ProminenzVorBataclanKopie

«Spiegel online» zeigt Obama und Hollande vor dem Konzertsaal Bataclan © Spiegel online

Viele Medien spielen das Spiel der Terroristen mit

Urs P. Gasche /  Fernsehen und Zeitungen schüren Empörung, Mitleid und irrationale Angst. Jetzt endlich erheben sich einzelne prominente Stimmen.

US-Präsident Barack Obama, Kanadas neuer Premier Justin Trudeau, Japans Premier Shinzo Abe, Australiens Premierminister Malcolm Turnbull und Chiles Präsidentin Michelle Bachelet legten in Paris vor dem Bataclan Blumen und Kränze nieder. Unter grosser Anteilnahme der Medien.

Die wenigen Terroropfer, die in Europa umkommen, werden als andere Mitmenschen behandelt als die rund 30’000 Opfer des Terrors, meist Moslems, die allein im letzten Jahr im Libanon, in Irak, Syrien oder in Afghanistan umgekommen sind. Die eigene Betroffenheit kann es nicht sein, denn diese Länder liegen nicht viel weniger weit weg von den USA, Kanada, Japan, Australien oder Chile als Frankreich.

Viele Medien verstärken tausendfach Gefühle der Entrüstung und des Mitleids mit Bildern, Vor-Ort-Berichten und Sondersendungen in einem Ausmass, dass sich Angst und Schrecken verbreiten. Am Berner Bahnhof patroullieren Schwerbewaffnete, ein Lausanner Gymnasium sagt alle Paris-Reisen im nächsten Jahr ab, viele Individualtouristen stornieren ihre gebuchten Städtereisen. Umfragen in Deutschland zeigten, dass viele Jugendliche sich nicht mehr an Grossanlässe getrauen, im öffentlichen Raum misstrauisch geworden sind und nachts weniger gut schlafen.

Mit dem Risiko eines Blitzschlags zu vergleichen

Medien nützen es schamlos aus, dass die Bevölkerung Risiken ganz schlecht einschätzen kann. Die wenigsten haben in der Schule etwas von Wahrscheinlichkeitsrechnung gehört. Deshalb sei hier wiederholt, was Infosperber bereits am 18. November dargelegt hat:

  • In Westeuropa ist das Risiko, wegen eines Terroranschlags ums Leben zu kommen, vergleichbar mit dem Risiko, von einem Blitz erschlagen zu werden.
  • Das Risiko, in einem Autocar oder in einem Auto unverschuldetes Opfer eines Verkehrsunfalls zu werden, ist eintausendmal grösser als in einem Bahnhof, an einem Konzert, einem Fussballmatch oder anderswo von Terroristen erschossen zu werden. Das gilt auch für einen Aufenthalt in Paris.

Wenn wir einen Überwachungsstaat akzeptieren und auf Freiheiten verzichten sollen, um das Risiko eines Terroranschlags zu verringern, welche unglaublichen Einschränkungen müssten wir im Strassenverkehr in Kauf nehmen, damit wir nicht viel eher ein Opfer der Strasse werden?

Ein paar Stimmen der Vernunft

Gegen durchgedrehte, auf Einschaltquoten und Leserzahlen erpichte Medien haben sich in den letzten Tagen einzelne namhafte Stimmen erhoben. In einem Gastbeitrag der «NZZ am Sonntag» fand der langjährige «10vor10»-Moderator Stephan Klapproth klare Worte. Mit ihren Non-Stop-Berichten und Moderatoren-Fragen («Können uns die Behörden noch vor Gewalt schützen?») hätten die französischen Lead-Medien «den Eindruck geschaffen, eine Terroristenarmee sei drauf und dran, in Frankreich die Macht zu übernehmen – oder mindestens fast unbeschränkt Leid anzurichten». Tatsächlich sei der demokratische Staat keine Sekunde in Gefahr gewesen.

«Keine Live-Schaltungen vom Ort des Schreckens»

In Wahrheit seien die Terroristen nur Zwerge, welche in der Atommacht Frankreich keinen Polizeiposten länger als zwei Stunden gegen die Staatsgewalt halten könnten. Klapproth zitiert den Politologen Herfried Münkler, der als schärfste Waffe gegen den Terrorismus «heroische Gelassenheit» empfehle. Klapproth redet den Medienverantwortlichen der demokratischen Länder ins Gewissen. Sie sollten sich «in einem freiwilligen Pakt» darauf einigen, auf «aufgeblähte Mega-Storys» zu verzichten. Für das Fernsehen würde dies bedeuten: Agenturmässige Zusammenfassungen statt Live-Schaltungen vom Pariser Café, wo dem Tod Entronnene berichten, wie sie über Leichen stiegen. Und für Zeitungen hiesse es, keine Titel wie «Sie haben die Opfer regelrecht hingerichtet», keine Darstellungen des Schreckens in Form von Nahaufnahmen, welche die Angst der Opfer hundertmillionenfach potenziere.

Ein verhängnisvolles Schweigen über den Courant normal

Im «Tages-Anzeiger» meldete sich Ignaz Staub, der unabhängige Ombudsmann des Tamedia-Verlags, zu Wort. Er erinnerte daran, dass die Medien «eher kurz und knapp» über die 48 Anschlagsopfer im Libanon berichtet hatten, am Tag vor den Attentaten in Paris: «Terroropfer in der arabischen Welt scheinen kaum mehr näherer Erwähnung wert: Ihre Zahl ist unfassbar gross». Mit andern Worten: Terroropfer anderswo sind «Courant normal» und darüber berichten Medien kaum. Es gilt, diese Gewohnheit zu hinterfragen.

Im Gegensatz dazu hätten die Medien auf die Attentate in Paris «intensiv und emotional» reagiert. Mit Sonderseiten und Dossiers, Einschaltsendungen und Gesprächsrunden. Die Opfer in Paris seien nicht anonym geblieben, sondern hätten Gesichter und Biografien erhalten.
Natürlich ist auch Ignaz Staub klar, dass uns näher geht, was in der Nähe passiert. Trotzdem müssten sich Medien Fragen gefallen lassen. Als vorbildlich zitiert der Ombudsmann einen Radiobericht des Nahost-Korrespondenten Roy Gutman in den USA: «Ein Leben ist ein Leben. Und Menschen, die getötet werden, sind Menschen, die getötet werden.» Man solle alle Opfer des IS oder einer Terroristen-Gruppe «so behandeln, als wären sie wie wir, denn sie könnten wir sein. Wir sind vielleicht die Nächsten».
Ignaz Staub doppelt nach: «Im Nahen Osten sind Terroranschläge an der Tagesordnung, in europäischen Hauptstädten nicht Das ist aber kein Grund, fernen Betroffenen unsere Anteilnahme zu verwehren.»
Medien als Helfershelfer
Eigentlich müsste man die meisten Medien noch viel schärfer kritisieren: Mit ihrer unverhältnismässigen Berichterstattung und dem ausgelösten Aktivismus machen sie solche Terroranschläge in Europa aus der Sicht der Terroristen erst wirksam. Die Allmachtsphantasien von Terroristen werden verstärkt. Für einige Individuen wird es noch attraktiver, ihr Leben für Anschläge, den IS und Allah aufs Spiel zu setzen.

Eine vorbildliche Aufklärung und Information brachte die Sendung «nano» auf dem Sender 3sat. Die Redaktion realisierte bereits am 24. November u.a. ein Interview mit dem Risikoforscher Professor Gerd Gigerenzer.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine

War dieser Artikel nützlich?
Ja:
Nein:


Infosperber gibt es nur dank unbezahlter Arbeit und Spenden.
Spenden kann man bei den Steuern in Abzug bringen.

Direkt mit Twint oder Bank-App



Spenden


Die Redaktion schliesst den Meinungsaustausch automatisch nach drei Tagen oder hat ihn für diesen Artikel gar nicht ermöglicht.

9 Meinungen

  • am 1.12.2015 um 17:49 Uhr
    Permalink

    Bravo für diesen und die andern Artikel zum Thema!

  • am 1.12.2015 um 19:27 Uhr
    Permalink

    Der Artikel überzeichnet masslos die Tatsache, dass den Attentaten und Mordbrennereien im nicht-europäischen Ausland weniger Aufmerksamkeit gewidmet wird.
    Über Boko-Haram gab und gibt es immer wieder ausführliche Horror-Berichte; über die gelungenen Attentate in Tunesien wurde in der französischen und italieniischen Presse/Medien sehr ausführlich berichtet.
    Mich bestürzt allerdings weit mehr die Tatsache, dass in diesen Medien nicht das geradezu vorbildliche Management der Krisensituation im fast wöchentlich Attentaten ausgesetzten Tunesien berichtet wird; immerhin waren die diesjährigen Nobelpreisträger vier Exponenten des sozialen Friedens, die überein gekommen waren, trotz aller politischen Differenzen geeint gegen den faschistisch, theokratisch und terroristisch orientierten Islamismus vorgehen zu können – ohne zu menschenrechtswidrigen Notstandsmassnahmen zu greifen

  • am 1.12.2015 um 19:27 Uhr
    Permalink

    Förderung der Kriegslüsternheit äh… Kriegsbereitschaft… Förderung der Ego-Wertschätzung durch aufhetzerische Übertreibung 🙁
    Zeitungsbericht vom 26.11.2015: Divisionär a D Peter Regli zieht das Publikum in seinen Bann…. Öffentlicher Vortrag bei der Glarner Offiziersgesellschaft:
    «Die Welt ist ein Pulverfass; die Lunte brennt!»
    …. Europa sei gefordert, um den Aktionsradius der Terrororganisation Islamischer Staat (IS), bekannt für Selbstmordanschläge, Geiselnahmen, Enthauptungen usw., wirksam
    einzudämmen. Die zahlreichen Anschläge und Verbrechen in den letzten Jahren, ja sogar innert Monate, seien höchst besorgniserregend.
    «In Europa herrscht wieder Krieg»

    http://www.fridolin.ch/uploads/PDF-Zeitung/Seite_01.pdf

  • am 1.12.2015 um 21:31 Uhr
    Permalink

    In einer Demokratie sind Medien äusserst wichtig. Doch sie müssten vorallem kritisch die «Macht» begleiten. (Ob Politik oder Wirtschaft etc) Diesbezüglich versagen die Medien aus meiner Sicht zZt total.
    > In Frankreich werden per NotstandsGesetz wichtige Rechte ausgehebelt; Hausdurchsuchungen/Festnahmen ohne richterliche Autorisation. Versammlungs/Demo-Verbot …usw – Und die Medien treiben die Verantwortlichen noch an, anstatt zu Gunsten der Bevölkerung die Maßnahmen in Frage zu stellen.
    > Frankreich, England, USA, Türkei, … verstossen allesamt gegen das Völkerrecht und die Medien lassen die Mächtigen durchkommen mit so «Begründungen» wie Art.51 der Selbstverteidigung.

    100 Jahre 1.Weltkrieg, 70 Jahre 2.Weltkrieg und statt zu gedenken, erinnern und zu Lehren daraus zu ziehen; scheinen mir Politik und Medien die ähnlichen Fehler zu wiederholen!

  • am 1.12.2015 um 22:00 Uhr
    Permalink

    Stephan Klapproth, SRF
    Ignaz Staub, Tages-Anzeiger
    =
    Die Teufel mit den Beelzebuben austreiben

  • am 1.12.2015 um 22:38 Uhr
    Permalink

    Stephan Klapproth? Ist das der Mann, der jahrelang allabendlich den Blick am Abend im TV-Format moderiert hat? Von diesem Mann anmoderiert brachte 10vor10 einmal ein wackeliges YouTube-Video, in dem ein übergewichtiger Hobbyangler vor der Küste Floridas von einem zu grossen Fisch an der Angel ins Meer gezogen wurde. Seither passe ich beim Angeln viel besser auf. Danke, danke Stephan Klapproth. Und machen Sie es gut! Nein, sorry, besser!!

  • am 16.12.2015 um 03:43 Uhr
    Permalink

    ich bin nicht ganz sicher, ob Herr U.P. Gasche damals schon beim Schweizer TV arbeitete, als man mir vom Schweizer TV anbot, über ein von uns geplantes Referendum gegen das damals erste Fernmeldegesetz zu berichten, aber nur, wenn wir es mit einem ‹erheblichen› Ereignis verbinden würden, wie z.B. der Sperrung der N-1, bei der Brücke zwischen Othmarsingen und Brunegg, denn über geplante Initiativen, oder Referenden, dürfe die Sendeanstalt nicht berichten, ohne damit gegen die (damaligen) Konzessionsbedingungen zu verstossen. In der Kassensturzsendung, später, als das Gesetz dann trotzdem Gültigkeit erlangte, durfte ich ihn dann trotzdem kurz kennen lernen.

    Heute macht man sogar Umfragen, im CH-TV, und könnte, wäre, würde, hätte, sollte, müsste, sind heute Begriffe, von morgens bis Abends, früher auch nur in der Wetterprognose legal, und heute ganz normaler Inhalt bald jeder Sendung, die irgend etwas mit irgend Etwas zu tun hat. Da kann sogar die Haupt-Moderatorin des TV Senders Joiz Donald Trump im Alleingespräch vor der Kamera als ‹fucking Rassist› hinstellen, und keine Kommission würde sie mehr daran hindern.

    Und wenn Apple seine Neugeburt zeigt, sind Alle dabei, die Nationalen gratis, mit Flug, ins Ressort, und den Kleineren schickt man reales MUSTER, mit vorbereitetem Werbetext als TIFF. Und, als ob es gälte, Apple ja nicht vor den Kopf zu stossen, Swiss TV ist immer auch ganz vorn mit dabei.

    Demokratie ? Hat doch sicher längst schon nichts mehr mit den Medien zu tun.

Comments are closed.

Ihre Meinung

Lade Eingabefeld...