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Wie schädlich sind Smartphones für Kinder? Wissenschaftliche Debatten darüber laufen derzeit heiss. © cc-by Anthony Kelly

Handy-Verbote: Die Wissenschaft kann mit Zahlen wenig helfen

Pascal Sigg /  Studien sagen weniger zu Smartphone-Verboten als gewünscht. Der US-Sozialpsychologe Jonathan Haidt will auch die Moral retten.

Smartphone-Verbote an Schulen sind mediales Dauerthema. Kein Wunder ist wissenschaftliche Expertise dazu gefragt. Besonders zur Frage: Wie schädlich sind die Geräte? «Soziale Medien führen nicht zu mehr psychischen Problemen bei Jugendlichen». Dies titelten die Tamedia-Zeitungen prominent im vergangenen Oktober. Bund, Tages-Anzeiger, Sonntags-Zeitung, Basler Zeitung alle publizierten den Artikel.

Er handelte von der bisher einzigen Meta-Analyse über die psychischen Risiken der Social-Media-Nutzung bei Jugendlichen. Im Artikel trat der Medienpsychologe Daniel Süss von der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) als wissenschaftlicher Experte auf. Er fand, dass die Studie den Stand der Wissenschaft sehr gut abbilde und qualitativ sehr hochstehend sei. «Alle, die jetzt nach Regulierungen rufen und den Medienkonsum von Jugendlichen radikal einschränken wollen, sollten die Meta-Analyse zur Kenntnis nehmen.» Süss beschreibt für die Swisscom regelmässig die Mediennutzung der Schweizer Jugend.

In seiner positiven Darstellung verschwieg Süss, dass die Studie Monate vor Erscheinen des Tamedia-Artikels heftig kritisiert wurde. Der US-Psychologe und Buchautor Jonathan Haidt und weitere Forscher waren der Ansicht, dass die Studie grobe Fehler und Unzulänglichkeiten aufwies, die nur schwierig zu erklären seien. Und dass die Studie nach der Korrektur aller Fehler der Hauptaussage widersprechen würde.

Streit über Berechnung der Studienresultate – nicht über richtige Methoden

Darauf wiederum reagierte der Studienautor. Es entbrannte ein Streit um richtige Methoden und saubere wissenschaftliche Arbeit. Er fand hauptsächlich online statt, und weitere Forschende mischten sich ein. Die Debatte verlief, obschon hitzig, durchaus sachorientiert. Sie vermochte zwar nicht zu klären, ob Social Media Jugendliche krank machen. Aber sie machte deutlich, wie limitiert zahlenfixierte Sozialwissenschaften in der Beantwortung dieser Frage sind. Die Forscher stritten nicht hauptsächlich darüber, wie die Frage beantwortet werden könnte. Sondern wie die Ergebnisse unterschiedlicher Studien zu bewerten, oder besser, zu berechnen, sind.

Und so wies die Debatte wiederum darauf hin, dass die entsprechenden Studien die entscheidende Frage gar nicht behandelt hatten. Bestenfalls, so heisst es in einem langen und differenzierten Artikel über den Streit, können sie eine andere Frage beantworten: Sieht man Veränderungen im mentalen Wohlbefinden, wenn man den Social-Media-Konsum für ein paar Wochen reduziert?

Vor diesem Hintergrund ist wichtig zu verstehen, dass Haidts Position immer wieder verkürzt dargestellt wird, so auch im jüngsten Tamedia-Übersichtsartikel zum Thema. Haidt behauptet keinen direkten Kausalzusammenhang. Aber er stellt eine Beziehung her zwischen Daten zur Nutzung von Smartphones oder Social Media und der psychischen Gesundheit Jugendlicher in den USA. Dass letztere neben der Mediennutzung auch durch andere Faktoren beeinflusst wird, liegt auf der Hand. Und dass grosse kulturelle Unterschiede zwischen den USA und der Schweiz bestehen, ebenso. So nehmen sich in Übersee vergleichsweise viele Jugendliche mit Schusswaffen das Leben.

Haidts vorgeschlagene Massnahmen wie die Verbannung von Smartphones aus Schulen sind deshalb in erster Linie vorsorglich, wie er selber wiederholt erklärt hat (Infosperber berichtete). Ähnlich argumentierten auch Forschende aus England vor wenigen Monaten im Fachmagazin «Lancet». In einer Studie, die auch der Tamedia-Artikel nennt, konnten sie nicht belegen, dass Smartphone-Verbote an Schulen wirkten. Gleichwohl schrieben sie: «Die Nutzung von Smartphones und Social Media zu verringern ist wichtig».

Moralbesorgnis statt Moralpanik

Deshalb ist durchaus verständlich, dass Philippe Wampfler, der auf Gymnasialstufe gut erzogene Jugendliche mit ausreichender Selbstdisziplin unterrichtet, die Frage im Tamedia-Artikel und einem eigenen Blogpost in einen moralischen Kontext stellt. Handyverbote an Schulen sind für ihn Resultate einer «Moralpanik».

Auch Jonathan Haidt spricht gern über Moral, und er hat eine besondere Theorie. Tatsächlich sorgt er sich darüber, dass die Technologie moralische Grundgerüste verdrängt. In einem ausführlichen Interview mit Ezra Klein von der New York Times sagte er: Die moralische Ordnung einer Gesellschaft würden Kinder besonders in der späteren Kindheit lernen. Dies geschehe zum Beispiel übers Eintauchen in Geschichten, was die fragmentierte Mediennutzung viel weniger ermögliche.

Wenn man Kinder mit einer moralischen Ordnung erziehe, hätten sie einen Sinn für ihren Platz im Leben und einen Sinn für Bedeutung. «Wenn man diese nun entzieht und sagt, es gehe nur darum, zu tun, was sich gut anfühle, oder gewisse Rechte zu haben oder einen gewissen Grad an materiellem Wohlstand, stellt man Normlosigkeit her», so Haidt.

«Kinder brauchen einen gemeinsamen moralischen Rahmen. Moral funktioniert wie Sprache. Man kann nicht seine eigene Moral haben. Sie funktioniert nur als geteiltes System und geteilte Ordnung. Sobald die Kinder sich zu Social Media hinbewegen, handelt es sich dabei nur um eine Million kleiner Fragmente von Unsinn. Da gibt es keine moralische Ordnung.» Treffender als Moralpanik wäre aus Sicht Haidts deshalb eine Art Moralbesorgnis.

Die Welt wird dünner

Dass digital vermittelte Inhalte unsere Wahrnehmung der Welt fundamental verändern, stellte unlängst der norwegische Schriftsteller Karl-Ove Knausgård in einem langen Essay fest. «Es gibt keinen Ort, kein Ding, keine Person oder Phänomen, das ich nicht als Bild oder Information bekommen kann. Man könnte denken, dass dies der Welt Substanz verleiht, weil man mehr über sie weiss, aber das Gegenteil ist richtig: es entleert die Welt; sie wird dünner. Denn das Wissen über die Welt und die Erfahrung der Welt sind zwei grundsätzlich verschiedene Sachen. Während das Wissen nicht an einen bestimmten Ort und eine bestimmte Zeit gebunden ist und übermittelt werden kann, ist die Erfahrung immer zeit- und ortsabhängig und kann nicht wiederholt werden. Genau diese zwei Dimensionen – das Unwiederholbare und das Unvorhersagbare – werden durch die Technologie abgeschafft.»

Dies führe, so Knausgård, zu einem Gefühl des Verlusts der Welt. «Dies kann paradox erscheinen, besonders angesichts der brutalen, schrecklichen Kriege, die gerade stattfinden. Mit all dem Tod und dem Leiden erscheinen sie als eine Überfrachtung der Realität, aber sie kommen zu mir als Bilder; sie sind zweidimensional und manipulierbar, und sie kommen mitten in einer Flut anderer Bilder. In mir drin existiert ein Gefühl, dass ich kontrollieren kann, was ich sehe, und dass ich eine Art übergreifende Perspektive darauf habe.»

«All die Bilder, die ich gesehen habe von Orten, an denen ich noch nie war oder von Menschen, die ich noch nie traf», fährt Knausgård fort, «kreieren eine Art Pseudogedächtnis von einer Pseudowelt, an der ich nicht teilnehme. Die Bilder erscheinen bereits vollständig; es gibt keine Kommunikation zwischen ihnen und mir, keinen gegenseitigen Austausch. So sehr wir also auch sagen möchten, dass sich uns die Welt eröffnet, weil wir jeden Teil von ihr sehen können, so sehr können wir auch sagen, dass sie sich uns verschliesst – in all ihrer Offenheit.»

Wenn man Knausgårds Argumentation folgt, erscheint es besonders paradox, auf einen berechneten Nachweis der beobachteten Auswirkungen von Smartphones oder Social Media zu pochen. Egal ob als Kinder, Jugendliche oder Erwachsene wird eine viel existenziellere Frage entscheidend: Welchen Zugang zur Welt und zu uns selber wollen wir fördern und stärken? Dies ist keine Frage, welche die Wissenschaft eindeutig beantworten kann.

Dass immer mehr Schulen auf ein Verbot von Smartphones setzen, ist deshalb nachvollziehbar. Und dass das Parlament ein Verbot von Social Media für Kinder unter 16 Jahren prüfen will, ebenso. Das verantwortliche Bundesamt für Sozialversicherungen wird gemäss eigenen Angaben für die Erarbeitung des Berichts «auf jeden Fall eine breite Begleitgruppe einsetzen mit den Bundesämtern, die Schnittstellen zum Thema haben, sowie Fachpersonen aus der Forschung und Vertretungen von Organisationen der Zivilgesellschaft.»

Die Gefahr, dass sich eine derart zusammengesetzte Gruppe in Berechnungen verliert, dürfte klein sein.


Änderung vom 14.8.25: Der Beitrag war ursprünglich mit einem künstlich generierten Bild illustriert. Dieses wurde auf Hinweis eines Lesers ersetzt.


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Pascal Sigg

Pascal Sigg ist Redaktor beim Infosperber und freier Reporter.

5 Meinungen

  • am 13.08.2025 um 15:12 Uhr
    Permalink

    Die Verharmlosungen von Studienergebnissen, die für die Industrie unangenehm sind, haben ein Muster: Anzweifeln! Das beschreibt David Michaels in seiner Analyse im Buch „Doubt is their Product“ sehr treffend.

  • am 13.08.2025 um 15:42 Uhr
    Permalink

    Was sind denn «psychische Probleme»? Muss es denn gleich der Suizid-Gedanke oder die Depression sein? Reicht es nicht, wenn 4-jährige kaum ihre Muttersprache beherrschen? Oder wenn 7-jährige nicht mit einer Schere umgehen können? Wenn 15-jährige nur abgef*** Ghetto-Slang beherrschen und kein zivilisiertes Gespräch?

    Was ist der Einfluss der Geräte und was der Einfluss der konsumierten Inhalte und der Algorithmen? Welche Inhalte sind heute frei verfügbar, die früher nicht verfügbar waren? Wie hat sich die Schule verändert zwischen (Über-)Fördern und (Über-)Fordern? Wie haben sich die Eltern verändert im Erziehungsstil? Welchen Einfluss hat die Institutionalisierung von Erziehung schon ab den ersten Lebensmonaten? Was bewirkt zeitlicher Dichtestress, eines durchgeplanten Lebens ohne freies Spielen? Welchen Einfluss hat räumlicher Dichtestress?

    Einmal mehr brauchen wir Interdisziplinarität, auch mit Soziologie, Neuropsychologie, Ethnologie, etc. – und den «gesunden Menschenverstand».

  • cropped-CHRISTOPH_MG_9177-bearb.png
    am 14.08.2025 um 22:50 Uhr
    Permalink

    «Welchen Zugang zur Welt und zu uns selber wollen wir fördern und stärken?» Pascal Sigg stellt hier eine wichtige Frage, die infosperber auch an sich selber stellen muss. Medien sind die Vermittler zwischen dieser Welt und mir. Wenn ich zu diesem Artikel ein Bild mit drei Kindern an einem Tablet sehe, wünschte ich, dass dieses Bild als Fenster zu dieser Welt funktioniert, mir also etwas zeigt, das «da draussen» tatsächlich existiert. Dem ist leider nicht so, weil diese vermeintliche Fotografie des Autoren Marco Verch gar keine ist, sondern ein KI-Bild, das nicht entsprechend deklariert worden ist. Ich erlaube mir – aufgrund dieser fehlenden Transparenz – den ketzerischen Gedanken, ob der Text von Pascal Sigg vielleicht auch KI-generiert ist. Oder anders ausgedrückt: Werden Artikel mit fotorealistischen Fake-Bildern illustriert, untergräbt das nicht nur das Vertrauen in diese Bilder, sondern in das Medium als Ganzes. Und das fände ich für den infosperber einfach jammerschade.

    • Portrait Pascal.Sigg.X
      am 15.08.2025 um 10:35 Uhr
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      Danke für die Kritik, ich war bei der Bildauswahl zu wenig vorsichtig. Ich habe das Bild ersetzt.

  • am 15.08.2025 um 22:58 Uhr
    Permalink

    Es geht nicht nur um Kinder, sondern um unser aller Gesundheit. Ich sehe täglich im Bus keinen Unterschied in der Smartphonenutzung zwischen den Altersgruppen. Pensionisten daddeln genauso fanatisch wie Schüler. Das Smartphone und social media basieren auf Spieltrieb und Belohnungsprinzip, entworfen in den Hexenküchen der Verhaltenspsychologie. Die funktioniert für groß und klein gleichermaßen.

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