Huhn

Was ist Heimat? Helmut Scheben nähert sich dem Begriff und dem Gefühl von Heimat in seinem Essay an. © Helmut Scheben

Reisenden Kriegers Heimat – ein Essay

Helmut Scheben /  Globalisierung erzeugt Balkanisierung. Aufhebung von Grenzen schafft Bedürfnis nach neuen Begrenzungen und Refugien.

«Eso schmeckts dä Winter i dr Schwyz», hiess die Werbung für das Parfum Blue Dream, das Herr Krieger in Coiffeursalons zwischen Basel und Chur verkaufte. Der dokumentarische Spielfilm «Reisender Krieger» von 1981 war so verstörend, dass man am Kinoeingang antidepressive Medikamente hätte verteilen sollen. Das von Laiendarstellern gespielte Roadmovie zeigt eine von Autobahnen, Betonfassaden und Parkhäusern entstellte Schweiz in Schwarz-Weiss – oder besser: in kaltem Nebelgrau. Der eindrucksvoll schräge Streifen wurde damals und wird bis heute von der linken Intelligenzia als Diagnose einer entfremdeten Gesellschaft hoch gelobt. Eine Coiffeuse brachte dies im Film auf den Begriff der «Arschlochigkeit der Schweiz». Im selben Jahr 1981 schrieb Hans Weiss, erster Geschäftsführer der Stiftung Landschaftsschutz: «Die Schweiz gilt immer noch als eines der schönsten Länder der Welt, aber sie wird mit jedem Jahr hässlicher. Dagegen werden die Kalenderbilder, Fotobände und Ferienprospekte jedes Jahr farbiger und märchenhafter.»  

Winter
Schneespur im Hellenritterli. Ein real existierendes Heimatversteck.

Wenn mich jemand fragen würde, ob die Schweiz, wo ich nun seit 35 Jahren lebe und arbeite, meine Heimat geworden ist, so müsste ich antworten: Fragt mich etwas weniger Kompliziertes. Denn Heimat ist eine psychologische Foto-Collage, es sind Bilder einer langen Reise. Eine Tankstelle und ein Supermarkt in Zürich-Affoltern sind mir kaum heimatlicher als ebensolche in Frankfurt oder Mailand. Und von den acht Millionen Einwohnern der Confoederatio Helvetica sind es ja nur ein paar Dutzend, die ich persönlich zu kennen vermute. Im Umgang mit ihnen gibt es wohl eine Wärme, die in kalten Zeiten Synonym für Heimat sein kann. 

Aber menschliche Beziehungen können zerrütten, daher halten manche Leute sicherheitshalber auch Ausschau nach einer Heimat aus weniger verderblichen Bestandteilen. Zum Beispiel Willisauer Ringli, Glarner Schabziger oder Petite Arvine. Für mich ist Bürlibrot eine Heimatkomponente. In Deutschland, wo ich geboren bin, gibt es bis heute kein rechtes Bürlibrot.

Heimat im 15er Tram

Bei dem Versuch, die cerebrale Bilderwelt unter dem Suchbegriff «Heimat» zu durchforsten, taucht mir unversehens das blaue Züri-Tram auf. Im 15er Tram sitzen und sehen, wie draussen Limmatquai und Grossmünster vorbeifahren, auch das ist wohl ein Lebensgefühl, welches Heimat herstellt. Das Tram mag in Basel grün oder in Bern rot sein, für Heimat gibt es keinen Dresscode. Moritz Leuenberger nannte in dem Zusammenhang einmal das gelbe Postauto.

Der Schriftsteller Pedro Lenz sagt in einem Interview, für ihn sei Heimat immer auf einer Fläche wie Langenthal: «Einer Fläche, die ich zu Fuss umkreisen kann».

Eine Nation ist dagegen eine grössere Sache. Kann eine Nation Heimat sein? Und was ist überhaupt eine Nation? Eine Gruppe von Menschen, die durch einen gemeinsamen Irrtum hinsichtlich ihrer Abstammung und eine gemeinsame Abneigung gegen ihre Nachbarn vereint sind, schrieb einmal ein Soziologe. Der Satiriker Volker Pispers drückt es so aus: «Ich bin mit meinem bisschen Menschsein derart ausgelastet, zum Deutschsein komme ich ganz selten.» 

Für einen Deutschen und speziell einen Abgeordneten einer Partei, die sich «Piratenpartei» nennt, kein erstaunliches Statement. Die sind wohl eher in der Karibik beheimatet, denkt man unwillkürlich. Aber auch für Schweizerinnen und Schweizer ist die Sache bisweilen unübersichtlich. Max Frisch fragte in seiner berühmten Rede zur Verleihung des Schiller-Preises: «Hat man Heimat nur, wenn man sie liebt? Und wenn sie uns nicht liebt, haben wir dann keine Heimat? Was muss ich tun, um eine Heimat zu haben, und was vor allem muss ich unterlassen?» Er ahnte wohl etwas von Vorgängen, die später als Fichenskandal bekannt wurden. 

«Deutschland hat ewigen Bestand, es ist ein kerngesundes Land! Mit seinen Eichen, seinen Linden, werd ich es immer wiederfinden», dichtete Heinrich Heine. Er konnte nicht wissen, dass hundert Jahre und zwei Weltkriege später nicht mehr viel übrig war vom kerngesunden Land der Eichen und Linden. Zumindest in Berlin lagen die Linden unter Bombenschutt. Die Nationalsozialisten wollten aus der «Heimat» ein ideologisch desinfiziertes Reich machen, in dem alle ausgeschlossen und verfolgt wurden, die nicht dazugehören sollten. 

In Deutschland darf man wieder Heimat sagen

Das erklärt die bundesdeutsche Sprachregelung nach 1945. Wörter wie «Volk» und «Heimat» waren in Deutschland so stark historisch kontaminiert, dass sie vor allem im linken Spektrum augenblicklich ein Sträuben der Nackenhaare hervorriefen. Mit dem Aufstieg rechtsgerichteter, globalisierungskritischer und nationalkonservativer Kräfte in Europa und in den USA sind jedoch felsenfeste Haltungen ins Wanken geraten. Mit einem Mal haben auch Sozialdemokraten, Christdemokraten und liberale Intellektuelle die Heimat ganz oben in der Agenda. Deutschlands Innenministerium wurde umgetauft in «Ministerium des Inneren, für Bau und Heimat». Kanzlerin Angela Merkel verlas 2018 vor dem Bund der Vertriebenen eine Grussbotschaft von Papst Franziskus: «Der Sehnsucht der Menschen nach Heimat, nach Geborgenheit und Überschaubarkeit Raum zu geben, ist eine Grundaufgabe jeder Politik.» 

«Eure Heimat ist unser Albtraum»

Aus dem Spektrum der Woke-Bewegung ertönen wütende Reaktionen auf den neuen Heimat-Hype der etablierten Parteien. «Eure Heimat ist unser Albtraum», heisst ein Buch, das von Fatma Aydemir und Hengameh Yaghoobifarah herausgegeben wurde. Da wird die These aufgestellt, wer von Heimat rede, habe meist Ausgrenzung und Fremdenhass im Sinn: «Heimat hat in Deutschland nie einen realen Ort, sondern immer schon die Sehnsucht nach einem bestimmten Ideal beschrieben: einer homogenen, christlichen, weissen Gesellschaft, in der Männer das Sagen haben, Frauen sich vor allem ums Kinderkriegen kümmern und andere Lebensrealitäten schlicht nicht vorkommen.»

Es geht also um die bekannte Kampfansage an böse, alte, weisse Männer. Sozialdemokraten und Grüne lassen sich indessen nicht erschüttern von solchen Attacken. Ihr Wording heisst: «Wir dürfen den Rechten nicht die Heimat überlassen.» Ein sehr zweifelhaftes Argument. Die Beschwörung eines Ortes, an dem ein Mensch Geborgenheit und kulturelle Orientierung sucht, ist ein Topos, der durch alle Völker und Jahrhunderte geht. Von der Wolga bis zum Rio Grande, von den Don Kosaken bis Dolly Parton oder Mercedes Sosa. Mit linker oder rechter Politik hat das im Prinzip wenig zu tun. Die Sache wird erst politisch, wenn sie von der einen oder anderen Seite für manipulative Zwecke gebraucht wird. 

Der tschechoslowakisch-britische Soziologe Ernest Gellner, der durch seine Studien zum Begriff der Nation bekannt wurde, sagte einmal: «Ich hätte wohl kaum ein derartiges Buch über Nationalismus schreiben können, wenn ich nicht in der Lage wäre, mit Hilfe von ein wenig Alkohol über Volkslieder zu weinen.» 

Jodeln und Zitherspiel

Mir geht es ähnlich. Ich sehe die Sendung «Musikantentreffen im Bregenzer Wald» oder höre Lieder von Nadja Räss und bin gerührt. Und frage mich, was die Freude an Zitherspielern und Jodlerinnen mit Fremdenhass und Ausgrenzung zu tun hat. Die Antwort heisst: Gar nichts. In der Populärkultur ist eine enorme Renaissance von Brauchtum und Tradition zu beobachten. Sendungen wie die Landfrauenküche, Mini Schwiiz dini Schwiiz oder Übertragungen von Schwingfesten würden wohl längst eingestellt, wenn beim Publikum kein Interesse bestünde.

Es kann kein Zweifel bestehen, dass die Globalisierung eine Gegenbewegung erzeugt. Der französische Sozialwissenschafter Régis Debray vertrat in seinem Vortrag «Eloge des Frontières» in Tokio schon 2010 die These,  die Globalisierung erzeuge eine Balkanisierung. Je mehr man Grenzen abschaffe, umso mehr wachse das Bedürfnis nach neuen kulturellen und politischen Abgrenzungen. 

Im Februar 2018 erschien in der New York Times ein Aufsehen erregender Gastkommentar mit dem Titel «Why the World Should Learn to Say Heimat». Der deutsche Publizist Jochen Bittner, Mitarbeiter des Wochenblattes Die Zeit, vertritt darin die Meinung, eine gewisse Dosis an Heimat täte nicht nur Deutschland gut, sondern hätte wohl auch dazu beitragen können, die gesellschaftliche Kluft zu vermeiden, die sich in den USA und Grossbritannien auftat: «Heimat ist what Trump voters and Brexit supporters long for, and what they accuse their political elites of abandoning.» Das deutsche Wort Heimat sei nicht übersetzbar ins Englische oder Französische, es beschreibe keinen geographischen Ort, sondern eine Zugehörigkeit. Es sei das Gegenteil von «sich fremd fühlen». Heimat bedeute soziale Geborgenheit und sei ein Schutzschild gegen Globalisierung und chaotische Welt.

Heimat kann da sein, wo es weh tut

Selbstverständlich ist Heimat nicht zwangsläufig Herkunft und Heimatort, und manchmal war das sprichwörtliche «Heimetli» ein psychisches und physisches Ödland, von dem nur Flucht nach draussen befreien konnte. In den siebziger Jahren war unter einigen Schweizer Intellektuellen der «Diskurs in der Enge» angesagt. Man wollte weg aus der vermeintlichen schweizerischen Beschränktheit in die kulturelle Weite, nach Paris oder New York.

Ein Heimetli trägt die Heimat im Namen.

In Deutschland war die Sache gravierender. Der Kanzler Helmut Kohl prägte das Schlagwort von der «Gnade der späten Geburt». Damit war wohl gemeint, dass die spät Geborenen keine Mitläufer oder Täter im Hitler-Staat werden konnten und somit entlastet seien. Von dieser Gnade habe ich wohl nur eine sehr geringe Dosis mitbekommen. Ich bin nach Kriegsende auf die Welt gekommen, als in meinem Elternhaus an der Mosel noch französische Soldaten in Gruppenstärke einquartiert waren, und merkte spätestens als Teenager, dass man nicht nur die Heldenmythen, sondern auch die Straftaten seines Mutter- und Vaterlandes erbt. Als Bub erlebte ich, dass meine Eltern an der Nordsee keine Unterkunft fanden, weil die Holländer Deutschen ungern Hotelzimmer vermieteten. Und als ich später an einer französischen Ecole Normale unterrichtete, nahmen mich die Kollegen einmal zu einer Dégustation mit, wo ich ein paar Flaschen Côtes du Jura erstehen wollte. Als der Winzer hörte, ich sei Deutscher, sagte er: «Je ne vends pas de vin aux boches.»

Natürlich wusste ich, was deutsche Besatzungstruppen angerichtet hatten. Es war kein gutes Gefühl. Aber man war jung, man suchte sich Heimat-Substitute. Die sogenannten 68er Studenten wollten nicht Deutsche sein, sondern lieber «Internationalisten»: ideologische Milizionäre der Ho Chi Minh und Che Guevara. Die armen Länder der Peripherie, die die Kolonialherrschaft abschüttelten, wurden farbenprächtige Projektionsfläche und Heimatersatz.

Auch Mundart ist eine Heimat

Marc Trauffers Lied «Heitere Fahne» stand lange ganz oben in der Hitparade:

«I däm Ort woni wohne git me enanger no d Hand. Problem löst me hie, i däm me red mitenand.

Abgmacht isch abgmacht, und e Handschlag dä zeut. Und säälte biist eine, wo luut ume bällt.»

Der Mann war vor Corona mit drei Sattelschleppern und einer Crew von hundert Leuten unterwegs und konnte jedes Wochenende Eisstadien füllen. In einer Zeit immer schnelleren Wandels und Unsicherheit der Lebensentwürfe wächst das Bedürfnis nach Loyalität und Stabilität als Massstäbe sozialen Handelns. Nichts anderes drückt das Lied aus. Wer würde sich nicht nach einem Ort sehnen, wo ein Versprechen und ein Handschlag noch zählen?

Der belgische Liedermacher Jofroi erzählt in seinem Lied «L’été en France», wie er im Sommer nach Frankreich reist und die Schönheit der französischen Campagne mit ihren Weinbergen und alten Schlössern erlebt. Um dann zu gestehen, er habe nur ein Land erfunden, in dem er glauben könne, er sei zuhause:

«Au fond, j’ dis ça, c’est pour causer. 

Chaque année je pars comme toi,

dans un pays que j’ai inventé 

où j’essaie de croire que je suis chez moi.»

Heimat, das sind immer auch Bilder, die man in sich trägt.

Was mir am Ende heimatlich zugehörig bleiben wird, ist das dramaturgische Flickwerk der Erinnerungen und Träume, das Heimat wohl immer sein wird. Vielleicht eine alte Scheune im Schnee, die Wintersonne auf dem Holz. Der Traubengeruch in der Weinlese im Herbst. Ein Kanu auf der Aare im Sommer oder eine Skispur im Hellenritterli. Aber wo das ist, wird nicht verraten. Es ist ein real existierendes Heimatversteck.

Vor einiger Zeit las ich eine Zeitungsanzeige: «54j. Frau sucht Frau für am Nachmittag zum Spazierengehen, Kaffee trinken und Plaudern.» 

Eine Anzeige, die einen wie mich verstört und traurig macht. Nun mögen zwar manche sagen, es sei immer noch besser, in der Schweiz zu vereinsamen, als im Sahel zu verhungern, und schliesslich gebe es ja Whatsapp. Ich aber gehöre noch zur Generation Münzfernsprecher, komme also aus einer Zeit, da die Leute noch nicht mit Robotern redeten und noch nicht rund um die Uhr virtuell kommunizierten, sondern als wirklich lebende Menschen einander begegnen mussten, um Heimat zu haben.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine.

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3 Meinungen

  • am 14.02.2021 um 12:59 Uhr
    Permalink

    Die politischen Verhältnisse und die Weltlage hat sich seit Frisch sehr stark verändert. Die Situation der Medien auch mit Internet und angeblich sozialen, alternativen oder freien Medien und der Politik haben sich seither dramatisch noch mehr verschlechtert. Frischs Worte über ‘Heimat’ behalten im Wesentlichen weiterhin seine Gültigkeit. Sie beinhalten in der Schweiz und noch mehr in Deutschland von allen Seiten Verbotenes: Selbstkritik, Hinterfragen, in Frage stellen.
    Meinungsfreiheit wird von den Medien (allen) ebenso vorgetäuscht wie von der Politik und ihrem Umfeld, gibt es in Wirklichkeit nicht. Konstruktive Veränderungen werden von den Einen wie die Anderen verhindert. Warum? Die Antwort darauf ist nur allzu leicht!

    Mas Frisch – Die Schweiz als Heimat? (Rede)
    https://www.youtube.com/watch?v=LnPLKQWbdFI

  • am 14.02.2021 um 14:00 Uhr
    Permalink

    Grossartiges Essay voller Poesie ! Chapeau Helmut Scheben !

  • am 15.02.2021 um 11:34 Uhr
    Permalink

    Treffend beschrieben. Für mich ist die Heimat dort wo ich mich wohl fühle. Nachdem ich schon in der Karibik, in der USA und in der Schweiz gelebt habe, weiss ich, dass es erhebliche Unterschiede der Wahrnehmung von Heimat gibt. Wie fest man verwurzelt ist, hat auch etwas mit dem sozialen Umfeld und vor allem dem Wohlstand zu tun. Viele die aus wirtschaftlichen Gründen zu Nomaden werden, sehnen sich früher oder später wieder zurück in ihre ursprüngliche Umgebung, wenn dort auch nicht alles perfekt war.
    In unserer kurzen Lebensspanne dürfen wir nicht zu hohe Erwartungen haben, ein bisschen Demut ist angebracht. Geniessen wir die kurzen Momente des Glücks, so wie die Geburt der Kinder, schöne Landschaften, (die es auf der ganzen Welt gibt) unsere kleine Fluchten in Traumwelten, wie Musik ,fremde Kulturen und Gespräche mit interessanten Menschen (unabhängig der Ethnien, wirtschaftlicher Kraft und Staatsangehörigkeit)

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