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Eine Frau litt nach zwei Verkehrsunfällen mit Totalschaden an einem Schleudertrauma. Nach 18 Jahren strich die Allianz ihr die Rente. Der Fall landete vor Bundesgericht. © Depositphotos

Perfide Tricks: Allianz geht gegen Versicherte vor

Andres Eberhard /  Die Allianz streicht systematisch Unfallrenten. Trotzdem darf die Versicherung weitermachen.

Die Allianz Suisse hebt kleine Unfallrenten akribisch auf. Sie konzentriert sich dabei auf Fälle, die schon 10, 20 Jahre oder noch länger zurückliegen. Weil sich die Betroffenen wehren, landen die Fälle derzeit zu Hunderten vor Gericht. Das zeigen Infosperber-Recherchen aufgrund eines Falls, der letzte Woche am Bundesgericht verhandelt wurde.

Die Empörung bei Versicherten und Anwälten ist gross. «Was sich die Allianz erlaubt, ist in meinen Augen skandalös», sagt Rainer Deecke vom Verband Versicherte Schweiz. Der Luzerner Anwalt Christian Haag ergänzt: «Die Betroffenen sind beruflich desintegriert und haben keinerlei Chance auf einen beruflichen Wiedereinstieg.» Viele sind längst pensioniert und müssen fortan mit der ordentlichen Altersrente auskommen.

Die Renten streicht die Allianz mit einem Trick: Sie argumentiert, dass der Rentenentscheid nichtig sei, da ein «adäquater» kausaler Zusammenhang zwischen Unfall und Beschwerden damals vor langer Zeit nicht richtig geprüft worden sei. Ein Rentenentscheid setzt eine korrekt erfolgte Prüfung voraus.

Der Trick ist in dreifacher Hinsicht perfide:

  • Erstens: Nach 20 Jahren ist es häufig schwer festzustellen, ob und wie genau die Versicherung diese Prüfung tatsächlich vorgenommen hatte. Oft einigten sich die Parteien auf Vergleiche, die mündlich abgesprochen und nur schlecht dokumentiert sind. Selbst wenn erfahrene Sozialversicherungsexperten im Ergebnis richtig entschieden: Ein formeller Fehler reicht aus juristischer Sicht aus, um Rentenentscheide Jahrzehnte später zu kippen.
  • Zweitens: Die angeblichen Fehler sind hausgemacht. Die meisten beanstandeten Fälle gehen weit in die 1990er-Jahre zurück und stammen von der Vorgänger-Versicherung Elvia. Die Allianz-Gruppe übernahm Elvia im Jahr 2002.
  • Drittens: Die Elvia hat sich für viele Renten, die sie aufgrund der Unfälle zahlen musste, längst schadlos gehalten, weil sie sich von Haftpflichtversicherungen zahlen liess. Im Fall, den das Bundesgericht letzte Woche verhandelte, erhielt die Allianz von Haftpflichtversicherungen gemäss Akten total 390’000 Franken. Das heisst, dass die Allianz bereits Geld für Rentenleistungen erhielt, die sie nun nicht mehr zahlen will. «Unter dem Strich macht die Allianz potenziell Gewinn zulasten von Unfallopfern», kritisiert Anwalt Christian Haag.

Keine andere Versicherung ist so dreist

Die Allianz ist die einzige Unfallversicherung, die dermassen gezielt und akribisch bei alten Unfallopfern spart. Das machte eine öffentlich geführte Verhandlung des Bundesgerichts letzte Woche deutlich. «Wir haben Anhaltspunkte, dass die Allianz systematisch alte, längst erledigte Fälle daraufhin prüft, ob eine Wiedererwägung möglich ist. Mir ist keine andere Unfallversicherung bekannt, die so vorgeht», sagte Bundesrichter Marcel Maillard (Die Mitte). Maillard ist seit 2008 Bundesrichter und damit der erfahrenste seiner Abteilung. Er bezeichnete das Vorgehen der Versicherung als «stossend».

Dennoch seien dem Bundesgericht die Hände gebunden. Denn die Praxis der Allianz sei rechtens. Auch nach vielen Jahren könne ein Rentenentscheid gemäss Gesetz in Wiedererwägung gezogen werden. So argumentierten neben Maillard auch die beiden Bundesrichterinnen Daniela Viscione und Alexia Heine (beide SVP).

Im Fall, den die Richter zu beraten hatten, ging es um die Beschwerde einer 72-jährigen ehemaligen Kindergärtnerin aus dem Kanton Aargau, deren Teilrente nach 18 Jahren aufgehoben wurde. Zu diesem Zeitpunkt war sie längst in Pension. In den 1990er-Jahren hatte die Frau unverschuldet zwei Verkehrsunfälle jeweils mit Totalschaden erlitten, worauf Ärzte bei ihr ein Schleudertrauma diagnostizierten. Die Frau reduzierte ihre Arbeit und bezog eine Unfallrente von 25 Prozent.

Zwei Bundesrichter wollten Praxis unterbinden

Die SP-Richter Martin Wirthlin und Bernard Abrecht wollten die Beschwerde gutheissen. Es sei das Bundesgericht selbst gewesen, welches vor rund sechs Jahren die stossende Praxis der Allianz überhaupt ermöglicht habe. «Das war ein Sündenfall», sagte Wirthlin. «Lieber ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende.» Seine Forderung nach Rechtssicherheit für die Betroffenen blieb aber letztlich erfolglos. Mit 3:2-Stimmen wies das Bundesgericht die Beschwerde ab.

Damit kann die Allianz weiterhin mit Hilfe juristischer Tricks alte Unfallrenten aufheben. Gestoppt werden kann sie nun nur noch von der Politik. Noch gibt es aber keinen Versuch, das rechtliche Schlupfloch zu stopfen.

Die Allianz Suisse wollte sich zu den Vorwürfen nicht äussern.

Ex-Mitarbeiter: «Grosser Spardruck»

Der Grund dafür, dass die Allianz Suisse systematisch rechtliche Schlupflöcher sucht, um Renten aufzuheben, sei die Sparpolitik der Versicherung im Segment der komplexen Personenschäden. Das sagt ein ehemaliger langjähriger Mitarbeiter der Allianz Suisse gegenüber Infosperber. Weil bereits ein einziger Fall mehrere Millionen Franken kosten könne und damit geschäftsrelevant sei, versuche die Allianz Suisse, in diesem Bereich gezielt Einsparungen zu erzielen.

Durch Zielvereinbarungen würde Druck auf die einzelnen Mitarbeitenden ausgeübt. In seiner Zeit als Personenschadenspezialist bei der Allianz Suisse habe er pro Jahr 30 Fälle ausfindig machen müssen, um sein persönliches Sparziel zu erreichen. Lohnerhöhungen seien dann je nach Grad der Zielerreichung verteilt worden. «Ich war um jede sich bietende Gelegenheit froh, wo ich eine solche Einsparung erzielen und dokumentieren konnte.» Der Mann war bis 2018 bei der Allianz Suisse beschäftigt. Ob sich seither etwas grundlegend geändert habe, weiss er nicht. Er gehe aber nicht davon aus. Später arbeitete er noch bei anderen Allianz-Gesellschaften. Dort habe er keine solche Praktiken erlebt.

Der Mann erlebte es als belastend, diverse Ziele erreichen zu müssen, welche hauptsächlich auf das Erreichen von Einsparungen ausgerichtet waren. Auch das Melden von potenziellen Betrugsfällen, die Beauftragung von Case Managern sowie die permanente, rigide Kontrolle der Berechnung von zukünftigen Leistungen bei Invaliditätsfällen hätten dazu gehört. «Es fragt sich, wie weit man gehen darf, so dass es noch ethisch vertretbar ist», so der Ex-Mitarbeiter.

Die Allianz Suisse wollte keine Stellung zu den Vorwürfen nehmen.


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Keine
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6 Meinungen

  • am 25.03.2023 um 21:50 Uhr
    Permalink

    Diese Kundenunfreundlichkeit wäre ein Grund zur Kündigung.

    • am 30.03.2023 um 14:02 Uhr
      Permalink

      Ich hoffe, dass viele Kunden aus dem «wäre» ein «ist» machen.

  • am 25.03.2023 um 21:56 Uhr
    Permalink

    In der Konsequenz werde ich für meinen Teil meine Versicherungen insgesamt wo anders hin verlagern. Mir scheint, der einzige Weg um Protestieren zu können. Wer braucht schon eine Versicherung bei der man sich nur versichern kann wenn man Rechtschutzversichert ist?
    Gute Geld für gute Leistung war denn ja wohl mal und rechtfertigt dann auch nicht mehr die vergleichsweise höheren Prämien.

  • am 26.03.2023 um 10:18 Uhr
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    Leider sind das keine News, denn diese Versicherung ist für solches Vorgehen seit weit mehr als ein Jahrzehnt bekannt. Das Geschäftsmodell heisst, erst bezahlen wenn man vor Gericht verloren hat. Das ist hier sehr lukrativ, denn 98% machen höchstens die Faust im Sack. Dank Lobbygelder schauen Politik, Behörden und Justiz weg. Es wäre höchste Zeit, dass dieses Unternehmen systematisch boykottiert würde. Von der FINMA kann man ja bekanntlich nichts erwarten.

  • am 27.03.2023 um 01:45 Uhr
    Permalink

    Coopzeitung (12.10.2010) berichtet über Caroline Bono (Buch: «Allein gegen Goliath»). Sie wurde Opfer eines Auffahrunfalls am Bürkliplatz in Zürich. Ärzte bescheinigten ihr Verletzungen an der Halswirbelsäule und eine Rückenmarkquetschung. Seit dem Unfall vor acht Jahren kämpft sie für eine Entschädigung durch Ihre Versicherung und für eine IV-Rente. Coopzeitung: Weshalb haben Sie über Ihre Erfahrungen ein Buch geschrieben? Der Hauptgrund war, dass ich es als Anwältin nicht für möglich gehalten hatte, womit ich durch meinen Fall und die Beratung von anderen Unfallopfern konfrontiert wurde: In einem Rechtsstaat wie der Schweiz verschwinden Röntgenbilder, Krankengeschichten werden geändert und Autoschäden unterschlagen.
    Sie ist Mitgründerin der Stiftung «Schutz ohne Grenzen» für Unfallopfer:
    https://www.fundraiso.ch/sponsor/stiftung-schutz-ohne-grenzen
    https://stiftungen.stiftungschweiz.ch/organisation/stiftung-schutz-ohne-grenzen
    https://www.woerterseh.ch/produkt/allein-gegen-goliath/

    • am 27.03.2023 um 15:03 Uhr
      Permalink

      «Rechtsstaat, wie in der Schweiz » das war vielleicht früher einmal. Zu Zeiten Wilhelm Tell’s, der noch selber dafür sorgte und den 2. Pfeil aus dem Köcher nahm ! Seit das Schweizer Sackmesser in China hergestellt, das Matterhorn von der Tobler-o(h)ne verschwunden ist, isch’s nümme wiie frücher !

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