Kommentar

Nicht Freiheit, sondern Dummheit

Heribert Prantl © Sven Simon

Heribert Prantl /  Keine Angst zu haben ist kein Zeichen von Freiheit. Nur der Dumme kennt keine Angst. Denn er hat zu wenig Fantasie.

An den Pfingsttagen habe ich irgendwo im Radio einen hehren Satz über die Freiheit gehört. Es war wohl eine Sendung über den Ukraine-Krieg und seine nuklearen Risiken. «Freiheit», so hiess es da, «Freiheit, das heisst: keine Angst haben, vor nichts und niemandem.» Keine Angst vor nichts und niemandem zu haben ist aber nicht die Beschreibung von Freiheit, sondern die Beschreibung von Dummheit. Der Dumme kennt keine Angst, weil er zu wenig Fantasie hat, weil er sich überschätzt oder die Wirklichkeit nicht versteht oder verstehen will. Freiheit – das heisst Angst haben, sich aber nicht von der Angst dominieren zu lassen. Dazu gehört es auch, den Realitätsgehalt der Angst zu prüfen und den Gefahren ins Auge zu sehen. Die Gefahr einer atomaren Eskalation als Ziererei und Zauderei abzutun ist aber weder ein Ausdruck von Freiheit noch von Verantwortung.

Als nach dem Zweiten Weltkrieg der Kalte Krieg und das neue Wettrüsten begannen, hat Bert Brecht versucht, dagegen anzuschreiben. Sein Schreiben hatte Kraft, aber wenig Wirkung; die Aufrüstung konnte er nicht aufhalten. «Das grosse Karthago», so schrieb er 1951, «führte drei Kriege. Es war noch mächtig nach dem ersten, noch bewohnbar nach dem zweiten. Es war nicht mehr auffindbar nach dem dritten.» Das klingt agitatorisch, ist aber die Wahrheit. Und im Ernst der Lage ist Agitation besser als Apathie. Europa erginge es in einem Dritten Weltkrieg so wie Karthago, schlimmer noch; die apokalyptischen Reiter sind nämlich heute atomar bewaffnet.

Der Mann, der den Dritten Weltkrieg verhindert hat

Mir sind die Zeilen von Brecht eingefallen, als ich in meinem Kalender unter dem Datum vom 21. Mai einen Eintrag las, den ich mir im vergangenen Jahr bei meinen Recherchen für mein neues Buch («Den Frieden gewinnen») gemacht hatte. Der Kalendereintrag verweist auf den Weltbürgerpreis, den der frühere sowjetische Oberstleutnant Stanislaw Petrov vor 20 Jahren für die Verhinderung des Dritten Weltkriegs erhalten hat. Darüber schreibe ich in meinem SZ-Plus-Text: Wer als Erster schiesst, der stirbt als Zweiter (Bezahlschranke).

Petrov war am 26. September 1983 der diensthabende Sowjet-Offizier im Kommandobunker der sowjetischen Luftverteidigungsstreitkräfte. Er entschied damals, das sowjetische Frühwarnsystem zu ignorieren, welches fälschlicherweise fünf sich nähernde amerikanische Atomraketen anzeigte. Ob eine KI auch die Nerven behalten hätte? Der Fehlalarm war durch einen Satelliten ausgelöst worden, der aufgrund einer fehlerhaften Software den Sonnenaufgang und Spiegelungen in den Wolken als Raketenstart in den USA interpretiert hatte. In Oberhausen, wo sich Freunde von Petrov um das Angedenken an ihn besonders kümmern, stehen Gedenktafeln in drei Sprachen. Die Inschrift lautet: «Wäre er den Computermeldungen gefolgt, wäre der sofortige atomare Gegenschlag erfolgt und damit der Tod von Millionen Menschen in den USA, in Europa und Russland die Folge gewesen.»

Ich mag diese Geschichte sehr. Sie zeigt, was ein Einzelner vermag. Heute ist nun der Tag, über den schon so viel geschrieben wurde: Das deutsche Grundgesetz wird 75 Jahre alt. Beglückwünschen wir uns dazu, dass wir es haben.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Dieser Kommentar des Kolumnisten und Autors Heribert Prantl erschien zuerst als «Prantls Blick» in der Süddeutschen Zeitung.
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2 Meinungen

  • am 23.05.2024 um 12:27 Uhr
    Permalink

    «Europa erginge es in einem Dritten Weltkrieg so wie Karthago.» Russland erginge es ähnlich, übrig bliebe Amerika. Vielleicht noch China. Zufall oder Absicht?

    • am 24.05.2024 um 08:15 Uhr
      Permalink

      Amerika würde es genauso treffen wie den Rest der Welt. Ganz einfach, weil die Raketen jeweils nicht nur auf Europa zeigen. Zudem: mit wem wollten die USA denn noch handeln, wenn der Wertewesten in Schutt und Asche liegt?

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