Kommentar

Der Spieler: Kunst der Diplomatie im Wohnzimmer

Synes Ernst ©

Synes Ernst. Der Spieler /  Der Vater von «Diplomacy» ist gestorben. Sein geniales Konfliktsimulationsspiel steht am Anfang eines grossen Spielebooms.

Die heutige Kolumne ist einem pensionierten Brief- und Postboten aus La Grange im US-Bundesstaat Illinois gewidmet, Allan B. Calhamer, der Ende Februar im Alter von 81 Jahren gestorben ist. Seinen Tod hat hierzulande kaum jemand zur Kenntnis genommen. Warum auch? Calhamer hatte ein unspektakuläres Leben geführt und war nie eine Person des öffentlichen Interesses gewesen.

In der Welt der Spiele aber müssten die Flaggen auf Halbmast gesetzt werden. Denn Allan Calhamer ist der Vater von «Diplomacy», das neben «Risiko» und «Monopoly» das dritte grosse Kultspiel des 20. Jahrhunderts war. Was die Langzeitwirkung dieser drei Spiele betrifft, würde ich «Diplomacy» sogar an erster Stelle nennen. Es steht nämlich am Anfang einer Entwicklung, die Anfang der 1960er Jahre im angelsächsischen Raum begonnen und dann ab 1975 Europa und hier vor allem Deutschland erfasst hat: In dieser Zeit wurde aus dem betulichen Familienspiel das in der Welt der Erwachsenen anerkannte Gesellschaftsspiel. Ohne «Diplomacy» gäbe es heute wohl keinen Kritikerpreis wie «Spiel des Jahres», keine Zeitschrift wie die «Spielbox», keine grossen Publikumsmessen wie die Internationalen Spieltage in Essen oder die Suisse Toy in Bern. «Diplomacy» ist es letztlich auch zu verdanken, dass rund um das Spielen eine eigene Szene entstanden ist, gebildet aus Spielinteressierten, Verlagen, Agenturen und Autoren, die sich über die verschiedensten Kanäle miteinander austauschen. Bisher hatte es solches nur beim Buch gegeben mit der Buchmesse in Frankfurt als Dreh- und Angelpunkt.

Magische Faszination

Eine solche Langzeitwirkung konnte nur entstehen, weil «Diplomacy» eine beinahe magische Faszination ausübt, der man sich nicht entziehen kann, es sei denn, man habe mit Spielen überhaupt nichts am Hut. Ich erinnere mich sehr gut an eine meiner ersten «Dippy»-Partien Ende der 1970er Jahre. «Dippy» ist die Kurz- und Koseform für «Diplomacy». Sie ist Erkennungsmerkmal: Wer «Dippy» sagt, gehört dazu. Diese Partien begannen jeweils am Samstagnachmittag im Haus von Walter Luc Haas in Basel und endeten irgendwann am Sonntag. Haas hatte Kontakte zur US-Szene und engagierte sich journalistisch für die Verbreitung von «Diplomacy» in Europa. Gleichzeitig importierte er die begehrten Spiele direkt vom US-Verlag Avalon Hill, was damals noch ein abenteuerliches Unternehmen war. So schuf Haas eine Fangemeinde, die er von Zeit zu Zeit nach Basel einlud. Ich übernahm in diesem Konfliktsimulationsspiel, das am Vorabend des 1. Weltkriegs in Europa spielt, die Rolle des Franzosen, während die Mitspieler – ausschliesslich männlich – die übrigen europäischen Grossmächte England, Deutschland, Russland, Italien, Österreich/Habsburg und die Türkei – repräsentierten. Alle hatten dasselbe Ziel: Als erster mindestens 18 der so genannten Versorgungszentren zu beherrschen. Dafür hatten wir nicht nur Armeen und Flotten zur Verfügung, sondern auch die Diplomatie: Vor jedem Zug führte ich mit allen möglichen Koalitionspartnern Verhandlungen, nicht in aller Offenheit, sondern womöglich irgendwo in einem Zimmer. Diplomatie und Scheinwerferlicht vertragen einander nicht, auch nicht im Spiel. Eines meiner Verhandlungsziele war ein Nichtangriffspakt mit dem Engländer. Damit hätte ich als Franzose die nördliche Flanke frei, um gegen Deutschland zu ziehen. Da es mir aber ein Ding der Unmöglichkeit schien, die Preussen im Alleingang anzugreifen, versuchte ich zusätzlich den österreichischen Kaiser dazu zu bewegen, von Osten her für Unruhe zu sorgen. Als ich dann sah, wie sich der Zar mit dem Österreicher zu Verhandlungen zurückzog, war ich verunsichert. Sollte ich doch noch mit dem Preussen zusammensitzen?

Ohne Plan geht nichts
Am Ende der Verhandlungsrunde notierte jeder seine Züge auf einem Zettel. Der Spielleiter wertete sie aus und bewegte die Heere und Flotten entsprechend auf dem Spielplan. Und siehe da, der Engländer hatte Wort gehalten, während der Österreicher sich zu meinem Erstaunen nach Süden in Richtung Türkei orientierte. Andere erlebten böse Überraschungen: Der Deutsche, der sich mit dem Engländer gegen mich verbündet hatte und sich dafür beim Zaren rückversichern wollte, wurde von Russland her angegriffen. Im Vertrauen darauf, dass der Russe Wort halten würde, hatte er die östliche Grenze nur schwach abgesichert, was ein grober Fehler war. Wir konnten nur kurz diskutieren, da der Spielleiter schon wieder zur nächsten Verhandlungsrunde rief …

«Diplomacy» offenbart sein Potenzial, sobald man in die Rolle des französischen Regierungschefs oder des Herrschers von Russland schlüpft. Wir haben es mit einem Strategiespiel zu tun. Das heisst, dass man ohne langfristigen Plan garantiert nicht zum Erfolg kommt. Im Alleingang ist das Spielziel unerreichbar. Also braucht es Absprachen untereinander – Diplomatie pur. Die Verhandlungsergebnisse aber sind nicht unbedingt verbindlich. Wenn es dem vermeintlichen Alliierten nützlicher erscheint, anders zu handeln, als verhandelt, begeht er Wortbruch, und aus dem Freund ist plötzlich ein Feind geworden. List, Täuschung, Betrug – wo ist die Grenze? All das muss man persönlich erlebt haben, auch den Frust, wenn mir der Engländer, der sich bisher immer auf mich verlassen konnte, in den Rücken fällt und mich «stabbt», wie es in der «Dippy»-Sprache heisst. Das sind dann die Momente, wo man seine Rache- oder noch schlimmeren Gelüste kaum mehr unter dem Deckel zu halten vermag.

Mit Leib und Seele
Im Unterschied zu vielen jüngeren Strategie- und Konfliktsimulationsspielen weckt «Diplomacy» Emotionen. Man spielt es nicht nur mit dem Kopf, man ist mit Leib und Seele dabei. «Diplomacy» beschäftigt die Teilnehmenden auch noch, wenn die Schlacht, die inklusive Verhandlungen schon mal sechs und mehr Stunden dauern kann, schon längst geschlagen ist. Wer einmal vom «Diplomacy»-Virus angesteckt worden ist, sucht nach neuen Mitspielenden – und so ist im Verlauf der Jahre eine grosse Fangemeinde entstanden. Zur Verbreitung hat auch beigetragen, dass das Spiel schon früh über Post gespielt wurde: Weil es Ende der siebziger Jahre noch kein E-Mail gab, haben wir die Verhandlungen schriftlich geführt. Zum vereinbarten Zeitpunkt schickten wir dem Spielleiter die geplanten Züge per Brief. Die Auswertungen gab es wieder per Post, worauf jeder für sich das Ergebnis zu Hause auf einem Spielplan festhielt. Und weiter ging das PbM (Play by Mail)…, manchmal über Jahre.

Beinahe alle, die ab 1980 an der Entwicklung der deutschen Spielewelt beteiligt waren, hatten miteinander «Diplomacy» gespielt. Die gemeinsame Spielerfahrung kittete vor allem zu Beginn diese Szene zusammen. Der internen Kommunikation dienten neben den Cons (Zusammenkünften) die so genannten FanZines, die über Partien, Strategien und Treffen berichteten. Die Digitalisierung der Medien hat in der Zwischenzeit die Kommunikation innerhalb der «Diplomacy»-Gemeinde zwar beschleunigt, aber die Sprache ist unverändert insiderhaft wie in den Anfangsjahren.

Eine hohe Kunst
Die Regeln von «Diplomacy» sind relativ einfach und leicht nachvollziehbar. Trotzdem haben wir es nicht mit einem Anfängerspiel zu tun. Wer erfolgreich verhandeln will, muss sich vorher eine Strategie zurechtlegen. Das ist nicht jedermanns Sache. Kommt hinzu, dass Verhandeln eine hohe Kunst ist. Was biete ich? Wo verlange ich etwas? Wo kann ich bluffen? Wie weit kann ich meinen Verhandlungspartner hinhalten? Wie gewinne ich das Vertrauen eines Mitspielenden zurück, den ich vor vier Runden hintergangen habe?

Ich denke, dass man mit «Diplomacy» sehr viel fürs Leben lernen kann, vor allem eines: Dass soziale Kompetenz eine der zentralen Voraussetzungen dafür ist, um seine Ziele zu erreichen. Und man gewinnt Respekt vor der hohen Diplomatie: Wenn es schon nicht einfach ist, im Spiel Ergebnisse auf dem Verhandlungswege zu erzielen, wie viel schwieriger muss es dann sein, am Verhandlungstisch eine Friedenslösung für den Nahen Osten zu erzielen.

«Diplomacy». Strategie- und Verhandlungsspiel von Allan B. Calhamer für 2 bis 7 Spielerinnen und Spieler ab 12 Jahren. Diverse Verlage. Spieldauer: 6 Stunden und länger.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Spielekritiker für das Ausgehmagazin «Apéro» der «Neuen Luzerner Zeitung». War lange Zeit in der Jury «Spiel des Jahres», heute noch beratendes Mitglied. Befasst sich mit dem Thema «Spielen – mehr als nur Unterhaltung»

War dieser Artikel nützlich?
Ja:
Nein:


Infosperber gibt es nur dank unbezahlter Arbeit und Spenden.
Spenden kann man bei den Steuern in Abzug bringen.

Direkt mit Twint oder Bank-App



Spenden


Die Redaktion schliesst den Meinungsaustausch automatisch nach drei Tagen oder hat ihn für diesen Artikel gar nicht ermöglicht.