Das grosse Dilemma der deutschen Innenpolitik
AfD-Chefin Alice Weidel machte Ende November im Deutschen Bundestag Avancen Richtung CDU/CSU. Sie bot Bundeskanzler und CDU-Chef Friedrich Merz an, gemeinsam eine «Mitte-rechts-Politik» zu machen, also eine «bürgerliche Politik». Die Parteiführung der AfD bekundet aus taktischen Gründen seit Jahren ein grosses Interesse daran, sich das Etikett einer konservativen, bürgerlichen Kraft umzuhängen. Das wird allerdings immer schwieriger, seit der Verfassungsschutz die AfD im Mai dieses Jahres als «gesichert rechtsextremistische Partei» einstufte. Wegen einer Klage der AfD ist diese Einschätzung allerdings formal auf Eis gelegt.
Keine Deradikalisierung der AfD-Jugend
Seit Kurzem nimmt die Debatte über ein AfD-Verbotsverfahren allerdings wieder Fahrt auf. Zusätzliche Nahrung dazu bietet die Neugründung der AfD-Jugendorganisation. Die «Junge Alternative» wurde aufgelöst, weil sie vom deutschen Verfassungsschutz bereits 2023 als «gesichert rechtsextremistisch» eingestuft worden war. Ende November wurde die «Generation Deutschland» aus der Taufe gehoben und enger an die Mutterpartei gebunden. Zweck der Übung war eine Deradikalisierung der AfD-Jugendorganisation, um sie, und damit die ganze Partei, für die bürgerlichen Parteien anschlussfähig zu machen. Doch das ist offensichtlich schiefgegangen.
Keine Wandlung
Der Präsident des thüringischen Verfassungsschutzes, Stephan Kramer, sieht bei der neuen AfD-Jugendorganisation keinen nennenswerten Unterschied zur aufgelösten Vorgängerorganisation. An der Gründungsveranstaltung in Giessen von Ende November wurde klar, dass «wohl doch eher von einer Nachfolgeorganisation, diesmal unter dem Schutz des grundgesetzlichen Parteienprivilegs als Jugendorganisation der AfD» ausgegangen werden müsse.
Nach einer «ersten Sichtung der Beiträge, Aussagen und anwesenden Personen unter anderem aus dem rechtsextremistischen Spektrum» bei der Neugründung der AfD-Jugend «vermag ich weder eine Mässigung noch eine Distanzierung oder gar Wandlung der neuen AfD-Jugendorganisation von der durch den Verfassungsschutz bereits als rechtsextremistische Bestrebung eingestuften Jungen Alternative zu erkennen», sagte Kramer dem «Bayerischen Rundfunk». Auch die Wahl des Führungspersonals und die von ihm ausgesendeten zentralen Botschaften, «insbesondere mit Blick auf Sympathien zur rechtsextremistischen Identitären Bewegung, lassen bisher keinen Zweifel an einer Fortsetzung der Radikalisierung aufkommen».
Alice Weidel greift zum Zweihänder
Diese Einschätzungen trieben Alice Weidel zur Weissglut. Die AfD-Chefin griff mit ihrem verbalen Zweihänder Kramer gemäss «Handelsblatt» frontal und vor allem persönlich an: «Schauen Sie sich doch mal diesen Verfassungsschutzpräsidenten in Thüringen an, diesen Kramer da mit diesem Bart und so, wie der aussieht. Was das für Leute sind.» Was das für Leute sind? Stephan Kramer war von 2004 bis 2014 Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland und Leiter des Berliner Büros des European Jewish Congress. So ganz nebenbei hat Weidel also auch noch ein leicht durchschaubares antisemitisches Stereotyp bedient.
Hemmungen vor einem Verbotsverfahren
Die Tonalität ist also gesetzt. Die Debatte um ein Verbot der AfD wird heftig werden. Die politischen Risiken sind hoch und die juristischen Fallstricke zahlreich. Die Grundlage für ein Verbot ist der Artikel 21 des deutschen Grundgesetzes, der da lautet: «Parteien, die nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, sind verfassungswidrig.» Anstossen kann ein Verbotsverfahren die Bundesregierung, der Bundestag oder der Bundesrat (die Länderkammer). Doch der Wille, die Sache anzupacken, ist derzeit kaum vorhanden. «Die Hemmungen, gegen die AfD ein Verbotsverfahren einzuleiten, scheinen nicht nur in der Politik, sondern gerade auch in der Wissenschaft [das heisst unter Rechtsgelehrten – Red.] gross zu sein», konstatiert Niccolò Raselli in einem jüngst publizierten Artikel auf der Plattform «Geschichte der Gegenwart». Raselli (SP) war von 1995 bis 2012 Ordentlicher Richter am Schweizerischen Bundesgericht in Lausanne.
Neonazi-Partei NPD nicht verboten
Dabei hat die Bundesrepublik Deutschland Erfahrungen mit Parteiverboten. 1952 untersagte das Bundesverfassungsgericht die Sozialistische Reichspartei, die sich selbst in der Tradition der NSDAP sah. Vier Jahre später verbot das Gericht auch die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD). Interessant sind jedoch weniger diese beiden Fälle als jener der neonazistischen Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD), mit der sich die politischen und juristischen Instanzen während Jahren beschäftigten. Das Verfahren endete 2017. Damals beurteilte das Bundesverfassungsgericht die NPD zwar inhaltlich – hauptsächlich wegen ihres rassisch definierten Volksbegriffs – als verfassungsfeindlich, sah jedoch angesichts der Bedeutungslosigkeit der Partei im politischen Geschehen von einem Verbot ab.
Diesen Umstand und die Tatsache, dass die AfD als stärkste Oppositionspartei im Bundestag seit längerer Zeit bei Umfragen an der Spitze des Parteienrankings steht, kommentiert Niccolò Raselli sarkastisch: «Sollte eines Tages die Machtübernahme durch extremistische Kräfte erfolgen und damit der ‹worst case› eintreten, würde man rückblickend wohl sagen: Wir hätten zwar einen Verbots-Paragrafen gehabt, aber die eine rechtsextremistische Partei war das eine Mal zu klein, um sie zu verbieten (NPD), und das andere Mal bereits zu gross (AfD). Wir konnten doch die Wählerinnen und Wähler nicht düpieren, zumal das Fass noch knapp nicht überlief. Als dies dann geschah, war es zu spät.»
AfD propagiert völkischen Nationalismus
Für den früheren Schweizer Bundesrichter ist klar, dass «die AfD darauf aus ist, die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen». Das ist genau die Formulierung im deutschen Grundgesetz. Die Frage, womit zu rechnen wäre, wenn die AfD an die Macht käme, lasse sich recht klar beantworten. Allerdings nicht aufgrund weichgespülter Satzungen der Partei, sondern programmatischer Äusserungen führender Repräsentanten der Partei. «Der demokratische Rechtsstaat des Grundgesetzes ist normativ geprägt im Sinn von Menschenwürde, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit und deshalb gerade nicht neutral gegenüber irgendwelchen Einstellungen. Allein schon die von der AfD getroffene Unterscheidung zwischen Staatsvolk und Kulturvolk propagiert einen völkischen Nationalismus und widerspricht namentlich der von der Verfassung allen Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern garantierten Rechtsgleichheit. Sie verstösst gegen die Menschenwürde und damit gegen Art. 1 des Grundgesetzes, gegen Rechtsstaat und Demokratie.»
Erfolgschance ist nicht entscheidend
Für Raselli darf die Frage nicht lauten, ob ein Verbotsverfahren erfolgreich sein könnte oder nicht. Zu fragen sei vielmehr, ob es – gestützt auf die entsprechende Norm des Grundgesetzes – triftige Gründe gibt, ein Verbotsverfahren einzuleiten. Der Autor macht auch auf das Spannungsfeld zwischen Meinungsäusserungsfreiheit und einem Parteiverbot aufmerksam. Es könnte naheliegen, im Abwägungsprozess ein Parteiverbot «restriktiv – im Sinn einer ‹ultima ratio› – zu handhaben. Dabei geriete man in einen Konflikt mit dem Wortlaut des Grundgesetzes, der es mit gutem Grund genügen lässt, dass eine Partei darauf aus ist, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen.»
Was bedeutet der Verzicht auf ein Verbotsverfahren?
Wie bereits erwähnt, sind die Nebenwirkungen eines Verbotsverfahrens möglicherweise erheblich. Der Prozess dürfte sich über Jahre erstrecken – und die AfD könnte während dieser Zeit politisch profitieren, indem sie sich als Opfer in Szene setzt. Niccolò Raselli findet, man sollte «nicht nur die Frage stellen, was die Einleitung eines Verbotsverfahrens, sondern auch, was der Verzicht darauf für Folgen haben kann, zumal Letzterer der AfD obendrein förderlich sein dürfte, kann sie sich doch – gewissermassen im Windschatten der ihrer präventiven Wirkung weitgehend beraubten Verbotsklausel – auf der sicheren Seite wähnen».
Verbotsparagraf als Scheinversicherung
Mit seiner Argumentation positioniert sich Niccolò Raselli zwar grundsätzlich als Befürworter eines Verbotsverfahrens, bringt aber zum Schluss seines Beitrags noch ein radikal anderes Argument ins Spiel, nämlich die ersatzlose Streichung der Verbotsklausel: «Deren Aufhebung könnte das demokratische Spektrum womöglich sogar stärken, wäre doch den demokratischen Parteien – ohne die Scheinversicherung der Verbotsklausel – gegenwärtig, dass es auf ihre politischen Anstrengungen – und nur auf diese – ankommt.»
Die versteckte Botschaft hinter dieser Aussage: Man sollte vor allem einmal etwas Mutiges tun, statt wie das sprichwörtliche Kaninchen vor der Schlange in Schreckensstarre zu verharren.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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