aa.Spieler.Synes.2020

Synes Ernst: Der Spieler © zvg

Der Spieler: Eine etwas andere Session in Bern

Synes Ernst. Der Spieler /  Im Simulationsspiel «SpielPolitik!» erleben Jugendliche, wie die schweizerische Politik funktioniert. Ein Besuch im Bundeshaus.

«Egregio signor presidente del consiglio nazionale», sagt der Sprecher des Partito ambiente natura trasporti (PANT) am Rednerpult und dreht sich kurz zum angesprochenen Nationalratspräsidenten um. Nun beugt er sich vor und wendet sich nach links mit den Worten: «Gentile signora consigliere federale.» Zum Schluss richtet er sich auf, blickt in die Runde und spricht die Anwesenden an: «Care colleghe, cari colleghi.»

Es klingt wie sonst in einer Session des eidgenössischen Parlaments. Und doch ist an diesem Mittwochnachmittag Einiges total anders. Auf dem Stuhl des Präsidenten sitzt Samuel «Sam» Bärtschi, Absolvent der Pädagogischen Hochschule Bern. Er ist für den geordneten Ablauf der Session zuständig, erteilt das Wort und führt die Abstimmungen durch. Die grüne Nationalrätin Regula Rytz vertritt heute als «Bundesrätin» die Landesregierung. Vier Schulklassen, je eine aus Baar (ZG) und Basel sowie zwei aus Balerna (TI), bilden das sechzigköpfige Plenum. 

Offizielle Anrede

Für diese Session und die vorbereitenden Kommissionssitzungen schlüpfen die Schülerinnen und Schüler in die Rollen einer «Frau Nationalrätin» bzw. eines «Herrn Nationalrats». Sie werden vom «Präsidenten» und der «Bundesrätin» auch als solche angesprochen. 

Alle vier Fraktionen – Schweizerische Umweltpartei (SUP), Partito di sostegno dei lavoratori (PSL), Partei Generationen Garten (PGG) und Partito ambiente natura trasporti (PANT) – stellen je eine Stimmenzählerin oder einen Stimmenzähler. Diese haben ordentlich zu tun, da das Sessionsprogramm insgesamt zehn Abstimmungen vorsieht. Abgestimmt wird mit Handzeichen, die elektronische Abstimmungsanlage bleibt ausser Betrieb. Sonst aber steht die Infrastruktur des Parlaments zur Verfügung, wie etwa die Glocke, mit der der «Präsident» jeweils die Sitzung eröffnet, oder auch die professionelle Simultanübersetzung.

Session als Schluss- und Höhepunkt

Die Session im Bundeshaus ist Schluss- und Höhepunkt zugleich des Politiksimulationsspiels «SpielPolitik!». Das Planspiel wird mehrmals jährlich in einer Kooperation des Vereins «Schulen nach Bern» und des Zentrums für Demokratie Aarau (ZDA) durchgeführt. Mitmachen können jeweils vier Klassen aus zwei Landesteilen, wobei die Deutschschweiz immer mit zwei Klassen vertreten ist. «Uns ist es wichtig, dass die sprachliche Vielfalt der Schweiz abgebildet wird und sich die Teilnehmenden mit der Mehrsprachigkeit auseinandersetzen», sagt die frühere SP-Nationalrätin und Zürcher Bildungsdirektorin Regine Aeppli, die den Verein «Schulen nach Bern» präsidiert. 

Im Planspiel sehen Absolventinnen und Absolventen der obersten Stufe der Volksschule, wie nationale Politik praktisch funktioniert. Gleichzeitig setzen sie sich mit eigenen Anliegen auseinander und lernen, wie man für diese auf der politischen Ebene Mehrheiten findet. Yvonne Mäder aus Baar, die bereits zum vierten Mal eine Schulklasse durch das Spiel begleitet, sagt: «Entscheidend an diesem Projekt ist, dass die Schülerinnen und Schüler die politischen Prozesse und Strukturen kennenlernen, indem sie sie persönlich und ganz direkt erleben.» 

Eigenes Anliegen als «Volksinitiative» formulieren

Alle teilnehmenden Klassen haben im Planspiel den Auftrag, ein eigenes Anliegen in Form einer «Volksinitiative» ins Parlament zu bringen und am Schluss in einer «Volksabstimmung» womöglich eine Mehrheit zu finden. Yvonne Mäder: «Die Klasse muss sich also zuerst auf das Anliegen einigen, das sie mit der Initiative weiterverfolgen will. Anschliessend gilt es, für die kommende Debatte ein Argumentarium vorzubereiten.» Dabei müssten die Schülerinnen und Schüler nicht nur versuchen, die «guten» Argumente herauszufinden, sondern auch genau zu überlegen, was die Contra-Argumente sein könnten. «So lernen sie gleichzeitig, eine eigene Meinung zu bilden und sich mit anderen Meinungen auseinanderzusetzen.»

Vier «Volksinitiativen» werden an diesem Mittwoch im Nationalratssaal behandelt. Eine will Unternehmen verpflichten, «im Verwaltungsrat eine Vertretung der Gewerkschaften aufzunehmen», eine andere will vorschreiben, «dass neue Gebäude nur noch mit erneuerbarer Energie versorgt werden». Die dritte Initiative unter dem Titel «Mehr Platz für Menschen» fordert bessere Bedingungen für den Fussgänger- und Veloverkehr. Zudem soll der Bund eine unterirdische Infrastruktur bauen und betreiben. Und schliesslich geht es in der vierten Initiative darum, dass der Bund die Hälfte der Fahrkosten im öffentlichen Verkehr übernimmt.

Dokumente mit professionellem Anstrich

Zu allen vier Initiativen liegt die Stellungnahme des «Bundesrats» vor. Verfasst hat die entsprechenden Botschaften Dieter Biedermann, Mitglied des Vorstands «Schulen nach Bern» und früherer Stv. Abteilungsleiter im Bundesamt für Justiz. Somit haben die Dokumente, die am Projekttag vor der Parlamentsdebatte in den Kommissionen und Fraktionen beraten werden, einen durchaus professionellen Anstrich. Realitätsnah ist auch, dass neben den «Volksinitiativen» dem «Parlament» und den Anträgen des «Bundesrats» auch verschiedene Gegenentwürfe der Kommissionen vorliegen, die vor allem zeigen, dass man sich in den vorbereitenden Gremien um mehrheitsfähige Kompromisse bemüht hat, was ja durchaus im Sinne des Spiels ist.

Komissionssprecher, Fraktionssprecher, Einzelsprecher, Bundesrat, Abstimmung – der Ablauf der Spiel-Debatte folgt dem Drehbuch einer normalen Parlamentssitzung. Die jugendlichen Mitglieder des Rats folgen aufmerksam den Voten. Vor 60 Kolleginnen und Kollegen zu reden, sei sicher eine grosse Herausforderung, bemerkt Yvonne Mäder, «aber es ist von Bedeutung, weil dadurch das Selbstwertgefühl der Schülerinnen und Schüler gestärkt wird». 

Rollen werden ernsthaft gespielt

Solche Auftritte sind für «Bundesrätin» Regula Rytz längst Routine. Sie spielt die ihr zugeteilte Rolle mit dem gleichen Ernst, wie es bei den «Parlamentarierinnen» und «Parlamentariern» im Saal der Fall ist. Beiläufig baut sie in ihre Voten ein wenig Staatskunde ein, so mit dem Hinweis auf die drei staatspolitischen Ebenen von Bund, Kanton und Gemeinden, die ihre je eigenen Kompetenzen hätten, oder mit der Erklärung, dass es im Bundesrat durchaus unterschiedliche Meinungen gebe, dass man aber, sobald ein Entscheid getroffen worden sei, nach aussen die Haltung der Landesregierung vertrete. Rytz erinnert die «Nationalrätinnen» und «Nationalräte» auch daran, dass in der Schweiz das Volk das letzte Wort habe. «Sie müssen deshalb immer daran denken, was Ihre Entscheide für die Menschen bedeuten, für die Jungen, die Älteren. Überlegen Sie es sich gut!» 

Die Debatte verläuft gesittet. Die Sprecherinnen und Sprecher der Fraktionen markieren zwar ihre Positionen, aber extreme Positionen haben kaum eine Chance. Der Bau einer unterirdischen Infrastruktur sei zu teuer. Oder: Es könne doch nicht sein, dass die Interessen der Arbeitnehmenden in einem Verwaltungsrat nur durch Gewerkschaften vertreten würden, wie dies die entsprechende «Initiative» fordere. Und: Wenn der Bund die Hälfte der Fahrkosten für den öffentlichen Verkehr übernehmen müsse, bestehe die Gefahr, dass aus Spargründen die Gehälter für das Personal reduziert würden.

Überraschung bei der letzten Abstimmung

Die Abstimmungsergebnisse zu den einzelnen Volksinitiativen und den Gegenentwürfen fallen sehr unterschiedlich aus. So siegt in der Frage der Arbeitnehmervertretung in Verwaltungsräten der Gegenentwurf der Kommission, der nach Unternehmensgrösse differenziert. Zudem würden auch die Arbeitnehmenden in kleineren Betrieben geschützt, dies im Unterschied zum Antrag des Bundesrates, der nur für Unternehmen ab 1000 Beschäftigten Vorschriften machen wolle. Die Initiative wird dem Volk mit grosser Mehrheit zur Ablehnung empfohlen. Mit deutlicher Mehrheit unterstützt das Parlament hingegen die Initiative «Erneuerbare Energie macht Zukunft», dies gegen den abschwächenden Antrag der Kommission. Für das Argument des «Bundesrats», die Initiative missachte die Kompetenzen von Kantonen und Gemeinden, hat die Parlamentsmehrheit kein Gehör.

Nach dem doppelten Nein zu Gegenvorschlag und Initiative «Mehr Platz für Menschen» kommt es in der letzten Abstimmung zu einer Überraschung: Die von der Klasse 4b aus Balerna eingebrachte Initiative «Halber Preis für öffentliche Verkehrsmittel» wird mit 31:28 Stimmen dem Volk zur Annahme empfohlen. Nachdem der Gegenentwurf der Kommission deutlich abgelehnt wurde, hatte man erwartet, dass die radikalere Forderung der Initiative keine Chancen haben würde. Der Jubel bei den erfolgreichen Tessinern, die zuvor in der Abstimmung ihre Kolleginnen und Kollegen mit entsprechenden Gesten zum Ja-Stimmen animiert haben, ist entsprechend gross. 

Mehrarbeit für die Klasse aus Baar

Nach den Projekttagen in Bern mit den Kommissions- und Fraktionssitzungen sowie der Parlamentsdebatte folgt nun die Nachbereitung, bei der Schulklassen und die beteiligte Lehrpersonen wie schon bei der gesamten Vorbereitung von Liliane Wenger, ZDA-Mitarbeiterin und Leiterin des Projekts «SpielPolitik!», unterstützt werden. Alle Klassen, die im Verlauf dieses Schuljahrs am Planspiel teilgenommen haben, bekommen jetzt eine neue Rolle: Sie bilden den «Souverän», der über jene fünf Volksinitiativen abstimmen wird, welche an den Sessionen in Bern die stärksten Mehrheiten gefunden haben. Aus dieser Runde wird sich die Energie-Initiative der SUP vor dem Volk bewähren müssen. Das bedeutet für die Initianten aus Baar Mehrarbeit: Sie müssen das Volk von ihrem Anliegen überzeugen.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Synes Ernst ist Spielekritiker. Als ehemaliger Bundeshausjournalist interessiert er sich auch für Politik und politische Bildung. Aus diesem Grund wirkt er im Vorstand des Vereins «Schulen nach Bern» mit.
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

Zum Infosperber-Dossier:

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