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Zukunftsforscher Matthias Horx (57), Buchautor und Lehrbeauftragter. Er lebt in Wien. © SRF

«Zu jedem Trend gibt es auch einen Retro-Trend»

Urs Zurlinden /  Was kommt auf uns zu? Wohin gehen wir? Ein Gespräch mit dem renommierten deutschen Zukunftsforscher Matthias Horx zum neuen Jahr.

Herr Horx, was unterscheidet den Zukunftsforscher vom Wahrsager?
Matthias Horx: Gegenfrage: Was unterscheidet den Journalisten vom Märchenerzähler?
Ist Zukunftsforschung nicht einfach genaue Vergangenheitsanalyse?
Nein, das würde nicht ausreichen. Das führt zum klassischen «ceterus-paribus»-Fehler: Man projiziert einfach die Ereignisse der Vergangenheit in die Zukunft. Aber in komplexen Welten gibt es ganz andere Phänomene: Phasensprünge, Komplexitätsbrüche, Tipping-Points, so genannte Umkipp-Punkte, die durch Krisen markiert sind. Es geht darum zu verstehen, wie die Welt «tickt», nicht wie sie mal war.
Welche Entwicklungen werden sich 2013 noch verstärken?
Das Jammern, das Klagen und die Angst. Das sind im alten Europa leider derzeit die Kulturkonstanten.
Wohin entwickelt sich die Gesellschaft?
Generell wird die Gesellschaft weiblicher, mobiler, älter und vielfältiger, vernetzter und individueller im Sinne von differenzierter. Aber dabei gibt es Turbulenzen. Die Entwicklung einer «säkularen Spiritualität» zum Beispiel ist in vollem Gange. Wir brauchen, wenn wir individueller werden, immer auch Sinn-Ausgleich. Und so verläuft die Kulturgeschichte in einer Schleifenbewegung: Zu jedem Trend gibt es einen Retro-Trend, der dann auf einer höheren Ebene zu einer Synthese kommt. Wir nennen das auch das «Rekursions-Prinzip der Zukunft». Das Neue ist immer auch eine Variante des Alten.
Welchen Einfluss haben die sozialen Netzwerke in der Online-Community?
Soziale Netzwerke sind so etwas wie Sozialstrukturen zum Üben. In ihnen werden einerseits Verbindungen geknüpft, anderseits Unverbindlichkeiten aufrecht erhalten. Man versucht, seinen sozialen Einfluss zu maximieren bei minimaler Verpflichtung. Das macht soziale Netzwerke eher zu Pubertäts-Medien. Tausend Freunde bei Facebook, das ist Schein-Sozialität, aber in einer bestimmten Phase des Lebens eben cool. Das Netz fördert auch unverantwortliche Konfliktformen: «Shitstorm» statt offener Debatte. Um dieses Paradoxien des Netzes werden wir in den nächsten Jahren intensiv debattieren.
Werden denn die Social Networks weiter zulegen?
Sie sind, in der heutigen Form, eher an ihrem Zenit angekommen. Der Hype flaut ab.
Welche Folgen hat die demographische Entwicklung einer zunehmenden Überalterung der Gesellschaft?
»Überalterung» ist ein im Grunde polemisches Wort, dass einen gesellschaftlichen Prozess sofort in eine negative Richtung drängt. Wer sagt, wie alt wir werden dürfen? Es geht doch eher darum, unsere Kultur an steigende Lebensspannen zu adaptieren. Die Menschen leben heute in ganz anderen Phasen-Modellen, viele wagen Aufbrüche mit 60, wenn man früher schon auf der Parkbank sass.
Auffallend ist eine Rückkehr der Frau an den Herd auf. Hält dieser Trend an?
Interessant. Wo haben Sie das festgestellt? In Europa generell ist der Trend nach wie vor in Richtung auf eine Machtergreifung der Frauen gerichtet. In der Schweiz mag es da bisweilen einen Retro-Trend geben, weil man hierzulande noch als erwerbstätiger Mann eine Familie gut ernähren kann, und dann die Frauen mehrere Optionen haben. Aber gerade in der Frage der Frauenmacht stehen wir heute an einem «Tipping Point», an einem echten Durchbruch. Wir werden in Europa eine Quote für das Top Management bekommen. Das wird vieles verändern.
Wie sieht die Arbeitswelt der Zukunft aus?
Generell kann man sagen, dass es einen höheren Grad an Selbstständigkeit geben wird, die auch innerhalb der Firmen existiert. Das früher noch sehr verbreitete Standardmodell des «männlich-lebenslangen Angestelltendaseins» neigt sich dem Ende zu. Wir werden mehr verschiedene Anstellungsformen im Laufe unseres Lebens haben, und eine immer grössere Anzahl von Menschen findet das im Prinzip gut. Arbeit und Sinn rücken näher aneinander. Das heisst auch, dass wir andere Absicherungs-Mechanismen brauchen, Wir müssen Flexibilität und Sicherheit auf neue Weise kombinieren Wir nennen das auch «Flexicurity». Wir brauchen neue Formen von Work-Life-Balance. In Skandinavien zum Beispiel kann man als Führungskraft sich um seine Familie kümmern, weil dort Arbeitszeiten von über acht Stunden als unanständig und unsozial gelten. Auch Manager gehen spätestens um fünf Uhr nach Hause. Schon das verändert das Verhältnis zwischen Männern und Frauen, Erwerbswelt und Familienwelt radikal.
Burnouts und Depressionen nehmen aber nach wie vor zu.
Die Diagnosen dieser Phänomene nehmen zu, aber nicht unbedingt die realen Fälle. Das alles gab es auch vor 50 Jahren, man nannte es nur anders oder nahm es gar nicht wahr. Wenn Onkel Egon mit 55 einen Herzinfarkt bekam, war das eher ein Heldentod – heute wäre er ein typisches Burnout-Opfer. Wir neigen allmählich dazu, die normalen Stimmungsschwankungen als Depression zu deuten, und dem Stress, den wir manchmal haben, gleich das Etikett «Burnout» aufzukleben. Das freut vor allem die Pharmaindustrie.
Einen entscheidenden Einfluss auf die Raumentwicklung hat die Mobilität. Kommt es zu einem Umdenken?
Mobilität ist immer weniger an den Besitz eines eigenen Autos gebunden. Wir befinden wir uns heute in Europa bereits jenseits von «Peak Car»: Die pro Person zurückgelegten Auto-Kilometer gehen langsam wieder zurück. Am stärksten wächst derzeit die Bewegung zu Fahrrad und zu Fuss. Und die Städte verändern sich: Sie werden von «Car cities» zu «Citizen cities». Das Auto verliert seine Machtstellung.
Welche Trends sehen Sie im Konsumverhalten?
Immer noch der Trend zum Online-Shopping, Conveniance, aber auch die Rückkehr zu regionalen Produkten, zu Authentic- und Bio. Der Konsum spaltet sich endgültig in einen Sektor des Sinnkonsums, in dem es wieder um Qualität geht, um Bio, Nachhaltigkeit und Rohstoff-Vermeidung. Und in einen immer müllhafter werdenden Massenkonsumbereich, in dem man das Gekaufte bald wieder wegwirft. Ein Fernseher hat heute eine «Laufzeit» von nur noch vier Jahren, dann landet er im Keller. Die Konsum-Trendforscherin Faith Popcorn hat einmal gesagt: «Wir wollen immer mehr weniger.» Und dieses weniger muss besser und sinnhafter sein.
Politisch zeichnet sich eine Weltordnung ab mit den neuen Grossmächten China und Indien. Wann wird der Wendepunkt sein?
Wir sind mittendrin im Entstehen einer neuen Weltordnung, die nicht mehr unipolar, sondern multipolar sein wird. Das ist ein schwerer Schock, weil wir uns immer auf eine Hegemonialmacht verlassen haben, wie die Amerikaner. Und weil wir es gewohnt sind, das Wohlstandsprivileg zu besitzen. Dass die Chinesen jetzt ihr Land ebenso industrialisieren wollen wie wir unseres vor 100 Jahren, finden wir empörend. Aber die Chinesen werden uns nicht fragen.
Welche Folgen wird diese globale Machtverschiebung haben?
Die vier Milliarden Menschen, die bislang keinen Anschluss an den Wohlstand hatten, haben jetzt auch eine Chance. Und für uns in den alten Wohlstandsländern heisst das: Wir müssen unsere ökologischen Schulden zurückzahlen. Nicht durch Selbst-Kasteiung, sondern durch Innovationen von grünen Technologien und neuen Materialkreisläufen.
Was macht Ihnen Angst beim Blick in die Zukunft?
Der Hang von Menschen, Hysterien durch Übertreibungen und Emotionalisierung von Problemen zu erzeugen. Und die Entwicklung der Medien, die immer mehr Angst-Stimmungen schüren.
Welcher Trend freut Sie besonders?
Die Feminisierung. Die Vernetzung der Welt. Aber auch der Rückgang des Hungers und der Armut und die Zunahme der Bildung, die Abnahme der Kriege. Das sind weltweit tatsächlich erkennbare und recht stabile Trends.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

keine. Das Interview mit Matthias Horx erschien zuerst in der "Südostschweiz am Sonntag"

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