Kommentar

Französische Parallelwelten

Felix Schneider © zvg

Felix Schneider /  Die gesplitteten Bildschirme der französischen Nachrichtensender erschienen letzten Mittwoch wie ein Symbol für das ganze Land.

Auf der einen Seite die fixe Einstellung auf «Matignon», den Regierungssitz. Gezeigt wurde die Inthronisation des soeben ernannten Macron-Freundes Lecornu als chancenloser neuer Regierungschef. Macron hat sich offenbar entschlossen, so schnell wie möglich weiter zu machen wie bisher! Der Neue sprach zwar von einer notwendigen «rupture», aber wer glaubt ihm das noch? Schlimmer noch: wer interessiert sich überhaupt noch für das, was in der offiziellen Politik vor sich geht? Immer weniger Leute. Als der ehemalige Ministerpräsident Bayrou kurz vor seinem Sturz die Nation beschwor, sein Sparbudget für das nächste Jahr zu akzeptieren, waren die Einschaltquoten beschämend gering.

Auf der anderen Hälfte der Bildschirme die bewegten Bilder der Demonstrationen und Blockadeaktionen im ganzen Land: 250’000 Teilnehmende und 80’000 Polizisten. Was haben sie erreicht?

Die braven Brigaden

Die Blockaden sind durchweg verhindert worden. Da hat die Polizei gewonnen, vor allem dank ihrer schnellen, motorisierten Eingreiftruppen, den BRAV-M («Brigade de répression de l’action violente motorisée»). Die Massenkundgebungen aber konnte die Polizei nicht verhindern, da haben die Demonstrierenden gewonnen. Zur Illustration eine Szene, wie ich sie erlebt habe:

Auf dem Platz Châtelet stehen schon Tausende. Aus der Rue St. Denis kommen ständig neue Menschenmassen dazu. Da schliesst die Polizei, die Compagnies républicaines de sécurité (CRS), überraschend den Zugang zum Platz, indem sie eine Kette schwarzgekleideter, schwerbewaffneter Polizisten quer über die Rue St. Denis platziert. Zwar lässt sie einen schmalen Durchgang offen, aber da müssen sich die Demonstrierenden in Einerkolonne zwischen den dicken Bäuchen der Polizisten durchzwängen. Natürlich kommen weiter Demonstrierende, die Polizisten stehen bald in der Menge auf Tuchfühlung mit den Demonstrierenden. Plötzlich ziehen sie ihre Helme und Handschuhe an, verstecken sich hinter ihren Schilden. Es ist ein kritischer Moment. Ein grössere Anzahl junger Leute beginnt zu singen und zu tanzen, die Situation entspannt sich wieder und die CRS ziehen plötzlich ab. Erleichterung, Freudenschreie, Gesang: «Même si Macron ne veut pas, on est là, on est là». Das Lied ist von den Gelbwesten übernommen, die es ihrerseits von Demonstrationen der Eisenbähnler gelernt haben,  und es passt nicht schlecht, denn das provokative Verhalten der CRS ist die praktische Folge von Macrons Sturheit, wie sie auf dem anderen Teil des Bildschirms zu sehen ist.

Allein? Unabhängig? Verloren?

In dem Teil der Kundgebungen, den ich überblicken konnte, waren die Teilnehmenden mehrheitlich jung, intellektuell und links oder linksradikal. Ihre Umgangsformen untereinander waren ausgesprochen vorsichtig und höflich. Ihre Gelassenheit auch angesichts der schwerbewaffneten Polizei, die sich demonstrativ in Szene setzte, war enorm. Sie schienen sie zu ignorieren.

Und sie wirkten allein gelassen. Die Gewerkschafter von der Confédération générale du travail (CGT) blieben – nicht ganz, aber weitgehend – unter sich. Entstanden ist die Bewegung «Bloquons tout», wie die Gelbwesten, autonom und ausserhalb von Parteien und Gewerkschaften. Die Gelbwesten wurden dann weitgehend von ganz rechts übernommen. Droht das dieser Bewegung auch? Ist es Ausdruck einer diesbezüglichen Befürchtung, wenn immer wieder italienischsprachige Sprechchöre entstehen: «Siamo tutti antifascisti»?

Auch programmatisch sind die doch offensichtlich engagementwilligen jungen Menschen allein gelassen. Weit weg, im Gewerkschaftsblock,  schreit einer unverständliches Zeug, hier, bei der grossen Menge der Jungen, gibt es auf zumeist selbstgebastelten Transparenten lustig-spielerische Parolen wie «Télétravail pour les CRS» – «Homeoffice für Polizisten» –, gelegentlich eine Erinnerung an Gaza und, auf den wenigen Flugblättern, traditionell Klassenkämpferisches von zu rekonstruierenden Arbeiterparteien.

Die Zucman-Steuer

Was aber ist in der aktuellen französischen Krise tu tun? Diese Auseinandersetzung findet anderweitig statt, zum Beispiel im Radio «France Culture». Dort erklärt der Ökonom Thomas Piketty, wie unsozial die ganze Macronie ist: Einerseits will sie die Renten kürzen und Rentner mit 20’000 Euro Rente im Jahr gelten ihr schon als «retraités aisés», also als wohlhabend, obwohl man von diesem Einkommen in Paris nicht leben kann. Andererseits halten die Macronisten eine Steuer auf die Zinsen von Vermögen über 100 Millionen Euro als unzumutbare Enteignung.

Letzteres bezieht sich auf eine internationale Initiative von Gabriel Zucman. Er ist der junge Shooting-Star der Ökonomie-Szene, Professor an der Pariser Ecole normale superieur und Direktor des EU-Steuerbeobachtungsstelle. Er erklärt, ebenfalls auf Radio France Culture, wie es die Ultrareichen schaffen, ihr Vermögen gegen die Steuern abzuschirmen: indem sie dafür sorgen, dass es ihnen nicht persönlich gehört, sondern Gesellschaften, die in ihrem Besitz sind. So können sie darüber verfügen, ohne Steuern bezahlen zu müssen. Zucmans Vorschlag, bekannt unter dem Namen «Taxe Zucman» besteht darin, bei Vermögen über 100 Millionen Euro wenigstens die Einkünfte mit zwei Prozent zu versteuern. Das brächte Frankreich Einkünfte von etwa 20 Milliarden Euro im Jahr.

Die mangelnde Teilhabe am politischen Leben des Landes und die wachsende soziale Ungleichheit sind die beiden starken Triebfedern der Mobilisierung, die am 18. September einen neuen Höhepunkt erreichen soll. Vielleicht erleben wir gerade die Anfänge vom Ende der fünften Republik.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Eine Meinung zu

  • am 12.09.2025 um 16:20 Uhr
    Permalink

    Nun ja, der Kapitalismus schützt Eigentum, aber nicht die Menschen. Vor allem nicht die bedürftigen.
    Wer Geld hat, hat die Macht. Und die Mächtigen werden einen Teufel tun, Geld und Macht zu teilen. Piketty hat sicher recht, ändern wird er nichts. Uns bleibt nur die resignative Erkenntnis: Es bleibt alles so, wie es ist (§ 1 der Mecklenburgischen Verfassung). §2: Und wenn sich etwas ändert, tritt §1 in Kraft. Der Kapitalismus ist wesentlich vitaler als der Sozialismus, weil er auf der Macht des Geldes und nicht der Ideen beruht. Der Mensch ist und bleibt ein unsoziales Wesen, wenn es um seine Existenz geht. Er leitet nicht, er leidet. Und die Leiter sind oft nicht die edelsten Charaktere. Sie haben ihre ganz eigene «regelbasierte demokratische Ordnung». Ihr Mantra ist das Wachstum – ihres eigenen Vermögens auf Kosten der Allgemeinheit. Wobei die Franzosen i. d. R. noch die revolutionärsten Menschen in Europa sind. Aber: siehe oben.

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