchtern: «Israel tötet Kinder, bombardiert die Zivilbevölkerung und hungert sie aus – glauben Sie, dass sich dieser Staat um unser Leben kümmert?» Für Hoffnung braucht es auch Mut, das belegten die 500 Zivilist:innen. «Wir wissen nicht, ob wir ankommen – aber wir fahren los, weil wir müssen», lautete eine weitere Losung der Mitglieder der Flotilla.

Damit lösten sie in Europa und darüber hinaus eine grosse Solidarisierung aus, verstärkt durch die in allen Kulturen tief verankerte Symbolik des Bootes. Ein Boot oder ein Schiff ist immer unterwegs, in Bewegung, es schafft einen Übergang – in einer Situation, die verfahren und blockiert ist. Und es ist ein Symbol für Gemeinschaft und die Fähigkeit, gemeinsam zu navigieren – auf freiem Meer. Die israelischen Drohnen haben dieses Sinnbild gestoppt, die Aktivist:innen zu Terroristen erklärt und verhaftet.
Dass keine Waffen an Bord waren, sondern Hilfsgüter passte allerdings nicht (mehr) ins Weltbild der israelischen Soldaten und Behörden. Genau mit dieser Schutzlosigkeit hat sich die Bedeutung der Boote in der Weltöffentlichkeit eingeprägt — bangten doch viele auch um das Überleben der Aktivist:innen.
Pseudopatriotismus?
In der Schweiz nennt sich die Delegation der Flotilla «Waves of Freedom». Die Schiffe trugen Namen wie «Heidi», «Hind», «Sham»; fünf waren geplant, dann wurden es sieben. Nicht alle Mitglieder der Besatzungen rückten weiter vor, als Israel mit dem Drohnenbeschuss begann. Die meisten kehren im Lauf dieser Woche zurück, nachdem sie von Israel ausgeschafft worden sind. In Genf wurden die ersten von ihnen als Held:innen begrüsst bei der Ankunft. Falsche Gefühle, falsche Gesten? Hat sich der Einsatz denn doch gelohnt?
Die Flotilla und ihre Solidarisierungsbewegung wurde auch als naiv belächelt und kritisiert. Am meisten beschäftigt haben mich zwei Einwände von geschätzten Bekannten. Der eine lautet, dass es das Kalkül der Aktivist:innen war, verhaftet zu werden, um dann mit «pseudopatriotischer» Mobilmachung vom Bundesrat die Freilassung der inhaftierten «Schweizer:innen» zu verlangen. Und der andere Einwand lautet, warum Menschen in der Schweiz auf die Strasse gehen, um die Einhaltung des internationalen See- und Völkerrechts einzufordern, wenn es sich um Schweizer Aktivist:innen handelt? Warum tun sie es nicht bei namenlos Geflüchteten auf dem Mittelmeer, die oft aus ähnlich katastrophalen Situationen fliehen, wie sie in Gaza und dem Westjordanland herrschen? «Messen wir also den Wert eines Menschenlebens an der gemeinsamen Staatszugehörigkeit?», fragt eine Kollegin auf Facebook.*
Symbolpolitik?
Der Einwand ist nicht unberechtigt, er übersieht – so scheint mir – aber die Bedeutung von Symbolpolitik, die dort wirksam ist, wo Menschen sich identifizieren und in direkten Kontakt treten können. Mit der ganzen Welt zu leiden, geht affektlogisch nicht. Jeden Tag über Jahre zu protestieren, überfordert alle Kräfte. Deshalb braucht es immer wieder starke symbolische Aktionen aus der Nähe, die helfen, den Widerstand zu fokussieren.
Generell wird Symbolpolitik vorschnell abgewertet. Während sie den Machthabern oft einfach als Täuschungsmanöver und Getöse dient, ist sie seitens der Gesellschaft oft das einzige Mittel der politischen Intervention und des gewaltfreien Widerstands. Immer haben einfache Symbole viel beigetragen zu sozialen Bewegungen. Ob Nelken in Portugal, orange-blaue Fahnen in der Ukraine oder bunte Schirme in Hongkong – sie waren Symbole und gleichzeitig sofort eingängige, transkulturelle Zeichen der Verbundenheit, der Solidarität und des Widerstands.
So waren die Boote keineswegs leere Symbolpolitik – nicht nur hatten sie Hilfsgüter an Bord, auch forderten sie den Bundesrat sehr konkret heraus, gegen Israels Seerechts- und Menschenrechtsverletzungen die Stimme zu erheben (bisher ohne Erfolg).
Epilog: Flagge zeigen?
Befragt nach der Situation der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland und Frankreich und zum Krieg in Gaza, entwirft Daniel Cohn-Bendit letzte Woche in einem Gespräch auf France Inter ein anderes Bild, das in seiner Symbolik Schule machen könnte: Das Richtige wäre jetzt, so Cohn-Bendit, dass pro-palästinensische Menschen sich auf den Strassen mit zwei Flaggen zeigen würden, zusammen mit pro-israelischen Menschen, die ebenfalls zwei Flaggen trügen. Wobei das Weiss in beiden Flaggen das Verbindende wäre. Das wäre keine leere Symbolik. Das wäre mehr als ein hinterhältiger Friedensplan. Man stelle sich das vor!
*Namen der Autorin bekannt
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. Silvia Henke ist Literatur- und Kulturwissenschaftlerin und Publizistin. Sie unterrichtet an der Hochschule Luzern Design & Kunst u.a. Kunst und Politik und visuelle Kultur. Forschungsschwerpunkte sind Kunst und Religion, künstlerisches Denken, transkulturelle Kunstpädagogik. Sie interessiert sich grundsätzlich für die Widersprüche der Gegenwart, wie sie auch in der Medienlandschaft auftauchen, und veröffentlicht regelmässig Texte und Kolumnen in Magazinen und Anthologien.
Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren. Sie greift Beiträge aus Medien auf, widerspricht aus journalistischen oder sprachlichen Gründen und reflektiert Diskurse der Politik und der Kultur. Zurzeit schreiben regelmässig Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler, Felix Schneider und Beat Sterchi.
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