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Die Welt kommt durch den Bildschirm. Was machen Smartphones mit Kindern? © cc-by Marco Verch

Handy-Verbote: Die Wissenschaft kann mit Zahlen wenig helfen

Pascal Sigg /  Studien sagen weniger zu Smartphone-Verboten als gewünscht. Der US-Sozialpsychologe Jonathan Haidt will auch die Moral retten.

Smartphone-Verbote an Schulen sind mediales Dauerthema. Kein Wunder ist wissenschaftliche Expertise dazu gefragt. Besonders zur Frage: Wie schädlich sind die Geräte? «Soziale Medien führen nicht zu mehr psychischen Problemen bei Jugendlichen». Dies titelten die Tamedia-Zeitungen prominent im vergangenen Oktober. Bund, Tages-Anzeiger, Sonntags-Zeitung, Basler Zeitung alle publizierten den Artikel.

Er handelte von der bisher einzigen Meta-Analyse über die psychischen Risiken der Social-Media-Nutzung bei Jugendlichen. Im Artikel trat der Medienpsychologe Daniel Süss von der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) als wissenschaftlicher Experte auf. Er fand, dass die Studie den Stand der Wissenschaft sehr gut abbilde und qualitativ sehr hochstehend sei. «Alle, die jetzt nach Regulierungen rufen und den Medienkonsum von Jugendlichen radikal einschränken wollen, sollten die Meta-Analyse zur Kenntnis nehmen.» Süss beschreibt für die Swisscom regelmässig die Mediennutzung der Schweizer Jugend.

In seiner positiven Darstellung verschwieg Süss, dass die Studie Monate vor Erscheinen des Tamedia-Artikels heftig kritisiert wurde. Der US-Psychologe und Buchautor Jonathan Haidt und weitere Forscher waren der Ansicht, dass die Studie grobe Fehler und Unzulänglichkeiten aufwies, die nur schwierig zu erklären seien. Und dass die Studie nach der Korrektur aller Fehler der Hauptaussage widersprechen würde.

Streit über Berechnung der Studienresultate – nicht über richtige Methoden

Darauf wiederum reagierte der Studienautor. Es entbrannte ein Streit um richtige Methoden und saubere wissenschaftliche Arbeit. Er fand hauptsächlich online statt, und weitere Forschende mischten sich ein. Die Debatte verlief, obschon hitzig, durchaus sachorientiert. Sie vermochte zwar nicht zu klären, ob Social Media Jugendliche krank machen. Aber sie machte deutlich, wie limitiert zahlenfixierte Sozialwissenschaften in der Beantwortung dieser Frage sind. Die Forscher stritten nicht hauptsächlich darüber, wie die Frage beantwortet werden könnte. Sondern wie die Ergebnisse unterschiedlicher Studien zu bewerten, oder besser, zu berechnen, sind.

Und so wies die Debatte wiederum darauf hin, dass die entsprechenden Studien die entscheidende Frage gar nicht behandelt hatten. Bestenfalls, so heisst es in einem langen und differenzierten Artikel über den Streit, können sie eine andere Frage beantworten: Sieht man Veränderungen im mentalen Wohlbefinden, wenn man den Social-Media-Konsum für ein paar Wochen reduziert?

Vor diesem Hintergrund ist wichtig zu verstehen, dass Haidts Position immer wieder verkürzt dargestellt wird, so auch im jüngsten Tamedia-Übersichtsartikel zum Thema. Haidt behauptet keinen direkten Kausalzusammenhang. Aber er stellt eine Beziehung her zwischen Daten zur Nutzung von Smartphones oder Social Media und der psychischen Gesundheit Jugendlicher in den USA. Dass letztere neben der Mediennutzung auch durch andere Faktoren beeinflusst wird, liegt auf der Hand. Und dass grosse kulturelle Unterschiede zwischen den USA und der Schweiz bestehen, ebenso. So nehmen sich in Übersee vergleichsweise viele Jugendliche mit Schusswaffen das Leben.

Haidts vorgeschlagene Massnahmen wie die Verbannung von Smartphones aus Schulen sind deshalb in erster Linie vorsorglich, wie er selber wiederholt erklärt hat (Infosperber berichtete). Ähnlich argumentierten auch Forschende aus England vor wenigen Monaten im Fachmagazin «Lancet». In einer Studie, die auch der Tamedia-Artikel nennt, konnten sie nicht belegen, dass Smartphone-Verbote an Schulen wirkten. Gleichwohl schrieben sie: «Die Nutzung von Smartphones und Social Media zu verringern ist wichtig».

Moralbesorgnis statt Moralpanik

Deshalb ist durchaus verständlich, dass Philippe Wampfler, der auf Gymnasialstufe gut erzogene Jugendliche mit ausreichender Selbstdisziplin unterrichtet, die Frage im Tamedia-Artikel und einem eigenen Blogpost in einen moralischen Kontext stellt. Handyverbote an Schulen sind für ihn Resultate einer «Moralpanik».

Auch Jonathan Haidt spricht gern über Moral, und er hat eine besondere Theorie. Tatsächlich sorgt er sich darüber, dass die Technologie moralische Grundgerüste verdrängt. In einem ausführlichen Interview mit Ezra Klein von der New York Times sagte er: Die moralische Ordnung einer Gesellschaft würden Kinder besonders in der späteren Kindheit lernen. Dies geschehe zum Beispiel übers Eintauchen in Geschichten, was die fragmentierte Mediennutzung viel weniger ermögliche.

Wenn man Kinder mit einer moralischen Ordnung erziehe, hätten sie einen Sinn für ihren Platz im Leben und einen Sinn für Bedeutung. «Wenn man diese nun entzieht und sagt, es gehe nur darum, zu tun, was sich gut anfühle, oder gewisse Rechte zu haben oder einen gewissen Grad an materiellem Wohlstand, stellt man Normlosigkeit her», so Haidt.

«Kinder brauchen einen gemeinsamen moralischen Rahmen. Moral funktioniert wie Sprache. Man kann nicht seine eigene Moral haben. Sie funktioniert nur als geteiltes System und geteilte Ordnung. Sobald die Kinder sich zu Social Media hinbewegen, handelt es sich dabei nur um eine Million kleiner Fragmente von Unsinn. Da gibt es keine moralische Ordnung.» Treffender als Moralpanik wäre aus Sicht Haidts deshalb eine Art Moralbesorgnis.

Die Welt wird dünner

Dass digital vermittelte Inhalte unsere Wahrnehmung der Welt fundamental verändern, stellte unlängst der norwegische Schriftsteller Karl-Ove Knausgård in einem langen Essay fest. «Es gibt keinen Ort, kein Ding, keine Person oder Phänomen, das ich nicht als Bild oder Information bekommen kann. Man könnte denken, dass dies der Welt Substanz verleiht, weil man mehr über sie weiss, aber das Gegenteil ist richtig: es entleert die Welt; sie wird dünner. Denn das Wissen über die Welt und die Erfahrung der Welt sind zwei grundsätzlich verschiedene Sachen. Während das Wissen nicht an einen bestimmten Ort und eine bestimmte Zeit gebunden ist und übermittelt werden kann, ist die Erfahrung immer zeit- und ortsabhängig und kann nicht wiederholt werden. Genau diese zwei Dimensionen – das Unwiederholbare und das Unvorhersagbare – werden durch die Technologie abgeschafft.»

Dies führe, so Knausgård, zu einem Gefühl des Verlusts der Welt. «Dies kann paradox erscheinen, besonders angesichts der brutalen, schrecklichen Kriege, die gerade stattfinden. Mit all dem Tod und dem Leiden erscheinen sie als eine Überfrachtung der Realität, aber sie kommen zu mir als Bilder; sie sind zweidimensional und manipulierbar, und sie kommen mitten in einer Flut anderer Bilder. In mir drin existiert ein Gefühl, dass ich kontrollieren kann, was ich sehe, und dass ich eine Art übergreifende Perspektive darauf habe.»

«All die Bilder, die ich gesehen habe von Orten, an denen ich noch nie war oder von Menschen, die ich noch nie traf», fährt Knausgård fort, «kreieren eine Art Pseudogedächtnis von einer Pseudowelt, an der ich nicht teilnehme. Die Bilder erscheinen bereits vollständig; es gibt keine Kommunikation zwischen ihnen und mir, keinen gegenseitigen Austausch. So sehr wir also auch sagen möchten, dass sich uns die Welt eröffnet, weil wir jeden Teil von ihr sehen können, so sehr können wir auch sagen, dass sie sich uns verschliesst – in all ihrer Offenheit.»

Wenn man Knausgårds Argumentation folgt, erscheint es besonders paradox, auf einen berechneten Nachweis der beobachteten Auswirkungen von Smartphones oder Social Media zu pochen. Egal ob als Kinder, Jugendliche oder Erwachsene wird eine viel existenziellere Frage entscheidend: Welchen Zugang zur Welt und zu uns selber wollen wir fördern und stärken? Dies ist keine Frage, welche die Wissenschaft eindeutig beantworten kann.

Dass immer mehr Schulen auf ein Verbot von Smartphones setzen, ist deshalb nachvollziehbar. Und dass das Parlament ein Verbot von Social Media für Kinder unter 16 Jahren prüfen will, ebenso. Das verantwortliche Bundesamt für Sozialversicherungen wird gemäss eigenen Angaben für die Erarbeitung des Berichts «auf jeden Fall eine breite Begleitgruppe einsetzen mit den Bundesämtern, die Schnittstellen zum Thema haben, sowie Fachpersonen aus der Forschung und Vertretungen von Organisationen der Zivilgesellschaft.»

Die Gefahr, dass sich eine derart zusammengesetzte Gruppe in Berechnungen verliert, dürfte klein sein.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Pascal Sigg

Pascal Sigg ist Redaktor beim Infosperber und freier Reporter.

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