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Spiel-Experte Synes Ernst © cc

Der Spieler: Wie die «NZZ» einen Schatz verbannt

Synes Ernst. Der Spieler /  Still und heimlich hat die «NZZ» die Spielekritik aus der gedruckten Zeitung ins Online verbannt. Ein fragwürdiger Entscheid.

Ich bin Leser. Eben habe ich die Lektüre von Sibylle Lewitscharoffs «Pfingstwunder» beendet. In den vergangenen Wochen verbrachte ich einen Grossteil meiner Freizeit mit «Cox. Der Lauf der Zeit», von Christoph Ransmayr, dem «Reich Gottes» von Emmanuel Carrère, «Augustus» von John Williams. Alles Bücher, auf die mich Buchrezensionen aufmerksam gemacht haben.

Wie würde ich mich im unübersichtlich-riesigen Angebot an Neuerscheinungen orientieren, gäbe es – neben den Buchhandlungen, selbstverständlich – die Zeitungen und Zeitschriften nicht, die noch Wert auf ausführliche und kompetente Buchbesprechungen legen? Ohne sie wäre ich hoffnungslos verloren. Zu ihnen gehören «Zeit», «Spiegel», «Süddeutsche Zeitung», «Welt», «Frankfurter Allgemeine», «Bund/Tagesanzeiger», «Neue Zürcher Zeitung» und «NZZ am Sonntag». Von diesen habe ich nur «Bund», «NZZaS» und «Zeit» abonniert, von den übrigen kaufe ich jene Ausgaben, von denen ich weiss, dass sie darin garantiert Buchbesprechungen finde. Das trifft besonders für die Dienstag- und Samstagsausgabe der «NZZ» zu. Warum ich dies betone? Ein wenig Geduld, bitte!

Ich bin, wie es der Titel dieser vierzehntäglichen «Infosperber»-Rubrik besagt, aber auch Spieler. Seit meiner Jugend habe ich regelmässig gespielt. Die Klassiker der 1950er- und 1960er Jahre haben mich schon früh gelangweilt, und so war ich immer auf der Suche nach Neuerscheinungen. Auf die Rechnung kam ich dann ab etwa 1980, als «Spiel des Jahres», die Zeitschrift «Spielbox» und dann vor allem die Spieltage in Essen (und am Rande auch die Spielmesse in St. Gallen) eine neue Spielbewegung einläuteten, deren Entwicklung bis heute andauert.

Spielekritik zur Meinungsbildung

Im Unterschied zum Buchbereich, wo ich nie irgendwelche Kritiker-Ambitionen gehegt hatte, habe ich meine Spielleidenschaft mit meinem Beruf als Journalist miteinander verbunden. Ich bin seit 1981 ununterbrochen als Spielekritiker tätig und will dabei nicht nur meine Spielbegeisterung, sondern allen, die auf der Suche nach spannenden, interessanten und guten Spielen sind, Anregungen und Informationen weitergeben. Die Flut an Neuerscheinungen ist bei den Spielen zwar nicht so gross, aber für Nicht-Insider ebenso unübersichtlich wie auf dem Buchmarkt. Im Unterschied aber zur Welt der Bücher, die ich als Leser eigentlich nur von aussen betrachte, habe ich in meiner Eigenschaft als Spielekritiker die Möglichkeit, mich aus erster Hand über die Entwicklung bei den Spielen zu orientieren. Ich besuche Messen und Publikumsveranstaltungen, habe direkten Kontakt zu Autoren, Redaktorinnen und Redaktoren, zu Medien- und Verlagsverantwortlichen. Von den Neuheiten bekomme ich Rezensionsexemplare – ich bin also darüber informiert, was im Bereich der Spiele läuft, und das ohne die zusätzliche Lektüre von Spielrezensionen.
Trotzdem kann ich nicht auf sie verzichten. Denn ich möchte zu meiner eigenen Meinungsbildung wissen, wie meine Kolleginnen und Kollegen Spiele einschätzen und beurteilen. So habe ich die einschlägigen Publikationen wie «Spielbox», «Spielerei» und «Fairplay» seit Jahrzehnten abonniert. In den Tages- oder Wochenmedien fristet die Spielekritik leider ein Schattendasein. Die «Neue Zürcher Zeitung» bildete da eine Ausnahme: Seit 19 Jahren hatte die Spielkritik unter dem Titel «Faites vos jeux» einen festen Platz. Verfasst wurde sie von Tom Felber, Gerichts- und Polizeireporter des Blattes. Ihre Lektüre war für mich ein Muss, und so erstand ich mir die entsprechende Ausgabe am Kiosk, anfangs jeden zweiten Samstag, dann jeweils am Freitag.

Angeblich mangelnde Beachtung

«Hatte», «war», «erstand», Vergangenheit. Denn die Kolumne ist in der bisherigen Form Vergangenheit. Seit Januar dieses Jahres gibt es sie in der gedruckten «NZZ» nicht mehr, sondern nur noch Online. Offiziell, zum Beispiel über einen redaktionellen Hinweis, habe ich als regelmässiger Leser über den Wechsel der Spiele-Rezension ins Digitale nie etwas erfahren. Auf entsprechende Nachfrage gesteht die Chefredaktion via Medienstelle dies als «Versäumnis» ein. Von Bedauern nicht die geringste Spur, was auch für die Begründung, weshalb ich neuderdings die Rubrik «Faites vos jeux» am Computer oder auf dem iPad lesen muss, zutrifft. Die Medienstelle schreibt: «Dass die Spiele-Kolumne in der gedruckten Zeitung zunehmend wenig Beachtung findet, ist eine Tatsache. Das haben drei Readerscan-Untersuchungen in Folge gezeigt. Deshalb haben wir uns entschieden, die Kolumne künftig online zu produzieren.» Als kleiner Trost wird beigefügt: «Wenn sich allerdings nach Einschätzung unseres langjährigen Spielexperten Tom Felber ein Thema fürs Blatt aufdrängt, werden wir das Thema weiterhin auch in Print bringen.» Glaube dies, wer will …

Die «NZZ»-Verantwortlichen stützen ihren Entscheid auf Reader-Scans ab. Das ist ihr gutes Recht. Ich halte es hingegen für einen Fehlentscheid. Dafür nenne ich drei Gründe:

Erstens: Tom Felber verfügt über eine langjährige Spielpraxis und setzt sich ernsthaft mit den Spielen auseinander, was bedeutet, dass er die Titel, die er rezensiert, mehrmals in unterschiedlichen Gruppen spielt. Wenn ich seine Texte lese, erfahre ich viel über das Thema des Spiels und seine Umsetzung, den Ablauf, die Emotionen, die beim Spielen ausgelöst werden. Felbers Rezensionen nennen Stärken und Schwächen eines Spiels. Und er sagt, für welche Zielgruppe sich ein Spiel eignet. Er bietet also die Orientierung, welche die Leserinnen und Leser von Rezensionen erwarten. Seine Texte sind profiliert und heben sich ab von den Gefälligkeitsrezensionen, die im Bereich der Spiele leider oft anzutreffen sind. Kurz: Die Kolumne «Faites vos jeux», deren Autor immerhin Vorsitzender der Jury «Spiel des Jahres» ist, welche die weltweit wichtigste Auszeichnung für Brett- und Gesellschaftsspiel vergibt, zählt zum Besten, was im deutschsprachigen Bereich über Spiele geschrieben wird.

Spielen gewinnt an Bedeutung

Zweitens: Die «NZZ» verbannt Spiele aus dem Bund «Gesellschaft» ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, in dem diese massiv an gesellschaftlicher Bedeutung gewinnen. Die Qualität des Angebots ist gegenwärtig so hoch wie noch nie in der Geschichte des Spiels, die Tendenz hält erfreulicherweise an oder ist sogar steigend, nicht zuletzt dank einer engagierten Publizistik, welche die Entwicklung kritisch beobachtet und begleitet. Analoge Brett-, Gesellschafts- und Kartenspiele erweisen sich immer mehr als Gegenkraft zur zunehmenden Digitalisierung unseres Alltags. Wer Gemeinschaftserlebnisse und direkte Kommunikation sucht, erfährt im Zusammensein mit anderen Menschen die verbindende soziale Kraft des Spiels. Der Hirnforscher Gerald Hüther und der Philosoph Christoph Quarch gehen noch einen Schritt weiter. Für sie sichert das Spiel die für die menschliche Entwicklung wichtigen Freiräume, die durch die zunehmende Ökonomisierung und Funktionalisierung des Lebens immer mehr eingeschränkt werden. In ihrem Buch «Rettet das Spiel!» schreiben sie: «Wenn wir zu spielen aufhören, hören wir auf, das Leben in all seinen Möglichkeiten zu erkunden, und damit verspielen wir die Potenziale, die in uns stecken.»

Drittens: «Überzeugter denn je stellen wir die die Publizistik ins Zentrum unser Tätigkeit», heisst im «NZZ»-Geschäftsbericht für das Jahr 2015. Dies als Antwort auf die digitale Revolution, die einen «fundamentalen Wandel in unserer Branche» ausgelöst hat. Gerade auch ein Traditionsunternehmen wie die «NZZ»-Mediengruppe muss sich verändern, wenn sie im harten Kampf auf dem Leser- und Werbemarkt überleben will. Dazu gehört meines Erachtens, dass man dort reduziert, wo man schwach ist, und sein Engagement verstärkt, wo man ein unverwechselbares Profil hat. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang übrigens, dass der englische «Guardian», der bis jetzt eine erfolgreiche Print-Online-Strategie verfolgt, seit vergangenem Herbst regelmässig ausführliche Spielekritiken veröffentlicht.

Es ist deshalb völlig unverständlich, dass die Verantwortlichen ausgerechnet etwas, das nur hier in der «NZZ» und sonst in keinem anderen schweizerischen Medium zu finden war, von ihrem Flaggschiff, der gedruckten Zeitung, verbannt haben. So genannte Alleinstellungsmerkmale (USPs) verschenkt man doch nicht einfach so! Wäre ich für das Marketing der «NZZ» zuständig, ich würde mir die Haare raufen. Als Kritikerkollege und Spieler aber bin ich traurig und mit mir Hunderte von Leserinnen und Lesern, die wie ich «Faites vos jeux» in gedruckter Form geschätzt haben und jetzt «Faute de mieux» ins Digitale abwandern. Die gedruckte Zeitung muss ich am Freitag nicht mehr am Kiosk erstehen. Ein Käufer weniger.

Und übrigens: Um die Literaturkritik in der «NZZ» müsse ich mir keine Sorgen machen, hat mich die Medienstelle des Unternehmens beruhigt. «Hier ist keine Verschiebung ins Digitale absehbar.»


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Spielekritiker für das Ausgehmagazin «Apéro» der «Neuen Luzerner Zeitung». War lange Zeit in der Jury «Spiel des Jahres», heute noch beratendes Mitglied. Ist seit langem mit Tom Felber persönlich bekannt.

Zum Infosperber-Dossier:

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Spielen macht Spass. Und man lernt so vieles. Ohne Zwang. Einfach so.

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Eine Meinung zu

  • am 25.02.2017 um 23:21 Uhr
    Permalink

    Danke für Ihr Engagement für Gesellschaftsspiele, Herr Ernst! Dank Ihnen und Ihrem Link zu Tom Felbers Rezensionen habe ich gerade wieder ein paar verlockende Spiele kennen gelernt und als Kaufidee vorgemerkt… :o)

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