Celac2023

Am jüngsten EU-CELAC-Gipfel in Brüssel versammelten sich Staats- und Regierungschefs von 27 EU- und 33 lateinamerikanischen und karibischen Länder. © European Union, 2023

Europa und Lateinamerika driften auseinander

Romeo Rey /  Beim EU-Lateinamerika-Gipfel haben beide Seiten mehr Kooperation vereinbart. Doch das Verhältnis zur Alten Welt ist getrübt.

Das jüngste Treffen zwischen hohen Vertretern der EU und der 33 CELAC-Staaten (Comunidad de Estados Latinoamericanos y Caribeños) in Brüssel hat in den Medien breiten Widerhall ausgelöst. Aus dem vielfältigen Angebot greifen wir sieben informative Presseberichte heraus, die zum besseren Verständnis für die zunehmende Entfremdung zwischen der Alten und der Neuen Welt beitragen können.

Romeo Rey
Romeo Rey, früher Lateinamerika-Korrespondent von «Tages-Anzeiger» und «Frankfurter Rundschau», fasst die jüngste Entwicklung zusammen.

Erste Eindrücke von der zweitägigen Konferenz vermittelt ein Beitrag von «amerika21», der mit markanten Statements von Teilnehmenden gespickt ist. So stellte etwa die Kommissionsvorsitzende von der Leyen den «Neubeginn einer alten Freundschaft» und eine «strategische Partnerschaft» zwischen Europa und Lateinamerika in Aussicht. Sie konnte es aber nicht unterlassen, die Südländer – erfolglos – zu einer gemeinsamen Verurteilung Russlands im Ukraine-Krieg zu drängen. Vor allem Brasiliens Luiz Inácio da Silva und die Präsidentin von Honduras, Xiomara Castro, sprachen sich mit Nachdruck für einen Waffenstillstand und Friedensverhandlungen aus.

Wie weit die beiden Erdteile in manchen Fragen auseinander liegen, bringt ein unmittelbar nach dem Abschluss des Treffens publizierter kurzer Kommentar der linksgerichteten Tageszeitung «junge Welt» auf den Punkt. Ausführlicher befasst sich mit den Differenzen der beiden Welten eine Analyse im sozialdemokratisch orientierten «IPG-Journal». Hier moniert der argentinische Autor, die Europäer hätten es vor allem auf möglichst freien Zugang zu den Ressourcen Lateinamerikas abgesehen. Doch als massgebliche Verursacher der Klimakrise sollten sie nun auch grosszügige Unterstützung gewähren, und in Sachen partnerschaftlicher Umweltpolitik zusammen mit den Latinos mehr leisten als diplomatische Lippenbekenntnisse.

In «amerika21» erörtert ein chilenischer Journalist im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine die Frage, wie sich die von Washington über den ganzen Globus verstreuten wirtschaftlichen und finanziellen Sanktionen auf den Subkontinent auswirken. Er stützt sich dabei auf eine Studie der Cepal, der in Santiago de Chile ansässigen Wirtschaftskommission der UNO für Lateinamerika, um die gegenwärtigen Handelsoptionen der Region auszuloten. Einige saftige Seitenhiebe gegen die USA «und ihre Wiederkäuer in der EU» bleiben in seinem Artikel nicht aus.

Mit derselben Problematik befasst sich ein AP-Artikel, der in der «Los Angeles Times» publiziert wurde. Dort wird nachgewiesen, dass sowohl Corona als auch der Ukraine-Krieg im südlichen Teil Amerikas den Handel deutlich gebremst haben, was vor allem am rückläufigen Export zu sehen ist.

Eine kleine historische Abrechnung wird den europäischen Gastgebern des Celac-Gipfels in der mexikanischen Tageszeitung «Jornada» präsentiert (in deutscher Übersetzung auf «amerika21») . Die Schlusserklärung zu diesem Anlass kam nur unter erheblichen Mühen zustande. Warum, das erklärten einige Prominente von hüben und drüben. Am Gipfeltreffen waren «die Geister der Kolonialgeschichte allgegenwärtig», schreibt die Autorin. Und sie macht auf einen stummen Zeugen aufmerksam: Nur wenige hundert Meter vom Versammlungsort in Brüssel steht die Statue zum Gedenken an den ehemaligen kongolesischen Premierminister Patrice Lumumba, der 1961 auf Befehl der USA brutal ermordet wurde.

Das Nachwort zum CELAC-EU-Treffen in Brüssel liefert für einmal der «Tagesanzeiger». Dessen Korrespondent deutet an, wie sich die meisten Länder Lateinamerikas der Vorherrschaft des US-Dollars allmählich entziehen und welche Wege sie bei dieser diplomatischen und handelspolitischen Öffnung des Subkontinents in Richtung China, Russland und andere beschreiten.

Zu den BRICS-Staaten und zur «Entdollarisierung» äussert sich in «The Market» ein Ökonom aus London, der vor solchen «Irrrungen und Wirrungen» warnen will. Wir fassen seine Überlegungen als Gelegenheit auf, seine Argumente mit jenen zu vergleichen, die im IPG-Journal aufgeführt wurden. Es kann durchaus sein, dass sich das Begräbnis des US-Dollars als weltweite Leitwährung um Jahre, womöglich Jahrzehnte hinauszögern lässt. Aber das Entstehen einer multipolaren, in mehrere ähnlich schwere Blöcke aufgeteilten Welt lässt sich wohl kaum vermeiden.

Nach diesem Blick auf Lateinamerika und seinem Verhältnis zur Alten Welt gibt es Updates zu einzelnen Ländern Mittel- und Südamerikas. Aus der Karibik melden sich gleich mehrere Klein- und Zwergstaaten zu Wort. Sie alle haben ähnliche Sorgen wegen der Ausbreitung von politisch und sozial bedingter Gewalttätigkeit, berichtet «amerika21». Ihre Klage richtet sich in frappanter Übereinstimmung gegen die US-Waffenlobby, die ihre Geschäftsinteressen über alle anderen Kriterien hinweg verfolge und die karibische Inselwelt mit ihrem tödlichen Arsenal immer mehr überschwemme.

Zur Lage in Nicaragua gibt es gleich zwei Analysen, beide aus der Online-Zeitung «Confidencial». Sie ist im benachbarten Costa Rica beheimatet, denn in Nicaragua ist jegliche Kritik am Regime der Familie Ortega-Murillo lebensgefährlich geworden. Im ersten Text äussert sich ein Altsandinist, der in den achtziger Jahren eine mittlere Charge in der sandinistischen Regierung innehatte, über die gegenwärtigen, unhaltbar repressiven Zustände in seinem Land. Über die wirtschaftliche Entwicklung in Nicaragua informiert ein Landsmann mit einem ganz anderen Werdegang. Der Autor hat an bekannten US-Hochschulen studiert.

Abschliessend drei Beiträge aus Südamerika: Argentinien hat sich auf ein «Arrangement» mit dem Internationalen Währungsfonds IWF geeinigt, womit eine überfällige Rückzahlung von Schulden in Höhe von 7,5 Milliarden Dollar bis Anfang November, das heisst bis nach den allgemeinen Wahlen, aufgeschoben werden konnte. Über die zähen Verhandlungen berichtet «amerika21». Gratis ist so ein Entgegenkommen – man weiss es in Buenos Aires aus jahrzehntelanger Erfahrung – natürlich nicht. Man wird noch einmal Steuern erhöhen und Budgetposten streichen müssen. Dem Kandidaten der Regierungspartei, Sergio Massa, bleibt nur die vage Hoffnung, dass er im Kampf um das Präsidentenamt eine Niederlage dank Entgegenkommen des IWF doch noch abwenden kann – trotz der galoppierenden Inflation von 120 Prozent.

In den Vorwahlen vom 13. August, bei denen jede Partei ihren aussichtsreichsten Kandidaten oder Kandidatin für die Präsidentschaft der Republik erkürt, hat ein «dritter Mann» die höchste Stimmenzahl erreicht. Der «libertäre» Ökonom Javier Milei vermochte rund 30 Prozent der landesweit abgegebenen Stimmen auf sich zu vereinigen. Er könnte bei den allgemeinen Wahlen vom 22. Oktober – was seit vielen Jahrzehnten niemandem gelungen ist – die Peronisten wie auch die Antiperonisten an der Macht in Argentinien ablösen.

Gespart werden muss auch im benachbarten Uruguay, dessen konservative Regierung im Parlament eine schmerzhafte Rentenreform durchboxen konnte. Die Linke hatte sich immer dagegen gesperrt, musste aber schliesslich kapitulieren. Die Sachlage erinnert stark an die Verhältnisse in Frankreich – nur: Das dreieinhalb Millionen-Volk am östlichen Gestade des Rio de la Plata lässt sich deswegen nicht zu einer demokratischen Zerreissprobe bewegen.

Ein weiteres Gipfeltreffen fand kürzlich in Brasilien statt. In Belém, einer Millionenstadt am Unterlauf des Amazonas, berieten sich die Staatsoberhäupter aus den acht Anrainerstaaten des weltgrössten Regenwalds. Die Amazonas-Staaten sollten nach den Vorstellungen von Gastgeber Lula da Silva eine gemeinsame Strategie zur Rettung der «Lunge des Planeten» vereinbaren. Doch daraus wurde nichts. Neben wenigen bescheidenen Ansätzen gab es nur Lippenbekenntnisse, berichtete die ARD-Tagesschau. Weit herum bestimmen immer noch nationale und private Interessen das heisse Thema. Immerhin weist die Regierung der brasilianischen Arbeiterpartei laut einem Bericht in der NZZ nach, dass die zerstörerische Praxis der Brandrodungen drastisch reduziert werden kann – sofern der politische Wille dazu vorhanden ist.

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Romeo Rey, Die Geschichte Lateinamerikas vom 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart, 284 Seiten, 3. Auflage, C.H.Beck 2015, CHF 22.30

Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Der Autor war 33 Jahre lang Korrespondent in Südamerika, unter anderem für den «Tages-Anzeiger».
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

Zum Infosperber-Dossier:

Lateinamerika Karte

Politik in Süd- und Mittelamerika: Was in vielen Medien untergeht

Der frühere Lateinamerika-Korrespondent Romeo Rey fasst die Entwicklung regelmässig zusammen und verlinkt zu Quellen. Zudem Beiträge von anderen Autorinnen und Autoren.

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