Geschichtsklitterung und niemand hat den Autor gestoppt

An der Bändlistrasse in Zürich Altstetten springt ein Mann durch ein geschlossenes Fenster im dritten Stock und bleibt unten schwerverletzt liegen. Seine geschockten WG-Genossen raffen Geld, Waffen und Einbruchswerkzeug zusammen und fliehen. Als die Polizei eintrifft und die Wohnung durchsucht, findet sie Traktate über den bewaffneten Kampf, weitere Waffen, ein Sprengstoff-Labor und Munition. An der Wand leuchtet in roten Buchstaben ein fünfzackiger Stern mit der Unterschrift «RAF».
Jetzt läuten alle Alarmglocken: Bundespolizei, Nachrichtendienst, Kriminalpolizei – alle sind involviert. Das geschah am 24. April 1972.
Bereits am 10. August 1972 erhielt der Bundesrat einen ausführlichen Bericht der Bundesanwaltschaft über die «Aushebung einer anarchistisch-revolutionären Gruppe in Zürich».
Fazit: «In der Folge erwiesen sich C.M. neben T.L. (beide anonymisiert) als die eigentlichen Schlüsselfiguren (…), die sich an der «Bändlistrasse» (…) zusammenfanden. (…) C.M. unterhielt Beziehungen zur Baader-Meinhof-Bande.»
C.M. ist im gesamten Aktenbestand «Bändlistrasse» im Schweizer Bundesarchiv die zentrale Figur, er erscheint immer und immer wieder als wichtiger Verbindungsmann zur deutschen Baader-Meinhof-Gruppe, auch «Rote Armee Fraktion» (RAF) genannt.
Hinweis in eigener Sache
Die nachfolgenden Sachverhalte sind ein Zufallsfund. Ich erforsche im Auftrag des Vereins «Ortsgeschichte Küsnacht» einen Waffendiebstahl mit anschliessender Brandlegung im September 1974. Für das lokale «Küsnachter Jahrheft». Wegen einer Sprayinschrift «Waffen für die RAF» am Tatort ermittelte damals die Polizei im sogenannten Kommunenmilieu in Zürich. Ziel laut Ermittlungsakten: «Bändlistrasse und C.M.».
Diese Akten veranlassten mich, das Buch «Bändlistrasse» des Tamedia-Redaktors Andreas Tobler («Echtzeit»-Verlag, 2022) für die Recherche heranzuziehen. Das Buch ist in weiten Teilen eindrücklich: Es schildert die Stimmung jener Jahre, die Empörung über die Zustände in Erziehungsheimen und die damalige Rebellion einer jungen Generation gegen staatliche Eingriffe.
Grundsätzliche Fragen
Toblers Buch verdient aber nicht nur Lob. Wenn Geschichte dargestellt wird, stellt sich jedem Historiker und Journalisten die Frage: Welches Ereignis wählt man aus, welche lässt man weg? Wer aber wissentlich zentrale Elemente bei der Darstellung eines Sachverhalts weglässt, gerät unweigerlich in den Verdacht der Geschichtsklitterung.
Dies ist bei Toblers Buch der Fall. Der Autor schildert darin die Zürcher Kommune «Bändlistrasse» – jene Gruppierung, die Anfang der 1970er-Jahre in Kontakt mit der RAF stand.
Gewaltbereite WG
Die Kommune «Bändlistrasse» sah damals nur einen Ausweg, um die angeblich katastrophalen Zustände in der Schweiz zu verändern: Den bewaffneten Kampf gegen den Staat. Das grosse Vorbild: «Rote Armee Fraktion». Und so bewaffnete sich die Kommune «Bändlistrasse» heimlich, experimentierte mit Sprengstoff und plante Raubüberfälle.
Schlüsselfigur C.M.

C.M. wohnte nicht in der Kommune, aber gehörte zum engeren Umfeld. Er wird im gesamten Aktenbestand «Bändlistrasse» im Bundesarchiv als zentrale Figur geführt, er erscheint immer und immer wieder als wichtiger Verbindungsmann zur deutschen RAF.
Auch «Bändlistrasse»-Autor Tobler bezieht sich auf diesen Aktenbestand. Das Bild auf dem Buchumschlag zeigt sogar das Waffenversteck von C.M. im zürcherischen Weiningen. Doch C.M. kommt in Toblers Buch nie vor. Die zweite Schlüsselperson, T.L., hingegen ist erwähnt. Ihn anonymisiert Tobler als «Psychologiestudent».
Unverständliche Auslassung
Diese Auslassung erstaunt, und es stellt sich die Frage: Aus welchen Gründen wird die in den Akten belegte Person C.M. im Buch nicht berücksichtigt?
Der «Tagesanzeiger» schreibt zum Buch, sein Redaktor Tobler habe «Tausende von Aktenseiten» durchforstet. Und der «Echtzeit»-Verlag betont, Tobler habe «akribisch recherchiert» und zeige auf, «ob die Schweizer Linke tatsächlich bereit war, in einen bewaffneten Kampf zu ziehen. Und welche Rolle dabei die Kontakte zur RAF spielten».
Bei den Schweizer Kontakten zur RAF fokussiert Tobler auf eine Person: den damals prominenten Journalisten Rolf Thut. Dieser habe die RAF-Mitglieder Andreas Baader, Gundrun Esslin, Jan-Carl Raspe und andere mehrmals getroffen. Dies beschreibt der Autor mit vielen Details.
Was er unterschlägt: Rolf Thut reiste wiederholt zusammen mit C.M. zu RAF-Treffen. Zum Beispiel am 11. März 1972. Und wenige Wochen später nochmals, am 15. April 1972. Insbesondere letztere Reise zeigt: C.M. war für die RAF weit wichtiger als Thut.
Der Waffenlieferant

C.M. lieferte der RAF, so die Akten im Bundesarchiv, Waffen. Und zwar nicht irgendwelche Waffen, sondern: «3 Schrotgewehre, die er in Kriegswaffen umänderte, indem er die Läufe um ca 40 cm verkürzte». C.M. sagte damals aus:
«Baader hatte die Absicht, die verkürzten Schrotgewehre unterhalb des Armaturenbrettes mit Klammern zu befestigen, dass sie mit einem Handgriff behändigt und sofort eingesetzt werden können.»
C. M. war also jener Schweizer, der «bereit war in einen bewaffneten Kampf zu ziehen». Verglichen mit ihm war Rolf Thut ein harmloser Ideologe, bekannt für seine pointierten 1.-Mai-Reden. Aber kein Mann, der wie C.M. «die ehemaligen Jagdgewehre abänderte, die Fabriknummern ausschliff, sodass sie nicht mehr als Jagdwaffen, sondern als Kriegsmaterial betrachtet werden müssen» – so die Stadtpolizei Zürich.
Die «Mai-Offensive»
Die Waffen und Munition (unter anderem «1000 Projektile Kal 45, 444 Patronen Kal 7,65, 200 Schrotpatronen selbst hergestellt» – so die Ermittlungsakten), die C.M. an Andreas Baader übergab, waren also alles andere als harmlos. Und die Baader-Meinhof-Gruppe, startete wenige Tage später eine brutale Anschlagsserie, die sogenannte «Mai-Offensive». Diese forderte vier Todesopfer und zahlreiche Schwerverletzte. Hauptziele waren Stützpunkte der US-Armee in Deutschland, Auslöser die amerikanische Offensive in Nordvietnam.
Kurz danach verhaftete die Polizei Andreas Baader bei einem Schusswechsel. Tage zuvor wurde C.M. in Zürich festgenommen und intensiv einvernommen. Seine Aussagen und die Fotos der beschlagnahmten Waffen liegen im Bundesarchiv-Bestand, der wie erwähnt unter anderem Grundlage für Toblers Buch bildete.
Der Stammheim-Prozess
Wenige Jahre später bot die deutsche Staatsanwaltschaft C.M. als einzigen Schweizer für den Prozess gegen Baader und Co. als Zeuge auf. Er lehnte das Aufgebot zwar ab. Immerhin reisten zuvor aber zwei deutsche Ermittler eigens nach Zürich, um ihn ausführlich zu vernehmen. Nicht etwa Rolf Thut, den Autor Tobler als einzigen wichtigen Schweizer RAF-Kontakt aufführt, sondern C.M. interessierte die deutsche Staatsanwaltschaft.
Toblers Buchverlag «Echtzeit» verspricht Aufklärung über Verbindungen der Schweizer Linke zur RAF. Doch weshalb kommt der wichtigste Schweizer RAF-Kontaktmann im Buch nicht vor?
Toblers Auslassung verändert die Wahrnehmung der geschichtlichen Ereignisse. Aus welchen Gründen fehlt C.M. in der Darstellung, obwohl er in den offiziellen Ermittlungsunterlagen mehrfach als zentrale Figur erwähnt wird?
Der Verlag spurt
Verleger und Lektor Markus Schneider vom «Echtzeit»-Verlag gibt zuerst offen Auskunft:
«Uns war der Sachverhalt bekannt und wir haben mit Andreas Tobler offen diskutiert. Am Ende jedoch haben wir als Verlag den Wunsch des Autors respektiert.»
Nach Angaben Schneiders hat Tobler also bewusst unterschlagen, dass C.M. die Schlüsselperson war. Und der Verlag willigte ein.
Offene Fragen
Warum also wollte Tobler den wichtigsten Schweizer RAF-Kontakt im Buch mit dem Untertitel «RAF, LSD, PKO und TNT» nicht erwähnen?
Tobler selbst antwortet zuerst, er habe keine Zeit, auf solche Anfragen zu antworten. Später ergänzt er, er habe sich in seinem Buch auf die Mitglieder der «Bändlistrasse»-Kommune konzentriert. Auf die Nachfrage, weshalb er dann Rolf Thut erwähne, ebenfalls kein Mitglied der Bändlistrasse, droht der «Tagesanzeiger»-Redaktor mit rechtlichen Schritten: «Wie im Telefonat festgehalten, bleibt es bei meiner Stellungnahme von heute 13.35 Uhr. Weitere Äusserungen dürfen nicht zitiert werden.»
In der Stellungnahme verweist er auf Persönlichkeitsrechte von C.M., weshalb er auf dessen Erwähnung verzichtet. Darüber, dass er im Buch aber die andere Schlüsselperson, nämlich T. L., prominent erwähnt – einfach anonymisiert als «Psychologiestudent» – will sich Tobler nicht äussern. Er habe keine Zeit, auf die Frage zu antworten.
Weshalb benutzte er nicht einfach die Initialen der Schlussfigur?
In Buchrezensionen der «Bändlistrasse» vor drei Jahren wird die merkwürdige Entscheidung des Autors, die zentrale Figur wegzulassen, zwar erwähnt, aber überraschend kurz und milde kritisiert.
Vollmundiges Marketing

Der «Tagesanzeiger» kündete das Buch als «exklusive Recherche» an – begleitet von einem Podium am 9. Mai 2022 im Zürcher Restaurant Kaufleuten, moderiert vom damaligen Co-Chefredaktor und heutigen Ressortleiter Mario Stäuble. Präsentiert werde «ein Stück Schweizer Geschichte, das bisher gerne beschönigt und verschwiegen wurde». Um dann selbst ein Buch vorzustellen, in dem die Schlüsselfigur verschwiegen wird. Wie geht das zusammen?
Mario Stäuble erklärt zu Toblers Auslassung zuerst, er werde Tobler damit konfrontieren. Doch dann kommt die Antwort: «Ich verzichte auf eine Stellungnahme. In das Projekt war ich nicht involviert, ich habe lediglich die Veranstaltung im Kaufleuten organisiert.»
Wusste Stäuble auf dem Kaufleuten-Podium von Toblers Auslassung? Wusste er um die Schlüsselrolle von C.M. bezüglich RAF? Wusste er von dessen bewusst tolerierter Unterschlagung durch Tobler und den «Echtzeit»-Verlag? Auf diese schriftlichen Fragen reagiert Chefredaktor Stäuble nicht mehr.
Fazit
Dass Autoren bei der Auswahl ihres Materials Schwerpunkte setzen, ist selbstverständlich. Doch angesichts der zentralen Rolle von C.M. – durch die einschlägigen Bundesarchiv-Akten bestens dokumentiert – stellt sich Frage: Ist diese Auslassung legitim oder handelt es sich um Geschichtsklitterung? Einfach die Schlüsselperson der Schweizer RAF-Kontakte unterschlagen – ist das salopp gesagt: Fake News?
Der verantwortliche Verleger und Lektor Markus Schneider, der Toblers Auslassung schlussendlich genehmigt hat, reagiert empfindlich und droht ebenfalls mit rechtlichen Schritten: «Ihr Vorwurf ‹Geschichtsklitterung› ist deplatziert, eine Absicht zur Verfälschung hatte und hat unser Verlag nie.»
Eine zentrale Figur absichtlich ausklammern? Und gleichzeitig betonen, so der «Tagesanzeiger», man enthülle «ein Stück Schweizer Geschichte», das «bisher gerne beschönigt und verschwiegen wurde»? Eine eigenartige Auffassung von Geschichtsschreibung.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. Hansjürg Zumstein ist mehrfach preisgekrönter Journalist und Historiker. Bis zu seiner Pensionierung Ende 2023 arbeitete er für die SRF-Redaktion Dokumentarfilme. Seither recherchiert Zumstein unabhängig historische Themen.
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.









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