Peking_Verkehr

Verkehr in Peking: 2011 starben auf Chinas Strassen 62 000 Menschen. © wikipedia

Anarchisten mit oder ohne Helm

Peter G. Achten /  Während der Kulturrevolution sollte Rot das neue Grün sein. Autos gab es kaum, Ampeln wenig. Heute ist in China alles anders.

Die grossstädtischen Autofahrer leiden unter gigantischen Verkehrsstaus, und China ist jetzt auch in der Unfallstatistik die Nummer 1 der Welt. Die Partei dekretiert unfallverhütend nun schlicht: Gelb ist das neue Rot.

Lange ging alles – mehr oder weniger – gut. Die Fahrweise mit chinesischen Beonderheiten bestand darin, sich als Autofahrer, Fussgänger oder Velofahrer wie in einem fliessenden Gewässer zu bewegen. Das funktionierte einigermassen zufriedenstellend, bis die Autos überhand nahmen. Derzeit zirkulieren rund 240 Millionen Motorfahrzeuge aller Art auf Chinas Strassen, davon allein über fünf Millionen in Peking und dreieinhalb Millionen in Shanghai. Jedes Jahr kommen zwanzig Millionen Autos dazu. Überdies besitzen derzeit rund 260 Millionen Chinesinnen und Chinesen einen Führerschein. Was in den nächsten zehn Jahren auf China zukommt, kann man sich leicht an folgenden Zahlen ausmalen: auf tausend Einwohner kommen in China derzeit 56 Autos; in der Schweiz sind es 500 und in Amerika gar 840.

62’000 Verkehrstote im letzten Jahr

Rekordverdächtig sind laut Statistiken des Ministeriums für Öffentliche Sicherheit auch die Zahlen der Unfälle. Im Jahre 2011 sind auf Chinas Strassen 62’000 Menschen gestorben und 240’000 verletzt worden. Während der «Goldenen Woche» des Nationalfeiertages im Oktober 2012 sind allein 784 Menschen ums Leben gekommen. An den wie Wasser fliessenden Verkehr gewöhnt, nehmen Chinesinnen und Chinesen Verkerhsvorschriften tatsächlich wenig ernst, und wenden sie allenfalls als ziemlich unverbindliche Empfehlung an. Das hat neulich auch eine Umfrage des Verkehrsministeriums und der renommierten «Jugend-Tageszeitung» offenbart. Zwei Drittel der über zehntausend Befragten gaben – ohne Rot zu werden – an, dass sie Rotlichter überfahren.

Gleichzeitig sagten jedoch 93 Prozent, dass Verkehrsregeln beachtet werden sollten. Rund siebzig Prozent sprachen sich für strengere Bussen und Strafen aus. Verkehrspolizist Zheng Jian im Pekinger Dongcheng Distrikt meinte dazu philosophisch: «Alte Gewohnheiten lassen sich eben nur langsam eliminieren.» Verkehrsregeln seien gut, meinte Zheng Schulter zuckend, aber die Verkehrspolizei sei unterdotiert. Eine Hilfe seien zwar die vielen an kritischen Punkten installierten Kameras, aber um Verkehrssünder zu erwischen, brauche es mehr Personal.

Sind die Punkte weg, ist der Auweis weg

Zumindest sind nun nach längerem hin und her seit anfangs Jahr die Verkehrsregeln drastisch verschärft worden. Die im Gesetz verankerten Vergehen sind von 38 auf 52 erhöht und die Bussen sind so angesetzt worden, dass sie schmerzen. Vor allem aber ist das Punktesystem der chinesischen Verkehrssünderdatei von drakonischer Härte. In China hat jeder Autofahrer pro Jahr 12 Punkte auf dem Konto. Ein Rotlicht überfahren ist von drei neu auf sechs Punkte Abzug angehoben worden, bei Fahrerflucht, Alkohol am Steuer oder Nummernschild unkenntlich machten werden 12 Punkte abgezogen. Das heisst, der Fahrausweis ist weg. Um sich wieder ans Steuer setzen zu können, muss ein siebentägiger Kurs besucht und eine schwierige theoretische Prüfung bestanden werden.

Zu Diskussionen in der Öffentlichkeit, in Zeitungen und zu hunterttausendfachen, wütenden Meinungsäusserungen im Internet ist es vor allem wegen einer einzigen neuen Vorschrift gekommen. Wer eine gelbe Verkehrsampel überfährt, wird gleich bestraft wie wenn er das bei Rot getan hätte. Gelb ist also Rot. Allein vom Januar bis Oktober 2012 ereigneten sich 4’227 Unfälle mit 798 Toten, nur weil Fahrer bei Rot über die Kreuzungen fuhren. Doch die Autofahrer sind empört. Ein Blogger schrieb auf dem Twitter-ähnlichen Sina Weibo, man solle zur Melodie der kommunistischen Internationalen folgenden Text singen: «Autofahrer aller chinesischen Provinzen, vereinigt Euch! Schliessen wir uns zusammen und zeigen den neuen Regeln Rot!!» Die «Pekinger Nachrichten» und Radiostationen landauf, landab meldeten unterdessen unzählige Auffahrtunfälle. Vorschlag eines Kommentators: Alle Verkehrsampeln, wie bereits da und dort üblich, mit elektronischen Countdown-Anzeigen ausrüsten.

Auch Fussgänger werden härter gebüsst

Natürlich gelten die neuen Regeln auch für Fussgänger und Velofahrer. Bei Rotlicht über die Strasse gehen, kostet je nach Provinz jetzt 50 bis 100 Yuan (17 Franken 50). Allein, die Fussgänger kümmern sich nicht darum, sondern überqueren Quartier- aber auch Schnellstrassen «im chinesischen Stil», das heisst eben nach den Regeln fliessender Gewässer. Noch nie habe ich beobachtet, dass jemand gebüsst worden wäre. Die «Global Times», ein englischsprachiger Ableger des Parteiblattes «Renmin Ribao» (Volkszeitung) nahm in einem Kommentar die Fussgänger, die in «chinesischem Stil» vorgehen, sogar wortreich in Schutz. Die Verkehrsmapeln seien für den Autoverkehr geschaffen, und die Grünphase selbst für sportliche Fussgänger, geschweige denn für Alte, Schwangere und Kinder viel zu kurz. Folgerung: «Um das Problem zu lösen, müssen durch Erziehung und Unterweisung die Bürger für Verkehrsregeln sensibilisiert werden.» Im übrigen müssten das Verkehrs- und Städte-Management verbessert, die Rechte der Fussgänger voll respektiert und die Autofahrer ermuntert werden, sich auf der Strasse so wie in entwickelten Ländern zu verhalten.

Nur die Velofahrer haben weder in der Stadtregierung noch in den Medien eine Lobby. Dementsprechend verhalten sie sich auch. Ein Rotlicht ist auch jetzt nach der Neuerung kein Rotlicht, geschweige den Gelb. Die Radfahrer, darunter Ihr Korrespondent, sind die Anarchisten des chinesischen Verkehrs. Any thing goes, sozusagen. Noch vor fünfzehn Jahren in der Überzahl, sind die Radfahrer jetzt wohl eine, wenn auch landesweit mit fast einer halben Milliarde, gewichtige Minderheit. Doch die einst schön breiten Fahrradwege sind immer mehr von den Autos vereinnahmt worden. Vor zwei Jahren hat der oberste Verkehrspolizist der Hauptstadt des Reichs der Mitte die Velofahrer als «grösstes Problem» des Pekinger Verkehrs bezeichnet. Sei’s drum, aber im Dickicht des Verkehrsdschungels während der Rushhour sind die Velofahrer immer noch schneller als jeder Ferrari, Porsche, Humer oder Volkswagen. Aber gefährlich leben sie fürwahr. Mit oder ohne Helm.

Die Rettung: der öffentliche Verkehr

Über die neue Rot-Gelb-Vorschrift sind die Taxifahrer besonders empört. An der Jianguomen-Brücke in Peking stoppte ein mir bekannter Fahrer bei Gelb im letzten Moment. Zwei nachfolgende Wagen krachten ins Taxiheck. «Das hat mir gerade noch gefehlt», fluchte Xiao Fen. Sein Leben sei mit einer Sechstage-Woche und mindesten Zwölfstunden-Tagen schon hart genug.

Mit Gelb-Rot jedenfalls wird der eh schon zögerliche Verkehrsfluss nochmals verlangsamt. Darüber sind sich vom Verkehrspolizisten über den Taxifahrer, Fussgänger, Velofahrer bis hin zum Städteplaner alle einig. Um den Verkehrs-Kollaps zu verhindern, setzen Chinas Grossstädte mit massiven Investitionen auf den öffentlichen Verkehr. Eben sind in Peking über 60 Kilometer einer neuen Untergrundbahnlinie eröffnet worden. Die Pekinger Metro ist nun mit 442 Kilometern vor London und Shanghai die längste der Welt. Und wird es wohl auch bleiben. Im Jahre 2020 werden es 1’000 Kilometer sein.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

keine

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Hohe Wachstumszahlen; riesige Devisenreserven; sozialer Konfliktstoff; Umweltzerstörung; Herrschaft einer Partei

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