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Die Folgen: Vermeidbare Komplikationen und Todesfälle. Artikelbild des «Beobachters» © Springer

Spitäler setzen Operierte unnötigen Risiken aus

Urs P. Gasche /  Zu wenig Übung beim Operieren: Behörden, Spitäler und Chirurgen handeln viel zu langsam. Es geht um Komplikationen und Todesfälle.

Man weiss es schon längst: Wenn Chirurgen und Spitalteams eine bestimmte Operation nur selten durchführen, fehlt ihnen die Erfahrung. Häufiger als bei eingespielten Teams kommt es zu vermeidbaren Komplikationen wie Nachoperationen, Nachblutungen, Wundinfektionen oder im schlimmsten Fall zum Tod. Deshalb sollten sich Spitäler noch viel mehr als bisher auf bestimmte Eingriffe spezialisieren.
Doch manche Spitäler wollen möglichst viele Eingriffe selber anbieten. Es geht um Prestige und Auslastungen. Die neusten Zahlen des Bundesamts für Gesundheit BAG beweisen, dass viele Spitäler bestimmte Operationen nur einmal pro Monat oder noch seltener durchführen. Wer wissen möchte, wie häufig «sein» Spital einen bestimmten Eingriff im Jahr 2014 durchführte, kann diese «Fallzahlen» auf einer BAG-Webseite erfahren.
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Siehe ganz unten die Links zu allen Schweizer Spitälern mit geringen Fallzahlen bei Operationen der Bauchspeicheldrüse, Gebärmutter, beim Implantieren künstlicher Knie- und Hüftgelenke, bei Geburten und Kaiserschnitten.
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Die Häufigkeit einer Operation ist zwar nur eines von mehreren Kriterien, die das Resultat von Operationen beeinflussen. Unter den Chirurgen gebe es «gute Handwerker», die selbst bei seltenen Eingriffen meistens mit Erfolg operieren, und «weniger geschickte Handwerker», die trotz viel Übung zu viele vermeidbare Fehler machten, erklärt Marcel Jakob, Professor für Orthopädie am Universitätsspital Basel und Präsident der Schweizer Gesellschaft für Chirurgie SGC.
Doch wenn Patienten für eine Wahloperation ein Spital wählen können, entscheiden sie meistens auf gut Glück. Sie wissen über die Geschicklichkeit einzelner Chirurgen ebenso wenig Bescheid wie über die Erfolgsquoten von Behandlungen. Deshalb bleiben die leicht zu erfassenden Fallzahlen ein Kriterium der Wahl. In den Niederlanden beispielsweise müssen Krankenkassen Operationen nicht zahlen, wenn sie ein Spital zu selten durchführt.

Zurückhaltung und Statistikfehler beim BAG

Einzelne Kantone wie Zürich schreiben den Spitälern Fallzahlen vor, meist allerdings nur ein Minimum von zehn Eingriffen pro Jahr. Laut BAG kann «eine Vorgabe von einer minimalen Zahl von Operationen die Qualität der Behandlungen verbessern», doch konkrete Empfehlungen will das BAG trotz der Passivität der meisten Kantone nicht formulieren.
Bereits vor Jahren kam das «British Medical Journal» zum Schluss, dass es für etliche Operationen nicht nur ein «Spital, das viel operiert» brauche, sondern auch einen «Chirurgen, der viel operiert». In den USA gilt die Regel «High Volume Surgeons in High Volume Hospitals». Doch das BAG hat es bisher «aus Datenschutzgründen» unterlassen, die Fallzahlen der einzelnen Chirurgen einzufordern und zu veröffentlichen. Wenigstens vereinzelte Spitäler veröffentlichen die Fallzahlen pro Chirurg in ihren Jahresberichten.
Weiterer Mangel: Bei den Fallzahlen pro Spital verlangt das BAG die Zahlen nicht getrennt für jeden Spitalstandort, sondern gibt sich mit gesamten Fallzahlen pro Spitalgruppe zufriedem, was die Vergleiche verfälscht. Eine Begründung gibt das BAG nicht.

«Fallzahlen müssen pro Spitalstandort erhoben werden», fordert Professor Marcel Jakob, Präsident der Schweizer Gesellschaft für Chirurgie SGC. Auch der Verein für Qualitätsentwicklung in Spitälern ANQ würde es «sehr begrüssen», wenn das BAG die Fallzahlen einheitlich pro Spitalstandort erheben und veröffentlichen würde. Im ANQ sind Spitäler, Ärzte, Kantone und Krankenkassen vereint mit dem Ziel, die jährliche Zahl der laut BAG über 2000 vermeidbaren Todesfälle und 60’000 vermeidbaren Komplikationen in Spitälern zu reduzieren. «Falls das BAG zusätzlich die Fallzahlen der einzelnen Chirurgen erhebt, wäre auch der ANQ an diesen Daten interessiert», erklärt ANQ-Geschäftsleiterin Petra Busch.
Vermeidbare Risiken für PatientInnen
Das zögerliche Handeln von Kantonen, BAG und Spitälern setzt Patientinnen und Patienten unnötige Risiken aus. Ein extremes Beispiel ist die besonders heikle Entfernung der Bauchspeicheldrüse (Pankreas). Professor Pierre-Alain Clavien, Chirurg am Universitätsspital Zürich, hielt schon vor vier Jahren «mindestens 20 bis 30 Pankreas-Eingriffe pro Jahr» für nötig, um die Zahl von Komplikationen deutlich zu senken. Trotzdem wollte das Beschlussorgan der Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektoren GDK – sie schützen auch die Interessen ihrer eigenen Spitäler – nur eine Mindestzahl von zehn Operationen pro Jahr vorschreiben. Doch selbst dagegen führten etliche Spitäler Gerichtsverfahren, so dass die zehn Operationen immer noch nicht in allen Kantonen verbindlich sind. Die Namen der prozessierenden Spitäler will die GDK nicht nennen.

Die Zahl der Spitäler mit nur sporadischen Operationen der Bauchspeicheldrüse nimmt zwar ab, aber nur langsam und ungenügend. Im Jahr 2011 gab es in der Deutschschweiz noch 19 Spitäler, welche eine Bauchspeicheldrüse weniger als zehnmal entfernten. Im letzten statistisch erfassten Jahr 2014 traf dies immer noch für 13 Spitäler zu. Beim Zuger Kantonsspital ist zu erfahren, dass es auch im Jahr 2015 lediglich 5 und im Jahr 2016 bisher 2 Pankreas-Patienten operierte.
Trotzdem erklärte der Bundesrat im Mai 2016, die Kantone würden die Planung der hochspezialisierten Medizin «kompetent umsetzen». Der Bund müsse nicht selber eingreifen, sondern wolle das «Subsidiaritätsprinzip» laufen lassen.

Josef Hunkeler, früherer Gesundheitsexperte beim Preisüberwacher, hat die BAG-Statistiken der letzten Jahre ausgewertet: «Die publizierten Zahlen suggerieren, dass in den Universitäts- und Zentrumsspitälern mit hohen Fallzahlen deutlich weniger Patienten starben, als nach ihrem Risikoprofil erwartet werden konnte. Hingegen starben in kleineren Allgemeinspitälern deutlich mehr.» Allerdings bleibe die Qualität der BAG-Zahlen ungenügend. Zum Beispiel gibt das BAG bei über der Hälfte der Spitäler die Todesfallrate nicht an – Begründung «Datenschutz». Auch beim berechneten Patientenmix der Universitätsspitäler gebe es von einem Jahr zum andern unerklärte Veränderungen.

Ein Jekami auch bei andern Eingriffen
Manchmal buhlen Spitäler am gleichen Ort um Patientinnen. In der Stadt Basel operiert das St. Claraspital sogar nur alle 6 Wochen eine Gebärmutter, das Merian Iselin Spital alle vier Wochen – und dies seit mehreren Jahren. Im 2015 operierte das Merian Iselin fast einmal pro Woche, allerdings mit unterschiedlichen Belegärzten. Dagegen führt das Universitätsspital Basel diese Operation zweimal pro Woche durch.

Erstimplantationen von Knieprothesen dürfen in Deutschland nur Spitäler vornehmen, die mindestens fünfzig solcher Operationen jährlich durchführen. In der Deutschschweiz gab es im Jahr 2014 noch immer 15 Spitäler, die Knieprothesen nur zwischen 5 und 48 mal einsetzten (siehe Tabelle). Die spezialisierte Zürcher Schulthess-Klinik führte diese Operation 766 mal durch, das Basler Merian Iselin Spital 719 mal, das Luzerner Kantonsspital 541, das Kantonsspital Winterthur 366 mal.
Bei den Erstimplantationen von Hüftprothesen gab es 2014 in der Deutschschweiz ebenfalls noch 13 Spitäler, welche diese Operation nur zwischen 1 und 49 mal durchführten (siehe Tabelle).

Weiteres Beispiel: planbare Frühgeburten von Säuglingen mit einen Gewicht von unter 1250 Gramm. Für sie schreibt Deutschland eine Fallzahl von mindestens 14 pro Jahr vor. Die Einführung wurde bis 2015 verzögert, weil etliche Spitäler gerichtlich dagegen vorgingen. Das Bundessozialgericht kam dann zum Schluss, dass ein «wahrscheinlicher Zusammenhang zwischen Fallzahlen und Behandlungsqualität» wissenschaftlich belegt sei. Doch in der Deutschschweiz gab es 2014 noch 26 Spitäler die nur auf eine bis acht solcher Frühgeburten kamen (siehe Tabelle).

Auf eine Gefahr von Mindestfallzahlen hat kürzlich Jürg Schmidli, Chefarzt am Berner Inselspital, hingewiesen. Chirurgen könnten versucht sein, «Diagnosen grosszügig auszulegen», um auf die nötige Zahl von Operationen zu kommen. Diese Gefahr unzweckmässiger Operationen besteht in Spitälern, deren Fallzahlen nur wenig unter den geforderten liegen. Verstärkt wird die Gefahr, weil in der Schweiz Chefärzte immer häufiger happige finanzielle Boni erhalten, wenn sie viel operieren. Schmidli rief das Parlament auf, solche mengenbezogene Anreize in Arbeitsverträgen mit Ärzten zu verbieten – wie dies in Deutschland bereits der Fall sei.

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HIER finden Sie Fallzahlen eines bestimmten Spitals.
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Und hier die Listen aller Schweizer Spitäler mit geringen Fallzahlen bei Operationen der

(Auswertung der BAG-Zahlen von Josef Hunkeler)
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Dieser Beitrag erschien in ähnlicher Form im «Beobachter».


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Eine Meinung zu

  • am 7.11.2016 um 13:50 Uhr
    Permalink

    ‹Schmidli rief das Parlament auf, solche mengenbezogene Anreize in Arbeitsverträgen mit Ärzten zu verbieten.›

    Was ändert sich dann?

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