Kommentar

Fragwürdige Armenien-Resolution des Bundestages

Helmut Scheben © zvg

Helmut Scheben /  Kann ein Parlament per Resolution historische Wahrheiten festlegen? Eine zweifelhafte Vorstellung. Aber es ist gängige Praxis.

(Red. Der hier folgende Kommentar beschäftigt sich nicht mit der Frage, ob die Türkei in Armenien Genozid verübt hat oder nicht. Es geht dem Autor um die Frage, wer für eine abschliessende Beurteilung eines historischen Geschehens überhaupt zuständig sein kann.)

Das deutsche Parlament hat am 2. Mai 2016 mit grosser Mehrheit die Armenien-Resolution verabschiedet. Darin werden die Vertreibung und die Massaker an Armeniern und anderen christlichen Minderheiten in den Jahren 1915/1916 als Genozid erklärt.

«Wir sitzen hier nicht zu Gericht», sagte der SPD-Abgeordnete Dietmar Nietan. «Das ist keine Anklageschrift, sondern eine Verneigung vor den Opfern.»

29 Länder mit ähnlichen Beschlüssen

Schon dieser Satz zeigt, dass da hinter dem forschen Diskurs einige Zweifel nisten. Man mag noch so heftig beteuern, es gehe nicht um ein Urteil. Eine Resolution, in der es schon in der Überschrift heisst «Erinnerung und Gedenken an den Völkermord an den Armeniern», ist ein Urteil über ein historisches Ereignis, nicht mehr und nicht weniger.

Gestützt auf derartige Beschlüsse – bislang haben 29 Länder der Welt einen Völkermord an den Armeniern anerkannt – könnten die Nachkommen der betroffenen armenischen Familien und anderer christlicher Minderheiten möglicherweise die Forderung nach Entschädigung erheben. Wieviel Jahrhunderte rückwärts ist ein Staat zur Entschädigung verpflichtet? Welche Rolle spielte das Deutsche Reich bei der Vertreibung der Armenier?

Allein diese Fragen geben eine Vorstellung von dem völkerrechtlichen Glatteis, welches man da betritt. Es ist daher nur allzu verständlich, dass man sich im deutschen Bundestag nach Kräften bemühte, von einem «reinen Akt des Gedenkens» zu reden.

Das ist formal in Ordnung, denn selbstverständlich ist ein Parlament kein Gericht, welches Urteile zu fällen hätte. Aber selbst wenn ein Parlament Justizaufgaben hätte, gilt die Regel: Gerichte haben die Wahrheit über konkrete Straftaten zu suchen, nicht aber die Wahrheit über historische Ereignisse, die 100 Jahre zurückliegen. Letzteres ist Sache der Historikerinnen und Historiker.

Historische Einschätzung ist nie abgeschlossen

Dabei gilt grundsätzlich, dass historische Forschung nie abgeschlossen ist. Sie ist ein Diskussionsprozess, der über Generationen weitergeführt wird. Jede Generation hat ihre eigene ideologische Optik beim Betrachten des Vergangenen. In diesem Diskussionsprozess muss stets von neuem der letzte Stand des quellenkundlich Begründbaren verhandelt werden. Die Bewertung eines bestimmten historischen Geschehens hat sich oft innerhalb von wenigen Jahrzehnten ins Gegenteil verkehrt.

Daher ist es absurd, eine «historische Wahrheit» per Beschluss festlegen zu wollen. Man wolle «nicht den moralischen Zeigefinger erheben, sondern Geschichte aufarbeiten», betonte Cem Özdemir, Chef von Bündnis90/Die Grünen, in seiner Rede vor dem Bundestag. Und genau da unterliegt er einem grossen Irrtum. Es ist nicht Aufgabe und liegt nicht in der Kompetenz des deutschen Parlamentes, Geschichte aufzuarbeiten und Urteile über historische Ereignisse zu fällen. Ob 1915 ein Völkermord stattgefunden hat oder nicht, möchte ich jedenfalls nicht vom deutschen Bundestag erfahren, sondern von der historischen Forschung.

Erdogans erster kleiner Schritt

Solche grundsätzlichen Überlegungen sind aber in den deutschsprachigen Medien – soweit ich sie momentan überblicke – keiner Rede wert. Stattdessen wird ausgiebig darüber spekuliert, ob es politisch vernünftig ist, die Resolution in einem Moment zu verfassen, da die Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei wegen der Flüchtlingskrise extrem angespannt sind.

Immerhin hat Recep Tayyip Erdogan 2014 als erster türkischer Staatspräsident dem armenischen Volk sein Beileid für «das Leiden» ausgesprochen und damit einen ersten kleinen Schritt getan in Richtung auf eine schwierige Aufarbeitung der Vergangenheit. Ob der deutsche Bundestag mit seinem Beschluss, «Fakten zu schaffen», dieser Aufarbeitung förderlich ist, darf in Frage gestellt werden.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Helmut Scheben war von 1993 bis 2012 Redaktor und Reporter im «Schweizer Fernsehen» (SRF), davon 16 Jahre in der «Tagesschau». Dieser Kommentar erschien zuerst auf journal21.ch

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3 Meinungen

  • am 6.06.2016 um 20:32 Uhr
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    Ausgezeichnete Analyse!
    Mir scheint es hier eher um eine PR Angelegenheit zu gehen, in welcher der deutschen Bevölkerung suggeriert werden soll, dass Deutschland nicht vor der Türkei kuscht. Gleichzeitig sind die wichtigen Parlamentarier der Sitzung fern geblieben, so dass jene nicht direkt mit dem Beschluss in Verbindung gebracht werden und später wieder mit der Türkei Flüchtlingsverhandlungen, o.ä. führen können. Erdogan zieht den Botschafter aus Berlin ab und spielt den ’starken Mann›, auch dies eine innenpolitische Angelegenheit.
    In naher Zukunft, wenn keiner sich kümmert (Fussball, Katastrophe, etc.) wird dann stillschweigend der Türkeideal umgesetzt auch ohne Konzessionen bezüglich Menschenrechten seitens der Türkei …

  • am 6.06.2016 um 22:24 Uhr
    Permalink

    Will der Autor indirekt sagen, dass an den Armeniern kein Völkermord stattgefunden hat? Oder kritisiert er nur den Deutschen Bundestag dafür, dass er endlich den Mut gefunden hat, diesen Entscheid zu fällen? Zur Erinnerung: Andere Länder haben diesen Schritt schon längst getan, Deutschland kam sehr spät zur Erkenntnis, dass dies ein nötiger Schritt ist. Irgendwelche Rücksichten auf Erdogan sind völlig fehl am Platz, dieser Grössenwahnsinnige erinnert an einen üblen deutschen Diktator, der 1945 Selbstmord beging, als er das 1000-jährige Reich untergehen sah. Erdogan führt in der Türkei einen brutalen Bürgerkrieg gegen die Kurden, ohne Rücksicht auf Verluste und Menschenrechte. Da ist wohl Nachsicht sehr fehl am Platz. In der Flüchtlingsfrage versucht Erdogan die EU zu erpressen, er erhebt immer neue finanzielle Forderungen. Presse und Internet zensiert er, die Justiz wird unterdrückt oder gefügig gemacht. In der Syrienfrage ist seine Rolle mehr als zweifelhaft. Kann man mit einem solchen Diktator überhaupt verhandeln? Ich meine nein.

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