Kommentar

Der Spieler: Watson oder die Grenzüberschreitung

Synes Ernst ©

Synes Ernst. Der Spieler /  Spiele sind ein Abbild der Wirklichkeit. Der Satz stimmt nur bedingt. «Serious Games» von Harun Farocki illustriert dies.

Der Ausstellungsraum im Hamburger Bahnhof in Berlin ist total abgedunkelt. Um so greller wirken die Szenen, die sich auf dem gesplitteten Bildschirm vor mir abspielen. Links jagt ein gepanzertes Fahrzeug durch eine computeranimierte Wüstenlandschaft, bremst hie und da ab, um dann gleich wieder mit Vollgas von der Strasse abzubiegen, während der Turm mit Schütze und Maschinengewehr hin und her schwenkt. Aus Computer-Simulationsspielen ist mir das bekannt. Rechts der Blick auf eine Gruppe junger Rekruten, die in einem Seminarraum in einem Ausbildungszentrum der US-Armee in Kalifornien hinter Computerbildschirmen sitzen. Sie sind es, die den Jeep durch die unwirtliche Kriegszone fahren, den vermuteten Minen und vergrabenen Sprengfallen ausweichen. Plötzlich fallen Schüsse, und der Computerschütze stürzt vom Fahrzeug und bleibt tot am Boden liegen. «Watson ist hin,» sagt einer der Soldaten lapidar und spielt weiter, während sein Nachbar, etwas beleidigt, von seinem Bildschirm wegguckt. Die Reaktion ist verständlich: Er ist der echte Watson, der nun aus dem Spiel ist.

«Watson ist hin» gehört zu den so genannten «Serious Games». Das sind Computerspiele, die nicht Unterhaltungszwecken dienen. Hier werden sie dazu verwendet, um amerikanische Soldaten auf ihren Einsatz in Afghanistan vorzubereiten. Die Szenerie ist denn auch detailtreu bis auf jeden Baum und jede Bodenerhebung der Landschaft nachgebildet, in der sie sich später bewegen werden. Selbst die Schatten stimmen. Aber wird sich der Gegner in der Realität so verhalten, wie ihn der Ausbildner in der Simulation eingesetzt hat? Und werden die gebündelten Handgraten auch dort explodieren, wo sie auf der animierten Strassenkreuzung durch einfaches Anklicken von Kästchen platziert worden sind?

Nachdenken über die Grenze

Bereits die ersten Sequenzen von Harun Farockis Videodokumention «Serious Games», die noch bis Mitte Juli im Hamburger Bahnhof in Berlin zu sehen ist, zwingen Betrachterinnen und Betrachter zum Nachdenken über die Grenze zwischen Spiel und Wirklichkeit. Dank der technischen Simulierbarkeit des Geschehens verwischen diese Grenzen gerade im Bereich des Kriegsspiels immer mehr. Für die Rekruten ist ein Unterschied zwischen den Computer-Kriegsspielen, die sie in ihrer Freizeit spielen, und den Computersimulationen, mit denen sie für den Kriegseinsatz beübt werden, kaum erkennbar. Den Unterschied erfahren sie dann später, in seiner vollen Brutalität. Das ist auch der Grund, weshalb Farocki am Sinn einer solchen Ausbildung zweifelt. Er sagt: «Die Realität des Krieges kann man nicht simulieren, egal, ob das auf einem Exerzierplatz ist, auf einer Landkarte mit strategischen Markierungen oder eben an einem Computerspiel.» Seine vierteilige Dokumentation ist denn auch eine massive Kritik an den Militärs, mit Hilfe der heutigen Computertechnik Kriegssituationen überschaubar zu machen und so dem Betrachter das Gefühl zu vermitteln, sie mit Hilfe ebendieser Technik beherrschen zu können.

Vom Abbild zum Vorbild

Wie die Übergänge zwischen Fiktion und Realität im computeranimierten Kriegsspiel fliessend sind, thematisiert eine weitere Sequenz in der Farocki-Ausstellung. Sie trägt den Titel «Drei tot» und zeigt eine «echte» Feldübung, die in einem genauen Set stattfindet. US-Soldaten lernen in diesem Rahmen, wie man in den Ortschaften im Einsatzgebiet in Afghanistan oder im Irak zwischen Freund und Feind unterscheidet. 300 Statisten stellen dabei die einheimische Bevölkerung dar. Was hier auffällt: Die auf dem Ausbildungscamp errichtete Szenerie könnte aus einem Computerspiel stammen. «Das sah aus, als habe man die Wirklichkeit einer Computer-Animation nachgebildet,» meint Farocki. Mit anderen Worten: Das Spiel ist so nicht mehr Ab-, sondern Vorbild der (Kriegs-)Wirklichkeit.

Das bleibt nicht ohne Wirkung: Viele US-Soldaten sagen zu ihren Kriegsefahrungen im Irak, sie hätten sich gefühlt, als befänden sie sich in einem Computerspiel, wie José Antonio Vargas 2006 in der «Washington Post» berichtet. Vor diesem Hintergrund ist es ein logischer Schritt, dass Computer-Animationen auch zur Behandlung von posttraumatischen Belastungsstörungen eingesetzt werden, wie sie bei Kriegsrückkehrern aus dem Irak und aus Afghanistan häufig vorkommen. Farocki zeigt in «Immersion», dass die virtuellen Bilder beim Betrachter die Erinnerung an traumatische Ereignisse auslösen können. Dem amerikanischen Kriegsveteranen, der eine Virtual Reality-Brille trägt, geht es sichtbar mies und er hat Mühe, der Therapeutin, die neben ihm sitzt, zu erzählen, was er sieht. «Sie machen das sehr gut,» ermuntert sie ihn immer wieder. Doch auf einmal hat er genug, zieht die VR-Brille ab, während das Publikum aus dem Off applaudiert. Es handelte sich, wie man am Schluss erfährt, nicht um eine echte Therapiesitzung, sondern um eine Marketing-Vorführung für Psychologen der US-Luftstreitkräfte.

Hinters Licht geführt

Als Betrachter von «Serious Games – Ernste Spiele» fühlte ich mich gleich doppelt hinters Licht geführt. Aber genau das ist der Trick, mit dem der 70jährige Film-Essayist Harun Farocki uns die Macht der visuellen Sprache animierter Spiele vor Augen führt. Wir können nicht anders und müssen uns mit der Frage auseinandersetzen, wo die Grenzen zwischen Spiel und Wirklichkeit verlaufen. Im Bereich der Computerspiele ist dieser ethische Themen- und Fragenkomplex viel brisanter als im Bereich des traditionellen Brett- und Gesellschaftsspiels. Hier ist klar ersichtlich, dass ich mit dem Verteilen des Spielmaterials eine andere Welt betrete, während ich dort beim ersten Blick auf den Bildschirm fast nicht mehr erkenne, ob es sich um eine militärische Übung, einen Ernsteinsatz oder um ein Spiel handelt.

Möglicherweise geben Farockis «Serious Games – Ernste Spiele» einen Vorgeschmack darauf, was uns im zivilen Bereich noch erwartet, wenn sich erst einmal die so genannte Gamification, die heute erst in Ansätzen bekannt ist, auf breiter Front durchsetzt. Darunter versteht man die Anwendung von Design, Prinzipien und Mechanismen, die man aus dem Spiel kennt, in einem spielfremden Kontext. Weil Menschen sich gerne an Spielen beteiligen, bringt man sie über entsprechende Anwendungen dazu, auch Tätigkeiten zu verrichten, die sie sonst als langweilig empfinden, wie zum Beispiel einen Umfragebogen oder die Steuererklärung auszufüllen. Auch wenn bewiesen ist, dass man mit Spielen positive Fähigkeiten, wie zum Beispiel selbständiges Denken, fördern kann, ist doch auffallend, dass die Gamifizierung lange fast ausschliesslich im Werbe- und Unterhaltungsbereich eingesetzt wurde, um die Kundenbindung zu verstärken: Verführung mit Hilfe des Spiels …

Alles noch in weiter Ferne? Man sollte nie vergessen, was der griechische Philosoph Heraklit vor 2500 Jahren gesagt hat: «Der Krieg ist aller Dinge Vater.»


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Spielekritiker für das Ausgehmagazin «Apéro» der «Neuen Luzerner Zeitung». War lange Zeit in der Jury «Spiel des Jahres», heute noch beratendes Mitglied. Als solches nicht an der aktuellen Wahl beteiligt. Befasst sich mit dem Thema «Spielen – mehr als nur Unterhaltung».

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