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Menschen in akuten psychischen Krisen wünschten sich mehr ambulante Angebote. © Pixabay

Fast nirgendwo so viele Zwangseinweisungen wie in der Schweiz

Andres Eberhard /  Nicht erst seit Corona: Fachleute kritisieren einen zu laxen Umgang mit Grundrechten. Basel ist vorbildlicher als Zürich.

15982 Menschen wurden im Jahr 2020 in der Schweiz gegen ihren Willen in einer psychiatrischen Klinik untergebracht. Das sind rund 1600 mehr Zwangseinweisungen als noch im Jahr zuvor und über 2000 mehr als im Vor-Corona-Jahr 2018. Der Trend zu mehr Zwangseinweisungen ist auch in anderen Ländern zu beobachten. Fachleute erklären das mit einer Zunahme von älteren, dementen Personen sowie mit der Pandemie.

Ein Vergleich mit anderen Ländern zeigt, dass in der Schweiz relativ viele Zwangseinweisungen ausgesprochen werden: 1,8 pro 1000 Einwohnerinnen und Einwohner waren es 2020 gemäss den Zahlen des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums Obsan. Das Wissenschaftsmagazin The Lancet hat 2019 die Daten verschiedener Länder ausgewertet. Dabei haben – im Verhältnis zur Bevölkerung – nur zwei der 19 untersuchten Länder mehr Menschen gegen ihren Willen in eine psychiatrische Klinik eingewiesen: Österreich und Australien. Am wenigsten waren es in Italien und Portugal mit nur einem Zehntel so vielen Zwangseinweisungen. Generell kam es in eher reichen Ländern mit hoher Immigrationsrate zu mehr Zwangseinweisungen.

Traumatisierend und entwürdigend

«Die Anzahl an Zwangseinweisungen muss massiv reduziert werden», fordert Caroline Gurtner von Pro Mente Sana, der Stiftung für psychische Gesundheit. Viele Betroffene würden den Freiheitsentzug, oft unter Polizeigewalt, als traumatisierend, entwürdigend, teilweise beschämend erleben. «Manche brauchen jahrelang, um diese Situationen aufzuarbeiten.» Die Pro Mente Sana arbeitet derzeit an einem Positionspapier zum Thema. Ambulante Angebote müssten ausgebaut und alle mit der Umsetzung zuständigen Stellen (Ärzteschaft, Polizei, KESB, Ambulanz) sensibilisiert werden. «Zwangseinweisungen sind ein extremer Akt gegen grundlegende Freiheitsrechte und sollten nur als Ultima Ratio eingesetzt werden.» In der Praxis aber würden Alternativen, wie vom Gesetz vorgeschrieben, zu wenig geprüft.

Prof. Dirk Richter. © PD

Seit Jahren kritisieren auch Anwältinnen und Anwälte den zu laxen Umgang mit dem Gesetz. Ärztinnen und Ärzte sollten nicht allein nach medizinisch-psychiatrischen Kriterien Grundrechte einschränken dürfen, argumentieren sie. Es brauche für sie entweder juristische Schulungen, oder aber müssten beim Einweisungsentscheid eine Anwältin oder ein Anwalt beigezogen werden.

Warum in der Schweiz so viele Zwangseinweisungen angeordnet werden, ist nicht klar. Die Unterschiede lassen sich auf jeden Fall nicht mit strengen oder lockeren rechtlichen Voraussetzungen für fürsorgerische Unterbringungen erklären, wie die Studie in The Lancet zeigt. Signifikant war aber der Zusammenhang zwischen der Anzahl verfügbarer Klinikbetten in einem Land und der Anzahl angeordneter Zwangseinweisungen. Heisst: Wo Betten für Psychiatriepatientinnen und -patienten vorhanden waren, wurden sie eher genutzt. Fachleute wie der Berner Professor Dirk Richter fordern darum den Abbau psychiatrischer Spitalbetten zugunsten von mehr ambulanten Angeboten (siehe Kasten).

Vollständig erklärt sind die grossen Unterschiede zwischen den Ländern damit jedoch nicht. Die Autorinnen und Autoren vermuten, dass auch in der Studie nicht berücksichtigte kulturelle Faktoren eine Rolle spielen. Damit sind beispielsweise Anstrengungen der Zivilgesellschaft gemeint, Betroffene wieder in die Gemeinschaft zu integrieren.

«Fast schon perverse Fehlanreize»

«In der Schweiz gibt es heute viel zu viele stationäre Betten für psychisch kranke Menschen», sagt Professor Dirk Richter von den Universitären Psychiatrischen Diensten Bern. Dies hänge mit «fast schon perversen Fehlanreizen» zusammen. «Mit einem Klinikbett lässt sich in der Schweiz gutes Geld verdienen.» Bei ambulanten Angeboten wie dem Home Treatment sei es hingegen schwierig, dass die Rechnung aufgeht. Grund für diese Praxis ist, dass die Kantone die stationären Kliniken subventionieren, indem sie die Hälfte der Kosten übernehmen. Für ambulante Unterstützung würden aber viele so gut wie nichts ausgeben. Für Richter gäbe es aber viele Gründe, um in der Psychiatrie den Weg «ambulant vor stationär» einzuschlagen. So wünschten sich Betroffene ambulante Behandlungen, wie Untersuchungen zeigen. Zudem würden solche den Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention entsprechen und verhindern, dass psychisch Kranke von der Gesellschaft ausgeschlossen werden. Und volkswirtschaftlich seien sie erst noch günstiger, so Richter. Der Experte fordert darum, dass Kantone ambulante Angebote stärker unterstützen und damit deren Verbreitung fördern. Der Kanton Bern beispielsweise übernimmt gewisse Kosten von ambulanten Angeboten wie zum Beispiel jene für den Weg zu den Patientinnen und Patienten. Wie Alternativen zur Einweisung aussehen könnten, zeigt sich etwa in Interlaken. In der Psychiatrie-Abteilung des Spitals wird versucht, Menschen in akuten psychischen Krisen wenn immer möglich in den eigenen vier Wänden zu helfen. Mitarbeitende einer mobilen psychiatrischen Krisenbegleitung besprechen an einem runden Tisch zusammen mit Betroffenen und deren Angehörigen das Vorgehen. Dieses Konzept mit dem Namen Open Dialogue stammt aus Finnland und ist dort ein grosser Erfolg.

Zürich ist Schweizer Spitzenreiter

Die Unterschiede bei der Häufigkeit von Zwangseinweisungen sind auch innerhalb der Schweiz frappant. Spitzenreiter war 2020 gemäss Zahlen des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums Obsan der Kanton Zürich gefolgt von Schaffhausen, viermal weniger Fälle verzeichneten Appenzell Innerrhoden und Neuenburg. Allerdings ist die Vergleichbarkeit begrenzt. Urbanere Regionen haben tendenziell höhere Werte: Erstens, weil Menschen mit psychischen Problemen eher in die Stadt ziehen, da sie die soziale Kontrolle auf dem Land nicht mehr ertragen. Und zweitens, weil es in urbanen Regionen mehr Angebote und Dienste gibt, womit Betroffene den Fachleuten eher auffallen.

Dass aber Basel-Stadt (1,92 pro 1000 Einwohner) einen deutlich niedrigeren Wert ausweist als Zürich (2,72), sehen Fachleute als Indiz dafür, dass die unterschiedliche rechtliche Praxis eben doch eine Rolle spielt. In der Schweiz ist nämlich nicht einheitlich geregelt, wer Personen gegen ihren Willen einweisen darf. Neben der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) sind dies Ärztinnen und Ärzte. Doch in manchen Kantonen wie Basel-Stadt nur Ärztinnen und Ärzte des zuständigen kantonalen Dienstes, in anderen wie Zürich sämtliche zugelassenen Ärzte. Theoretisch kann dort ein Augenarzt eine auffällig gewordene Person einweisen. Aufgrund der grossen kantonalen Unterschiede bezeichnete das juristische Fachmagazin Plädoyer die hiesige Rechtspraxis als «hemdsärmelig».

Dieser Artikel ist in ausführlicherer Form erstmals im Surprise Magazin (Nr. 521) erschienen.


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4 Meinungen

  • am 27.04.2022 um 11:21 Uhr
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    Wir haben nichts gelernt, wer vom Mainstream abweicht, lebt gefährlich

  • am 27.04.2022 um 14:29 Uhr
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    Möge Prof. Richter hier einen Stein ins Rollen gebracht haben. Wer behält den Ball im Rollen? Welche Instanzen sind hier zuständig? Nehmen sie ihre Pflichten war? Das Ergebnis der erwähnten Studie ist der Schweiz unwürdig. Aber es erstaunt nicht. Wo sind Kontrollinstanzen, die Transparenz fordern über Qualität und Wirksamkeit der heute gängigen Praxis von Zwangseinweisungen? Wie wirksam sind ambulante Programme? Wo sind Statistiken zur nachhaltigen Heilung? Zur Suizidalität innerhalb dieser Räumlichkeiten? Wer überprüft die Wirksamkeit angeordneter Therapien, Medikation, etc.
    Ich habe das psychiatrische Umfeld im Zusammenhang mit einer mir sehr nahe stehenden jungen Person (damals Kind!) kennengelernt. Eine Zwangseinweisung der besonderen Art. Beim freiwilligen Besuch schlossen sich die Türen. Dann totale Machtlosigkeit diesen Prozessen gegenüber. Man müsste ein Buch schreiben. Aber es gäbe zu viele düstere Kapitel, keine Lichtblicke. Kein Einzelfall. Dringender Handlungsbedarf!

  • am 27.04.2022 um 16:04 Uhr
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    Meine Mutter wurde zweimal Zwangseingewiesen. Das erstemal holte ich sie raus mit einer Unterschrift, das zweitemal wollte die Oberärztin in Liestal meine Mutter nicht mehr entlassen.Meine Mutter hatte einen Sturz wurde im Unispital Basel nicht richtig versorg, obwohl 1. Klassepatient, fehlte irgendwo die Kostengutsprache. Sie wurde auf der Aufnahme liegen gelassen, bis sie delirant war, dann hat man sie einfach nach Liestal verfrachtet. Dort wurde sie dann in die Psychiatrie gebracht, weil sie unterversorgt im Delir gelandet war. Auch in der Psychiatrie verlegte man sie nicht auf die Station. Als sie ansprechbar war, versorgte man sie nicht somatisch – weswegen sie ja ins ursprünglich ins Spital kam. So veranlasste ich ein Konsilium zur Abklärung. Die Oberärztin wollte mich massregeln, ich bliess der Dame aber den Marsch und mithilfe des Konsiliararztes bekam ich meine Mutter wieder aus der Psychiatrie raus! Diese Umstände müssen sich ändern!

  • am 28.04.2022 um 15:53 Uhr
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    Ich möchte Ihren Text nicht so stehen lassen.
    Ich selbst stecke bald einmal 30 Jahre in der Psychiatriemühle, wurde aber nie zwangseingewiesen, habe aber während meines letzten Klinikaufenthaltes selbst mehrere Male miterlebt, wie solche FU durchgeführt werden, in der Tat: es ist schockieren, es ist traumatisieren, selbst für die normalen Patienten auf der jeweiligen Station, die einem solchen Treiben oft schutzlos ausgeliefert sind.
    Allerdings bin ich nicht einverstanden mit dem angeblichen Überangebot an Betten. Wenn ich sehe, welche Wartelisten es für stationäre Aufenthalte gibt, gerade in den Fachkliniken. Die einzige Trauma-Fachklinik in der Schweiz hat schon alleine für Indikationsgespräche eine Warteliste von 9 Monaten. Die Jugendpsychiatrien platzen aus allen Nähten. Aus eigener Erfahrung kann ich nur sagen: es gibt Situationen im Leben, wo es nichts anderes mehr gibt als den stationären Aufenthalt – und dann in der Not auf Wartelisten zu landen, ist schlicht eine Katastrophe.

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