Kommentar

Der Spieler: Das grosse Rätselraten hat begonnen

Synes Ernst ©

Synes Ernst. Der Spieler /  Nach dem Vorentscheid der Jury beginnt das schönste Spiel des Jahres: Das grosse Rätselraten, welcher Titel das Rennen machen wird.

Für alle, bei denen zu Hause mehr als nur «Monopoly» im Regal steht, beginnt jetzt eine der aufregendsten Phasen im Spielejahr: Wer gewinnt die weltweit wichtigste Auszeichnung im Bereich der Gesellschafts-, Brett- und Kartenspiele? Nachdem die Jury «Spiel des Jahres» unlängst ihre Vorentscheidungen bekannt gegeben hat, laufen in der Branche und in der Szene die Spekulationen auf vollen Touren.

Zweimal David gegen einen Goliath

Die Ausgangslage ist beim «Spiel des Jahres» ähnlich wie vor zwei Jahren. 2013 standen mit dem nachmaligen Preisträger «Hanabi» und dem Würfelspiel «Qwizz» zwei kleinere Spiele einem «normalen» Gesellschaftsspiel («Augustus») gegenüber. Jetzt hat die Jury neben dem grossen «Colt Express» die beiden «kleinen» «Machi Koro» und «The Game» nominiert, also wiederum zweimal David gegen einen Goliath.

Was das Format betrifft, so ist die Konstellation durchaus vergleichbar. Aber nur, was die Verpackungsgrösse und den Materialaufwand betrifft. Denn in einem wesentlichen Punkt unterscheidet sich 2015 von 2013: Die Jury hatte 2013 zum ersten Mal in ihrer Geschichte zwei kleinformatige Karten- und Würfelspiele nominiert und damit ernsthaft als Anwärter für den Preis «Spiel des Jahres» in Betracht gezogen. Mit dieser Nominierung wolle man auch zeigen, dass die Qualität eines Spiels nicht von äusseren Kriterien wie eben dem Format abhängig sei, schrieb die Jury damals in ihrem Kommentar. Vor diesem Hintergrund konnte die Jury nicht anders, als eines der beiden Kleinformatigen zum «Spiel des Jahres» wählen. Alles andere hätte aus ihrem Bekenntnis zur Gleichberechtigung der Formate Makulatur gemacht. Die Wahl fiel zugunsten von «Hanabi» aus. Eine gute Entscheidung, wie der bis heute anhaltende Erfolg des kooperativen Kartenablegespiels beweist.

Nachdem die Jury 2013 getan hat, was sie tun musste, steht sie diesmal nicht mehr unter einem derart hohen Erwartungsdruck. Von den Erwartungen und Hoffnungen bei den drei Verlagen, aus denen die nominierten Spiele stammen, sprechen wir hier selbstverständlich nicht. Die Jury wählt unabhängig davon und sucht sich gemäss Vereinssatzung aus dem aktuellen Angebot jenes Spiel aus, das ihrer Ansicht nach am besten geeignet ist, «die Verbreitung des Spiels als Kulturgut in Familie und Gesellschaft weiter zu fördern und zu stärken». Die Vorauswahl ist getroffen. Jetzt lautet die Frage: «Colt Express», «Machi Koro» oder «The Game»?

Jeder hätte das Zeug zum Preisträger

Nehmen wir es vorweg: Jeder dieser drei Titel hat das Potenzial zum «Spiel des Jahres». Das entspricht der breit abgestützten Einschätzung, dass es 2015 keinen klaren Favoriten gibt. Auch keinen Geheimfavoriten. «Colt Express», «Machi Koro» und «The Game» lassen sich jedoch nicht über einen Leisten schlagen, sondern steigen mit unterschiedlichen Qualifikationen ins Schlussrennen.

  • Thema, Ausstattung und Gestaltung versetzen einen in «Colt Express» in den Wilden Westen. Es kämpfen jedoch nicht Viehdiebe gegen Cowboys und Sheriffs. Spielerinnen und Spieler schlüpfen in die Rolle von Banditen, die es auf Reisende und Beute in einem Zug abgesehen haben, der langsam durch die Wüste rollt. Die Kämpfe sind hart und gnadenlos, Fäuste und Pistolen kommen zum Einsatz. Wer nicht aufpasst, gerät leicht in einen Hinterhalt. Hie und da tritt der Marshall, der auf dem Zug mitfährt, als Spielverderber auf. «Colt Express» ist ein Planungsspiel, bei dem alle Teilnehmenden jeweils zuerst die Aktionen festlegen, die sie in der nachfolgenden Runde ausführen werden. Da zeigt sich dann schnell, dass selbst die taktisch beste Planung im Chaos enden kann – ein wildes Action-Spiel, das viele Emotionen provoziert und daher von hohem Unterhaltungswert ist. «Colt Express» hat meines Erachtens zwei Schwächen: Es gibt erstens zwar eine Spielanleitung für zwei Personen, aber es ist definitiv kein Zweipersonenspiel. «Colt Express» entfaltet sich erst ab drei und mehr Mitspielenden. Zweitens ist der dreidimensional gestaltete Zug zwar für die Stimmung gut, aber das Versetzen der Figuren in den Waggons ist für Menschen, die nicht gerade Pianisten-Finger besitzen, eher mühsam.
  • Sollte «Machi Koro» obenaus schwingen, wäre damit eine Premiere verbunden: Noch nie hat ein japanischer Autor die Auszeichnung «Spiel des Jahres» gewonnen. Das taktische Würfelspiel mit Karten steht somit auch für eine Entwicklung, die in den vergangenen Jahren immer stärker geworden ist – die Internationalisierung des Spiels. Sie betrifft alle Bereiche von den Verlagen über die Autoren bis hin zum Publikum und ist besonders manifest an den Internationalen Spieltagen in Essen. Dort hatte vor eineinhalb Jahren «Machi Koro» seinen ersten Auftritt im deutschsprachigen Europa und sorgte gleich für Aufsehen. Die Web-Gemeinde sprach gar von einem neuen «Siedler von Catan», was aber falsche Erwartungen weckte: «Machi Koro» ist kein Handelsspiel, sondern in erster Linie ein zufallgesteuertes Städtebauspiel. Es weckt in den Teilnehmenden einen menschlichen Ur-Instinkt – wie lässt sich der Zufall mit List und Planung überwinden? Wohl mit dem Prinzip Hoffnung …
  • Wer ein Spiel «The Game» nennt, dem ist möglicherweise kein besserer Titel eingefallen. Oder er strotzt von Selbstbewusstsein. Ob die Verleger von «The Game» richtig gepokert haben, wird sich bei der Preisverleihung erweisen. Das Kartenablegespiel, das zur grossen Familie der Patiencen gehört, begeistert heute schon überall, wo es auf den Tisch kommt. Einfache Regeln, schneller Einstieg und ein sich selbst erklärender Ablauf machen «The Game» zu einem niederschwelligen Spiel für Jung und Alt. Das kooperative Element stellt eine wertvolle Bereicherung dar: Offenes und verdecktes Miteinander bringen Kommunikation und Emotion in eine von der Grundstruktur her eher nüchterne Zahlenspielerei. Wie man die düstere Grafik von «The Game» noch verbessern kann, zeigt die schweizerische Edition des Spiels, auf welcher der unnötige Totenkopf des deutschen Originals fehlt. Sollte «The Game» die Auszeichnung gewinnen, hätte der Verlag hier eine erste Hausaufgabe zu erfüllen.

So, nun darf weiter gerätselt werden. Genau bis zum 6. Juli, wenn die Jury um 10.30 Uhr die Preisträger «Spiel des Jahres» und «Kennerspiel des Jahres» bekannt gibt. Einen Monat früher, am 8. Juni, wird der Schleier über dem «Kinderspiel des Jahres» gelüftet.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Spielekritiker für das Ausgehmagazin «Apéro» der «Neuen Luzerner Zeitung». War lange Zeit in der Jury «Spiel des Jahres», heute noch beratendes Mitglied. Als solches nicht an der aktuellen Wahl beteiligt. Befasst sich mit dem Thema «Spielen – mehr als nur Unterhaltung».

Zum Infosperber-Dossier:

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