Kommentar

Der Tsunami ohne Vorwarnung

Beat Gerber © bg

Beat Gerber /  Die Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Gesellschaft hat auf Sulawesi versagt. Das ist symptomatisch, so auch beim Klimaschutz.

Traumatische TV-Bilder flimmern derzeit aus Indonesien in unsere bequemen Stuben. Beispielsweise dieser Einheimische, der auf einem erhöhten Platz in der Provinzstadt Palu die anrollende Flut sieht und hilflos schreiend die Menschen unten am Ufer warnen will. Vergeblich, die tödliche Welle ergoss sich mit enormer Wucht über die Stadt mit 350’000 Einwohnern in West-Sulawesi und forderte mindestens 1’400 Tote und Hunderttausende von Obdachlosen. Das Ausmass der Zerstörung ist immens.
Auslöser des Tsunamis waren mehrere Erd- und Seebeben der maximalen Stärke 7,5. Aus welchen Gründen auch immer das Frühwarnsystem nicht funktionierte, Tatsache ist: Der Sirenenalarm, ausgelöst durch GPS-Stationen vor der Küste, die ihren Standort exakt messen, hat die betroffenen Menschen nicht erreicht. Irgendwo muss eine Kommunikationslücke geklafft haben.
Technisch o.k., aber praxisuntauglich
Das Deutsche Geoforschungszentrum (GFZ) in Potsdam, welches das indonesische Frühwarnsystem entwickelt und federführend aufgebaut hat, liess in einer Medienmitteilung lapidar verlauten: «Aus Sicht des GFZ hat das Frühwarnsystem technisch funktioniert. Etwaige Lücken in der Übermittlung der Warnung sind noch zu klären.» Die Forschenden haben sich damit aus der Verantwortung bei der Anwendung ihres Systems gestohlen.
Die Situation wirft ein grundsätzliches Problem auf und betrifft die Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Gesellschaft. Diese Verbindung hat in Sulawesi versagt. Die hochsensiblen seismischen Messinstrumente westlicher Institute rund um den Globus (z.B. an der ETH Zürich) haben die Beben vor Sulawesi bestimmt genaustens registriert. Doch die erfolgreiche Umsetzung der Messresultate in lebensrettende Aktionen blieb aus.
Wissenschaft ohne sozialen Mehrwert
Hier stellt sich der Laie die Frage, warum wir uns eine derart kostspielige Forschung leisten, die im Notfall keinen sozialen Mehrwert ausweisen kann. Dies weil das Alarmsystem offensichtlich nicht redundant war und die örtlichen Verhältnisse ausser Acht liess. Dabei geht es keineswegs um Schuldzuweisungen oder ein billiges Wissenschafts-Bashing. Viele Hilfsorganisationen, auch aus der Schweiz, sind bereits aktiv vor Ort. Das ist überlebenswichtig, humanitär und solidarisch, aber nicht ausreichend.
Die Schnittstellen-Problematik zwischen Forschung und Gesellschaft ist symptomatisch und neben der häufig aktuellen Seismik auch in anderen Wissenszweigen zu beobachten. Die Spitzenforschung mit ihren perfekt optimierten Modellen und modernsten Messinstrumenten scheitert häufig, wenn sie ihre durchaus gewichtigen Erkenntnisse für praxistaugliche Lösungen öffentlich einbringen will oder sollte, vor allem bei den grossen globalen Problemen.
Unverminderter CO2-Ausstoss
Ein weiteres Beispiel dafür ist der Klimaschutz, bei dem eine breite internationale Forschergemeinde seit Langem versucht, die Bevölkerung vor den Folgen des Klimawandels zu warnen und für griffige Massnahmen zu motivieren. Doch die politische Umsetzung stockt, trotz ausgefeilter Klimamodelle und anschaulicher Prognosen. Der weltweite Kohlendioxid-Ausstoss wächst munter weiter.
Ebenso Energie und Ernährung
Das Gleiche gilt für forschungsbasierte Konzepte bei der Energieversorgung und Ernährung, die auf eine umweltschonende, ressourcensparende Entwicklung hinzielen. Stichworte dazu sind dezentrale Anlagen für erneuerbare Energien und eine kleinbäuerliche Landwirtschaft. Hier reibt sich die Umsetzung wissenschaftlicher Resultate an gegensätzlichen, mächtigen Wirtschaftsinteressen sowie an ungünstigen, teils unfairen Handelsstrukturen. So steigt der Ressourcenverbrauch zur Produktion von Energie und Nahrungsmitteln (vor allem Fleisch) ungebremst an.
Viele Bürgerinnen und Bürger erhoffen sich Patentrezepte durch simplifizierende Welterklärer, die einen schliesslich ratlos und ohnmächtig zurücklassen. Unser Globus erweist sich bei genauem Hinsehen als vielschichtiger und facettenreicher als vordergründig angenommen. Gleichwohl sei die Frage erlaubt, warum die Nutzung der aufwendigen Wissenschaft bei gesellschaftlich relevanten und drängenden Problemen häufig versagt. Vielleicht braucht es einen Paradigmenwechsel, der Forschung und Zivilgesellschaft verträglicher miteinander verknüpft. Eine Art sozialer Wissenschaftspakt.
Facelifting für akademisches Selbstverständnis
Bei dieser Herkulesaufgabe müssten aber beide Seiten alteingesessene Sichtweisen verlassen und auch hochschulpolitische Strukturen verändert werden. Raus aus dem Elfenbeinturm! Das akademische Sozialprestige und Selbstverständnis hätten ein Facelifting nötig.
Nun, Sulawesi ist weite 12’000 Kilometer entfernt, ein exotischer, unzugänglicher Archipel, gebeutelt von Erdbeben und Vulkanausbrüchen, für einige wenige bloss eine Ferienerinnerung. Der Alltag hat uns bald wieder, man vergisst schnell. Bis zu einem weiteren Tsunami ohne Vorwarnung oder der nächsten Klimakonferenz.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Der langjährige Wissenschaftsjournalist des «Tages-Anzeiger» war bis Februar 2014 Öffentlichkeitsreferent der ETH Zürich.

Zum Infosperber-Dossier:

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Beat Gerber: Tüpfelchen auf dem i

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Beat Gerber

Der langjährige TA-Wissenschaftsjournalist und ehemalige ETH-Öffentlichkeitsreferent publiziert auf www.dot-on-the-i.ch Texte und Karikaturen. Kürzlich erschien sein erster Wissenschaftspolitkrimi «Raclette chinoise» (Gmeiner-Verlag).

Eine Meinung zu

  • am 4.10.2018 um 15:46 Uhr
    Permalink

    Was hier thematisiert wird, hat mehrere Gründe:
    Es liegt in der Natur der Interessen der grossen Mehrheit der Naturwissenschaftler, sich weg zu ducken, wenn es darum geht, sich in der Öffentlichkeit oder der Politik zu exponieren. Das war schon zu Zeiten des Galileo Galilei nicht anders.
    Aus Seite der Politik ist es so, dass unbequeme Meldungen aus den Naturwissenschaften nicht gerne zur Kenntnis genommen werden, wenn sie Massnahmen nötig machen würden, die in der Öffentlichkeit unpopulär sind und vielleicht sogar Wählerstimmen kosten könnten (wie zum Beispiel eine Verteuerung der Energie auf einen Preis, welcher den bekannten und künftigen Schäden des Klimawandels Rechnung tragen würde).
    Man begnügt sich lieber mit Symbolpolitik, die den Schein erweckt, als würde man etwas machen.
    Und in der Gesellschaft sind Warnungen über ein Unheil, das sehr langsam und vor allem in der Zukunft hereinbricht, zu abstrakt, als dass sie ein Umdenken im Verhalten der Menschen auslösen könnten. Auch das war schon immer so und hat zum Untergang vergangener Reiche geführt.
    Fazit: Bevor es in der Schweiz mindestens einige Tausend – in Europa entsprechend einige Hunderttausend Todesopfer gibt – wird sich in der Klimapolitik nichts Substanzielles bewegen.

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