aa.Spieler.Synes.2020

Synes Ernst: Der Spieler © zvg

Der Spieler: Familienzusammenführung am Spieltisch

Synes Ernst. Der Spieler /  «Yokai» schafft mit einem einzigartigen Spielmechanismus ein echtes Wir-Gefühl und tolles Spielerlebnis.

In normalen Jahren kommen an Weihnachten Familien zusammen, Grosseltern, Eltern, Kinder, Grosskinder … Doch 2020 ist kein normales Jahr. Die Pandemie bestimmt unser Zusammenleben, nicht nur das öffentliche, sondern auch das private. So haben die Behörden festgelegt, dass bei Treffen zuhause höchstens zehn Personen dabei sein dürfen, Kinder mitgerechnet. Zudem wird «dringend» empfohlen, sich an die Zwei-Haushalte-Regel zu halten. Eine traditionelle Familienzusammenführung kann man unter diesen Umständen vergessen. Man muss sich etwas Anderes einfallen lassen. 

Aber was? Weil es in dieser Rubrik um Spiele geht, führen wir vier Familien spielerisch zusammen. So nämlich lautet die Aufgabe, die uns in «Yokai» gestellt wird. An die Art der Familien, die hier die Hauptrollen spielen, müssen wir uns allerdings erst noch gewöhnen. Denn es handelt sich, wie der Titel antönt, um geheimnisvolle Kreaturen aus der Mythologie Japans. Vier verschiedene Arten sind dabei, der Fuchs Kitsune, die Rokurokubi, die ihre Hälse verlängern können, die froschähnlichen Kappa sowie  der Dämon Oni. Was sie im japanischen Volksglauben jeweils bedeuten, spielt hier für uns keine Rolle. Wir konzentrieren uns in erster Linie auf die Farbe der Karten, weniger auf die Illustrationen.

Gemeinsam zum Ziel

Die 16 quadratischen Karten – je vier einer Farbe – werden gemischt und in einem 4×4-Raster verdeckt auf den Tisch gelegt. Ziel ist es, die zu Beginn zufällig verteilten Yokais durch bestimmte Aktionen zu zusammengehörenden Familien, also die Kitsune oder Kappa, zu gruppieren. Dieses Ziel haben wir gemeinsam zu erreichen. Dabei ist die Zeit, die uns dafür zur Verfügung steht, durch die Zahl der Hinweiskarten begrenzt. 

Der Spielablauf ist höchst einfach: Wer an der Reihe ist, sieht sich zuerst zwei Karten aus der Auslage geheim an und legt sie verdeckt an ihren Platz zurück. Auf diese Weise bekommt man die für das weitere Spiel nötigen Informationen: Welche Karte liegt wo? Was man erfährt, behält man aber für sich. Man sollte es sich jedoch gut merken. In einem zweiten Schritt verschiebt man, ebenfalls verdeckt, eine beliebige Yokai-Karte, wobei gewisse Legeregeln einzuhalten sind. Und schliesslich deutet man mit Hilfe von Hinweiskarten den Mitspielenden an, wo sich welche Farbe verbirgt oder verbergen könnte. Denn fieserweise sind die Angaben auf den Hinweiskarten mehrheitlich zwei- oder dreideutig. Dieser Ablauf wiederholt sich, bis der Stapel der Hinweiskarten aufgebraucht oder jemand unter den Mitspielenden der Meinung ist, die vier Yokai-Familien seien vereinigt. Jetzt bringt es die Kontrolle an den Tag, ob der am Tisch versammelten Runde die japanische Familienzusammenführung geglückt ist oder nicht.

Klein und beschränkt ist alles

Kleine Verpackung, auf 39 Karten beschränktes Spielmaterial, knapper Regelbestand, kurze Spieldauer sowie ein Ablauf mit beschränkten Aktions- und Entscheidungsmöglichkeiten – hat «Yokai» überhaupt eine Chance, gegen die platz- und zeitfressenden Kisten zu bestehen? Unbedingt. 

Denn bereits in den ersten Runden zeigt «Yokai», welches Potential in ihm steckt. Sein erstes Geheimnis liegt unter anderem im höchst gelungenen Spiel mit verdeckten Informationen. Was ich meinen Mitspielenden sagen kann, ist selten eindeutig. Höchstens dort, wo ich eine rote Hinweiskarte lege, kann man in der Regel davon ausgehen, dass sich darunter auch eine rote Yokai-Karte befindet. Aber welche Schlüsse sind zu ziehen, wenn die Hinweiskarte zwei oder gar drei Farben zeigt? Gemäss Spielanleitung muss eine dieser Farben richtig sein, aber welche? Es ist zum Verzweifeln. Hinweiskarten sind jedoch nur eine Art, Informationen weiterzugeben. Verdeckte Botschaften stecken auch im Verschieben von Yokai-Karten. Mit jeder Umplatzierung will ich den Mitspielenden etwas über die aktuelle Situation in der Auslage mitteilen. Was es ist, das muss jeder für sich selber kombinieren und interpretieren. 

Niemand kann dominieren

Ein zweites «Yokai»-Geheimnis besteht darin, dass es ein echtes kooperatives Spiel ist. Im Unterschied zu andern Vertretern dieses Genres, wie etwa «Scotland Yard», «Pandemie» oder «Exit», wo vielfach einer für alle denkt und diesen dann auch sagt, was sie zu tun haben, schiebt «Yokai» solchen Hier-bin-ich-der-Chef-Allüren von Anfang an einen Riegel. Da niemand in der Runde erfährt, welche Information mit dem geheimen Anschauen der Yokai-Karte ich bekommen habe, kann mir auch niemand vorschreiben, was ich mit diesen zu tun habe und wie ich sie an die Gruppe weitergebe. Ich bin alleinverantwortlich für meine Entscheide. Und von diesen wiederum hängt ab, ob wir es gemeinsam schaffen, das Spiel mit einem «beachtlichen», «glorreichen» oder «legendären» Ergebnis zu beenden (Zitate aus der Spielanleitung).

Dieses Prinzip bedeutet umgekehrt für die einzelnen Spielerinnen und Spieler auch, dass sie viel stärker in die Pflicht genommen werden als bei einem nicht-kooperativen Spiel. Wenn ich etwa bei einem «Carcassonne» einen schwachen Zug mache, betrifft das letztlich nur mich, nicht aber die Mitspielenden. Möglicherweise profitieren sie von meinen Schwächen, aber ausbaden muss ich diese selbst. Im kooperativen Spiel, gerade wenn es so ausgestaltet ist wie «Yokai», kann hingegen auf der Basis von «Einer für alle, alle für Einen» ein echtes Wir-Gefühl entstehen. Ob sich daraus ein tolles Spielerlebnis entwickelt, hängt wesentlich auch davon ab, ob in der Gruppe gegenseitige Toleranz gepflegt wird oder nicht. Die braucht es unbedingt, da in diesem Spiel, in dem man so aufeinander angewiesen ist, ein kleiner «Fehler» eines Einzelnen der gesamten Runde den Erfolg vermasseln kann. 

Hohes Langzeitpotenzial

Allen, die jassen, ist das kooperative Spiel mit verdeckten Informationen bekannt. Es handelt sich demnach um ein klassisches Spielprinzip. Umso erstaunlicher ist es, dass es erst in jüngster Zeit vermehrt in neuen Spielen wieder auftaucht, so in «The Game» oder «The Crew». Wer diese beiden Spiele kennt, kann das Gemeinschaftserlebnis bestätigen, das jenem von «Yokai» sehr ähnlich ist. 

Im Gegensatz zu vielen anderen Kooperationsspielen, die relativ schnell ihren Reiz verlieren, hat «Yokai» ein hohes Langzeitpotenzial. Das Spiel bietet nämlich mehrere Schwierigkeitsstufen, welche die Anforderungen an die Teilnehmenden ganz schön steigern. Verwendet man beispielsweise die Zielkarten, die zeigen, in welcher Form die Yokai-Karten am Ende der Partie angeordnet sein müssen, wird wohl keine Gruppe diese Herausforderung im ersten Anlauf schaffen, selbst wenn man offen miteinander kommunizieren dürfte. Aber das ist ja streng verboten. Man spricht einzig mit farbigen Hinweiskarten und dem Umlegen verdeckter Karten … Hat jemand gesagt, Gedächtnisspiele seien etwas für Kinder? 

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Yokai: Gedächtnisspiel von Julien Griffon für zwei bis vier Spielerinnen und Spieler ab acht Jahren. Game Factory (Vertrieb Schweiz: Carletto AG, Wädenswil), CHF 13.90


Themenbezogene Interessen (-bindung) der Autorin/des Autors

Spielekritiker Synes Ernst war lange Zeit in der Jury «Spiel des Jahres», heute noch beratendes Mitglied, in dieser Funktion nicht mehr aktiv an der Juryarbeit beteiligt.

Zum Infosperber-Dossier:

Synes_Ernst 2

Der Spieler: Alle Beiträge

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