Kommentar

kontertext: Aufrüstungsspirale

Beat Mazenauer © zvg

Beat Mazenauer /  Wer vertraut, ist ein Trottel. Wie der Eigennutz uns vergiftet.

Es ist Sommer, Zeit für kühle Abende im Garten. Eine Runde sitzt um den Tisch, isst etwas Gutes, trinkt kühle Getränke und plaudert über dies und jenes. Genau einen solchen Abend verbrachte ich jüngst in einer angenehmen Gesellschaft. Die Gespräche gingen in lockerer Atmosphäre hin und her und mäanderten vom ernsthaften Thema zum lockeren Spruch und wieder zurück. 

Irgendwie touchierte das Gespräch an jenem Abend auch einen Punkt, der mich seither beschäftigt. Es ging um den Service (public) bei uns, um Gasthäuser, Post oder Swisscom und was man dabei so alles erlebt. Beiläufig erwähnte ich, dass ich vor Zeiten mal einen Schalterbeamten fragte, ob er sich vorstellen könne, warum ich das Postamt oft mit einem schlechten Gefühl verlasse. Wer nicht aufpasst, bekommt ungefragt schnell mal eine A-Marke verpasst, wo B längst gereicht hätte. Und die Swisscom erst: Ich erwähnte eine sehr ärgerliche Begebenheit in einer Filiale, bei der ich mir ernsthaft betrogen vorkam. Einen Monat nach Vertragsabschluss, nach Erhalt der ersten Rechnung, merkte ich, dass man mir ein Abonnement untergejubelt hatte, von dem nie die Rede war und von dem ich mit Sicherheit wusste, dass ich es nie würde brauchen können. Wie immer, das kann passieren und jemand am Tisch meinte leichthin, dass ich solche Situationen vielleicht selbst anziehen, ja provozieren würde. Angestellte würden bemerken, wenn jemand anfällig sei, um betrogen zu werden. Das erschien mir auf Anhieb schlüssig. Ich gehe tatsächlich in solche Geschäfte mit der Haltung, dass ich fachkundig und fair behandelt werde. Die Gespräche suchten sich weitere Themen, dieses kurze Zwischenspiel aber hielt sich wie ein Dorn in meinem Fuss. Wirklich mein Fehler? Wenn das eine Erklärung ist, was erklärt sie dann, und macht sie das Ganze nicht noch viel schlimmer als angenommen?

Trau keinem?

Auf einer Litfasssäule fand ich kürzlich einen Vortrag angekündigt: «ALLE WOLLEN VERTRAUEN, KEINER WILL VERTRAUEN» – in Kapitälchen, damit der kleine Unterschied nicht gleich auffällt. 

Weiten wir die Begebenheit von vorhin ganz kurz ins Grosse. Zwei Weltmächte, nennen wir sie mal so, versuchen ihr konflikthaftes Gegeneinander mit Verträgen abzusichern, damit beide mit dem Ausgehandelten zufrieden sind und bereit, sich auch daran zu halten. Vertrauen ist da unabdingbar. Nun aber sucht die eine Seite den kleinen Vorteil und verletzt damit das Vertrauen der anderen. Sobald das ruchbar wird, folgt zwingend und immer dasselbe: Vertrauensbruch erzeugt Rüstung erzeugt Aufrüstung und so eine Spirale, in der das Misstrauen die Oberhand gewinnt. Es bedarf in dieser Zeit keiner konkreten Beispiele. Sie stehen täglich zuoberst auf dem Newsticker. 

Zurück zum Alltag. Wenn ich die kleine Zwischenbemerkung recht verstanden habe, darf ich mir nicht erlauben, ein Geschäft zu betreten und den Angestellten vertrauensvoll zu begegnen. Wer vertraut, offenbart eine Schwäche. Ich muss mich vielmehr wappnen – oder eben rüsten –, damit diese meine Schwäche nicht erkannt und gezielt ausgenutzt wird. So einfach ist das also, es braucht dafür nicht einmal mehr die Order einer übergeordneten Geschäftsinstanz. Der Eigennutz ist Primat bis in die Tentakel der kleinen Geschäfte. 

Man kann selbst bei gelassenen Abendunterhaltungen im Garten immer etwas lernen. Ich hätte gerne darauf verzichtet, auf die Lehre, aber nicht auf den schönen Abend. Für Entrüstung besteht somit gar kein Grund. 

PS. Eigentlich wollte ich an dieser Stelle über das Verb „kriegen“ schreiben, das selbst heute bedenkenlos verwendet wird. Seit jenem Sommerabend verstehe ich einiges besser. Gegen den Primat des Eigennutzes vor dem Gemeinnutz wappnet keines der über 40 Synonyme, die der Leipziger Wortschatz für „kriegen“ anbietet.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Beat Mazenauer ist freier Autor, Literaturkritiker und Netzwerker und leitender Redaktor der Buchreihe essais agités. Er lebt in Luzern und Zürich. Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren. Sie greift Beiträge aus Medien auf, widerspricht aus journalistischen oder sprachlichen Gründen und reflektiert Diskurse der Politik und der Kultur. Zurzeit schreiben regelmässig Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler, Felix Schneider und Beat Sterchi.
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

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5 Meinungen

  • am 5.07.2022 um 11:28 Uhr
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    Die Sache mit dem «Vertrauen» ist in der heutigen allgemeinen Geschäftswelt und in der Finanzwelt schon lange vorbei. Der heutige vorwiegende Denkansatz ist, «wenn ich bei einem Geschäft nicht den anderen über den Tisch gezogen habe, dann hat der andere sicher mich über den Tisch gezogen».

    Das gilt nicht nur im Geschäftsleben, sondern auch in der Politik und nun insbesondere gut beobachtbar beim Streit zwischen dem Westen und Russland.

    Vertrauen ist nicht mehr en vogue, dubioser Eigennutz ist gefragt!

    • Portrait Beat Mazenauer
      am 5.07.2022 um 12:09 Uhr
      Permalink

      Und doch sollten wir wohl ein Quäntchen davon bewahren, sei es nur für uns selbst.

  • am 5.07.2022 um 11:47 Uhr
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    Ja, das Vertrauen ist futsch. Ich habe das Gefühl, je grösser die Firma, desto undurchsichtiger sind die Geschäftsbedingungen. Wir leben in einer Scheinwelt. Man tut so, als ob alles geregelt wäre. Für private Internetznutzer ist das ganz klar zu ihrem Nachteil. Niemand ist in der Lage beim Kauf eines Artikels oder einer Dienstleistung die Bedingungen genau zu verstehen und die Folgen genau abzuschätzen. Milliardenfach klicken wir die Cookie-Erklärungen auf den Homepages weg, ohne je die Bedingungen zu lesen. Es würde längst andere Richtlinien für das Internet brauchen. So wie es heute läuft, können die Homepage-Besitzer den grössten Unfug in ihre Bedingungen (egal ob für Cookies oder Vertragsbedingungen) schreiben und sich danach rechtfertigen: ‹ Wir haben es Ihnen doch gesagt› oder ‹Steht doch in unseren Bedingungen, dass wir ihre Daten an die NSA liefern›. Warum sollte da jemand Vertrauen haben?

  • am 5.07.2022 um 12:03 Uhr
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    Das Prinzip von «Treu und Glauben» hat in der Schweiz einen hohen Rang. Es ist in der Bundesverfassung verankert: «Staatliche Organe und Private handeln nach Treu und Glauben» (Artikel 5). Im Zivilgesetzbuch steht ebenfalls «Jedermann hat in der Ausübung seiner Rechte und in der Erfüllung seiner Pflichten nach Treu und Glauben zu handeln»
    Wer vertraut, ist in der Schweiz kein Trottel. Wenn wir aber zu viele Trottel haben, leiden die schweizerische Gesellschaft und Wirtschaft.

  • Christoph_Schmid
    am 5.07.2022 um 17:32 Uhr
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    Es scheint mir eine der übelsten Folgen des Ukrainekrieges für unser Denken und Handeln zu sein: dass Vertrauen als moralische Haltung derart abgewertet worden ist. Politiker:innen, die Putin vertraut haben, er würde die Ukraine nicht angreifen, unsere Öl- und Gasabhängigkeit von Russland nicht zur Erpressung benützen, werden im besten Fall als naiv, sicher aber als unwählbar taxiert. Zu was das führt, sagt Herr Mazenauer richtig: zur Aufrüstungsspirale solange, bis einer nicht mehr mithalten kann – siehe Untergang der Sowjetunion. Wenn ich bei einem Gespräch unter Freunden erkläre, dass ich vor einem halben Jahr eine Riesenwette verloren hätte auf die Frage, ob Putin einen Angriffskrieg gegen die Ukraine losbrechen würde oder nicht, muss ich mich wortreich verteidigen, um nicht als Trottel oder zumindest als Naivling dazustehen. Dabei ist in unserer Zivilisation Handeln auf Vertrauensbasis eine der wichtigsten Errungenschaften.

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