Kommentar

Ausfluss gleich Einfluss

Das Bakom und Tamedia erklären das Gratisblatt «20 Minuten» vollmundig zum «einflussreichsten Einzelmedium der Schweiz» ©

Roger Anderegg /  Das Bakom und Tamedia erklären das Gratisblatt «20 Minuten» vollmundig zum «einflussreichsten Einzelmedium der Schweiz»

Mitunter manipulieren Journalisten ihre Geschichten, wie der dieser Tage enttarnte Claas Relotius, Spitzenkraft beim «Spiegel». Grosse Aufregung – selbstverständlich zu Recht. Dann wieder okkupieren Bundesämter und Verlage ungeniert klar definierte Begriffe – erstaunlicherweise unwidersprochen.

Im hauseigenen Tamedia-Newsletter vom Dezember 2018 nennt Patrick Matthey, Leiter Kommunikation, in seinem Editorial das Gratisblatt «20 Minuten» – inklusive «20 minutes» in der Romandie und «20 minuti» im Tessin – «das einflussreichste Einzelmedium der ganzen Schweiz». Er beruft sich dabei auf die Studie «Medienmonitor Schweiz», herausgegeben vom Bundesamt für Kommunikation (Bakom) zu Bern.

Moment mal! Da scheint doch einiges durcheinander zu geraten. Eine Gratiszeitung soll «das einflussreichste Medium» sein, nur weil sie – unbestritten – das auflagenstärkste und somit am weitesten verbreitete Organ ist? Dann wäre also das Boulevardblatt «Blick» über Jahre und Jahrzehnte hinweg die einflussreichste Zeitung der Schweiz gewesen? Nicht einmal die Werbetrommler des Hauses Ringier waren unverfroren genug, so etwas zu behaupten. «Etwas aufgrund eines einzigen Kriteriums, nämlich einer Zahl, als einflussreich zu bezeichnen – das ist Boulevard im schlechtesten Sinne», sagt ironischerweise ausgerechnet Karl Lüönd, über Jahre Mitglied der Chefredaktion «Blick» und heute freier Publizist, der das Bakom-Prädikat für «blanken Unsinn» hält.

Meinte der Begriff «Einfluss» bislang nicht immer auch Achtung und Beachtung, Ansehen und Geltung – und nicht einfach nur nackte Zahlen? An Einfluss und einflussreich denke ich jedenfalls zuletzt, wenn ich im morgendlichen Zug oder Tram die Leserinnen und Leser beobachte, die den jeweils aktuellen journalistischen Ausfluss von «20 Minuten» in, wenn’s hochkommt, drei bis fünf Minuten durchblättern und, wenn sie sich vom Platz erheben, wie nicht entsorgten Abfall auf ihrem Sitz liegen lassen. Das war dann also die Lektüre des «einflussreichsten Einzelmediums der Schweiz»? Du lieber Himmel! Was immer «20 Minuten» genau sein mag, es ist garantiert das am öftesten mehr oder weniger ungelesen liegen gelassene Medium der Schweiz – selbstredend inklusive Romandie und Tessin.

Einflussreich? Das scheint selbst Marco Boselli, Chefredaktor von «20 Minuten» und zugleich Leiter Publizistik & Prozesse Pendlermedien bei Tamedia, ein gar grosses Wort. Deshalb wohl präzisiert er im gleichen Newsletter acht Seiten weiter hinten: «Die Studienergebnisse bedeuten aber nicht, dass ‹20 Minuten› eine Meinung beeinflusst.» Aha! Beeinflussen – das wäre ja noch, und das ausgerechnet in einer einflussreichen Zeitung! Boselli weiter: «Als einzige neutrale Newsplattform der Schweiz bieten wir konsequent allen Ansichten und Standpunkten ein Podium, damit sich unsere Nutzerinnen und Nutzer daraus eben ihre eigene Meinung bilden können.»

Nochmals aha! Möglichst viel möglichst flüchtig und möglichst ohne eigene Meinung abzubilden gilt neuerdings als «einflussreich». Einflussreich trotz deklariertem Verzicht auf jeglichen Versuch der Beeinflussung – als ob nicht allein schon Auswahl und Präsentation des Vermeldungswürdigen eine klassische Einflussnahme wäre. Das ist ein beherzter Schritt auf die Welt des visionären britischen Schriftstellers George Orwell zu, in der Begriffe systematisch verdreht und in ihr Gegenteil umgedeutet werden. Auch in Orwells berühmtem Roman «1984» wird der «Neusprech» von oben verordnet.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Roger Anderegg war von 1988 bis 2007 Reporter der «SonntagsZeitung» und fühlt sich dem Hause Tamedia noch heute sehr verbunden.

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5 Meinungen

  • Portrait_Pirmin_Meier
    am 29.12.2018 um 11:45 Uhr
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    Gut gesagt, Roger Anderegg: im Radio hörte man dieser Tage auch öfters und unwidersprochen, dass die «WoZ» aufgrund einer Hochschulstudie von Gesinnungsfreunden die objektiv beste Qualitätszeitung der Schweiz sei. Immerhin lese ich sie gelegentlich, wiewohl ihr Autor von konstanter intellektueller Klasse und entsprechendem Leistungsausweis, Stefan Howald, sich ins Altenteil zurückgezogen zu haben scheint.

  • am 29.12.2018 um 16:45 Uhr
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    Jedem sein Spielzeug, auch den einfachen Kindern beim morgendlichen Halbschlaf im Zug! Keine Aufregung wert. Dass die tapferen Inserenten einem solchen Werbeträger glauben, hat überdies viel mit säkularisierter Religion zu tun.

  • Portrait_Rainer_M_Kaelin
    am 30.12.2018 um 11:13 Uhr
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    Vielen Dank an Herrn Anderegg klarzustellen, was die Begriffe Einfluss, eigene Meinung, und Medien, bedeuten. Sein Beitrag lädt zur weitergehenden Betrachtung ein. Denn das eingentlich Beunruhigende ist die alte Tatsache, dass nur leicht Beeinflussbare sich ohne eigentliche Argumente beeinflussen lassen, so wie nur Leute ohne eigene Meinung sich leicht verführen lassen, und dies weil sie durch konstante Berieselung mit Seichtem eingelullt werden, die eigene Kritikfähgikeit nicht zu gebrauchen. Das Beunruhigende an der Behauptung Patrick Mattheys ist nicht, dass er wagt 20 Minuten als «einflussreich No 1» zu bezeichnen, sondern, A. dass dies wahrscheinlich Tatsache ist und B. dass die Medien mehrheitlich selbst daran schuld sind. Denn dadurch, dass diese sich zunehmend der kommerziellen Logik untergeordnet haben, haben sie ihren eigentlichen Auftrag der unabhängigen Berichterstattung vergessen und sind unglaubwürdig geworden. Das Resultat ist das Mischmasch von Info/Desinfo/Marketing content geliefert von Experten,Pseudoexperten,Promotoren von Konsumgut/politischer Info/ oder Demagogie, die primär oder sogar ausschliesslich dem finanziellen Gewinn der die Konsumgesellschaft pilotierenden Wirtschaft dient. Prof. Imhof hat vor Jahren auf die abnehmende Qualität der Schweizer Medien hingewiesen…. und ist, vorallen von den Zeitungsleuten selbst dafür kritisiert worden, vermutlich eben weil er Recht hatte. Der Erfolg und der «Einfluss» von 20 Minuten ist der Beweis dafür.

  • am 30.12.2018 um 19:34 Uhr
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    Die Antwort ist doch relativ einfach, man muss nur nicht zu weit schauen, einfach hinterfragen, welchen(!) Einfluss TA-Media wohl meinen könnte. Dass es nicht der Einfluss ist, den Roger Anderegg (danke für den Artikel) meint, liegt auf der Hand. Und natürlich hat er Recht mit seinen Ausführungen. TA-Media sieht doch seit Jahren nur noch die ökonomischen Zahlen: Mehr Reichweite = mehr Einfluss. Kommt das nicht bekannt vor? 20-Minuten als Influencer ist die Antwort: Beworben wird ein Produkt (Werbung, Anzeigen) mittels Aufhänger (News). Influencer hängen die Produkte in ihre durch viele Follower kurz beachtete Scheinwelt ein, um sie an den Konsumenten zu bringen und bekommen dafür Geld. 20-Minuten macht das selbe, nur garniert das ganze mit kurzen News, Sport, Celebtities.
    Aber leider, leider ist influence nicht gleicht Einfluss, genauso wenig wie social media soziale Medien sind.

  • am 8.01.2019 um 18:15 Uhr
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    «das einflussreichste Einzelmedium der ganzen Schweiz», meint Patrick Matthey. Sollte das tatsächlich so sein wäre es ein Armutszeugnis für Zeitungs-konsumentenInnen, online und Papier, in der Schweiz. Texte abschreiben, auf Instant-Niveau eindampfen, 20 Zeilen, das hat doch mit Zeitung nichts zu tun. Es ist billiges, in diesem Fall, gratis Fast Food, das man/frau zwischen Haltsetelle A und B durchblättert, dann liegen lässt und und andere entsorgen müssen, mehr nicht. Aber 20 Minuten passt perfekt zu den sinkenden Ansprüchen von TAmedia, die hemmunglos die dumben, zahlenden Printabonnenten betrügen, die den TA, eine Regionalzeitung von TAmedie und die Sonntagszeitung abonniert haben, die dürfen dann gleiche Artikel 3x lesen und bezahlen! Grösser könnte die Verachtung für die dumben Abonnenten nicht sein! Die gleiche Verachtung zur Wahrheit legt Patrick Matthey an den Tag wenn er 20 Minuten als «einflussreichste Medium» bezeichnet. Nicht einmal den Bedeutung von Wörter kennt er, da erstaunt nicht dass er sich auf Beamte beziehen muss!

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