Kommentar

Die ultimative Schlankheitspille

Beat Gerber © bg

Beat Gerber /  Weitere gastronomische Forschungsbefunde zum Abstimmungs-Wochenende: bravouröse Proteinspender sowie ein leckerer Apfel-Bastard.

Das Schweizer Stimmvolk entscheidet über zwei Initiativen, die das Essen betreffen. Der Abstimmungskampf dreht sich aber keineswegs um den kulinarischen Genuss, im Fokus der scharf gewürzten Diskussionen steht das (ideologische) Gewissen. Fairer Food und souveräne Ernährung sind die beiden Menüs. Nachhaltigkeit, Tierwohl, Umweltschutz, Food-Waste und höhere Bauerneinkommen servieren die Initianten als einzelne Gänge.
Für die reichhaltige politische Speisekarte mit zukunftsweisenden Zutaten schwindet jedoch die anfängliche Zustimmung. Das Volk hat Schiss vor dem eigenen Mut bekommen, ein bekanntes Phänomen. Lassen wir aber die schnöde Politik beiseite und wenden uns der lauteren Forschung zu! Wer als wissenschaftlich interessierter Flaneur von Studie zu Studie schlendert, entdeckt immer wieder gastronomisch gefärbte Befunde.
So hat der Schweizerische Nationalfonds (SNF) ganz unbemerkt eine Medienmitteilung veröffentlicht, die das kalorienarme Essen postuliert (30.08.2018). Eigentlich nichts Neues, täglich predigen dasselbe die Gesundheitsapostel. Nüsse statt Süssem, Bohnen statt Fleisch, manchmal hat man die alte Leier satt. Und dass auf Diät gesetzte Fliegen, Würmer und Fische länger leben, wissen wir schon lange.
Paradies aus dem Biolabor
Auch Mäuse werden dabei gesünder und schlanker, meldet nun der SNF. Eine Reduktion der Kalorienaufnahme um bis zu 40 Prozent lässt die Nagetiere eindeutig länger leben, ihr Blutzuckerspiegel fällt (Diabetes ade), und sie verbrennen mehr Körperfett (nieder mit dem Body-Mass-Index). Alles seit Urzeiten bekannt, die Forscher der Uni Genf liefern aber jetzt erstmals detailliert den Grund und schlagen obendrein ein neues Medikament vor. Darmbakterien sind aufgrund der Experimente für die positiven Folgen verantwortlich. Bei kalorienarmer Diät produziert die Darmflora deutlich weniger giftige Fett-Zucker-Moleküle (Lipopolysaccharide) und stärkt zudem das Immunsystem. Mit gentechnisch veränderten Immunzellen wurden bei den Mäusen die Auswirkungen der Kalorienbeschränkung simuliert.
Die Wissenschaftler frohlocken bereits, eines Tages fettleibigen Menschen ein Medikament anbieten zu können, das eine solch verminderte Kalorienaufnahme im Körper nachahmt und sämtliche damit verbundenen gesundheitlichen Verbesserungen auslöst. Die Schlankheitspille der Zukunft, kombiniert mit Anti-Aging, hat damit für die Genfer Wissenschaftler eine gentechnisch neue Stufe erreicht. Schlank und rank bleiben sowie gleichzeitig an Lebensjahren zulegen, ohne Diät und sportliche Betätigung – es winkt das Paradies aus dem mikrobiologischen Labor, ein Eldorado für Bewegungsmuffel mit happigem Appetit!
Die wahren Meister der Welt
Sie hingegen sind beileibe keine Kanapee-Kartoffeln, sondern hyperaktiv und kaum zu übersehen respektive zu überhören. Meistens unbeliebt, ja manchmal verhasst, gehören sie zu den ersten Wesen, die unseren Planeten vor über 450 Millionen Jahren bevölkert hatten. Ihr Anteil an der Biodiversität ist eindrücklich (70%), es gibt schätzungsweise 5,5 Millionen Arten davon (eine Million wissenschaftlich registriert). Überlebt haben sie sämtliche irdischen Ausrottungs-Katastrophen und sind unentbehrlich fürs Ökosystem geworden, andere Kreaturen würden ohne sie spurlos verschwinden.
Ihre Kraft ist enorm, vermögen sie doch ihr 1’000-faches Körpergewicht zu tragen (Mensch 2,7-fach); sie springen bis zu 200-mal höher als ihre Körpergrösse beträgt (Mensch 1,25-mal) und leisten Ausserordentliches hinsichtlich Architektur und Transport. Eigentlich sind sie die wahren Meister dieser Welt, ihnen gehört entsprechender Respekt. Die Rede ist natürlich von den Insekten, den lästigen Fliegen, Mücken, Schaben, Ameisen (Transportspezialisten), Termiten (wahre Baumeister) und Wespen, den sympathischen Bienen, den grauslichen Käfern (grossartige Gewichtheber), Flöhen (formidable Hochspringer) und Würmern, den lieblichen Schmetterlingen, Libellen, den zirpenden Grillen und flinken Grashüpfern.
All diese Gliederfüsser leiden unter einem schwindenden Lebensraum und dem steigenden Einsatz von Pestiziden. In Europa ist ihre Population in den letzten Jahrzehnten um 75 Prozent gesunken (Dossier im Courrier international Nr. 1450, August 2018). Und jetzt will der Mensch diese nährstoffreichen Proteinspender noch essen! Heuschrecken-Riegel, gebratene Mehlwürmer und ein Raupen-Auflauf sollen unsere Umweltethik aufpeppen. Damit wären wir wieder bei der Gewissensfrage angelangt, und es wird streng politisch.
Der gekreuzte Superapfel
Bekömmlicher als frittierte Maden ist bestimmt Ladina, die neue Schweizer Apfelsorte. Leuchtend rot, knackig-saftig und besonders wohlschmeckend soll sie sein, mit ausgewogenem süss-säuerlichen Geschmack und Litschi-Aroma. Das Wasser läuft einem im Mund zusammen. Das Forschungszentrum Agroscope ist sichtlich stolz auf seinen neuen Apfel, den es geduldig gezüchtet hat (ohne Gentechnik, nix mit CRISPR, Medienmitteilung, 12.09.2018).
Ladinas lange Forschungsgeschichte begann 1999 mit der Kreuzung zweier Sorten. Seither wurde die Frucht an mehreren Standorten im In- und Ausland erfolgreich geprüft, zudem sind alle Tests hinsichtlich Resistenzen positiv verlaufen. Ladina erweist sich als robust gegenüber der Bakterienkrankheit Feuerbrand. Der Superapfel soll jetzt gemäss Agroscope die Welt erobern, demnächst kommt er auf den Markt.
Ladina ist eine geglückte Kombination der heimischen, säuerlichen Muttersorte Topaz mit der exotischen, süsslichen Sorte Fuji aus Japan. Multikulturelle Mischlinge werden also nicht nur schöner und delikater, sie sind auch weit resistenter. Die (immigrationspolitische) Analogie sei erlaubt: Wer gegen die Durchmischung der Bevölkerung kämpft, sollte sich das Resultat der Agroscope-Apfelforschung hinter die Ohren schreiben – und möglichst bald in eine Ladina beissen. Wohl bekomms!

Weiterführende Informationen


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Der langjährige Wissenschaftsjournalist des «Tages-Anzeiger» war bis Februar 2014 Öffentlichkeitsreferent der ETH Zürich. Er publiziert heute auf seiner satirischen Webseite «dot on the i».

Zum Infosperber-Dossier:

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Beat Gerber: Tüpfelchen auf dem i

Die Welt ist Satire. Deshalb ein paar Pastillen für Geist und Gaumen.

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Beat Gerber

Der langjährige TA-Wissenschaftsjournalist und ehemalige ETH-Öffentlichkeitsreferent publiziert auf www.dot-on-the-i.ch Texte und Karikaturen. Kürzlich erschien sein erster Wissenschaftspolitkrimi «Raclette chinoise» (Gmeiner-Verlag).