Kommentar

Schlechte Zeiten für «Gemeinschaft»

Klaus Mendler ©

Klaus Mendler /  Ein literaturkritischer Radiobeitrag wirft unfreiwillig ein Schlaglicht auf den ideologischen Hintergrund unseres Zeitgeistes.

Red. Der Autor dieses Gastbeitrags ist studierter Historiker und Germanist.

Der Deutschlandfunk bringt in seiner Sendung «Büchermarkt» täglich Rezensionen literarischer Neuveröffentlichungen. Am 24. November 2025 rezensierte Michael Eggers das Buch «In der Nähe. Vom politischen Wert einer ostdeutschen Sehnsucht» von Simon Strauss, und sein Urteil fiel nicht besonders positiv aus. Allerdings waren seine Betrachtungen aus anderen Gründen sehr interessant.

Simon Strauss ist FAZ-Redakteur und Sohn des Schriftstellers Botho Strauss. Seit seinem literarischen Erstling «Sieben Nächte» von 2017 ist er mit Vorwürfen konfrontiert, er stehe politisch rechts und unterstütze die AfD. Dies wird allerdings von Schriftstellerkollegen, die ihn persönlich kennen, klar zurückgewiesen. Michael Eggers zufolge stellt sich diese Kontroverse so dar, dass die einen Simon Strauss als konservativ wahrnehmen, während andere bei ihm «rechtsgerichtete Tendenzen» sehen.

Wer schon etwas älter ist und mehrere Dekaden der deutschen Zeitgeschichte überblicken kann, stutzt an dieser Stelle zum ersten Mal: «Konservativ» gegen «rechts»? Sind diese Begriffe nicht synonym? Sie waren es zumindest früher mal, denn vor dreissig Jahren galt die CDU/CSU als konservativ und rechts, die SPD dagegen als links. Dies waren keine abwertenden Bezeichnungen, sondern ganz normale Orientierungen im demokratischen Meinungsspektrum. Eine Abwertung kam erst mit dem Zusatz «-radikal» oder gar «-extremistisch» ins Spiel. So sagte der bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauss 1987 in einem bekannten Zitat, rechts von der CSU dürfe es keine demokratisch legitimierte Partei geben. Rechts von rechts, das war rechtsradikal und damit ausserhalb des akzeptierten Spektrums, aber einfach nur «rechts» war eine völlig legitime Haltung.

Verschiebung im Rechts-Links-Spektrum

Wie der Vorwurf gegen Simon Strauss zeigt, er sei möglicherweise «rechts», hat hier offenbar eine unmerkliche Verschiebung stattgefunden. Gesellschaftlich erwünscht und akzeptiert ist eine Positionierung in der liberalen «Mitte», Abweichungen nach rechts oder links erscheinen verdächtig. Dieses Muster wurde bei allen grossen Debatten der letzten Jahre, ob über Corona, die Ukraine oder Gaza, deutlich sichtbar.

Der DLF-Rezensent Eggers fasst den Inhalt des Buches «In der Nähe» folgendermassen zusammen: In Zeiten wachsender sozialer Kälte und dem Auseinanderdriften verschiedener gesellschaftlicher Gruppierungen begibt sich der Autor Simon Strauss auf die Suche nach Gemeinschaft, und er findet sie in der ostdeutschen Kleinstadt Prenzlau. Dort führt er Gespräche mit verschiedenen Menschen, zum Beispiel einem Lokalpolitiker der AfD, Arbeitern eines Armaturenwerks oder einem syrischen Flüchtling, wobei im Zentrum immer die Frage nach dem Gemeinsinn, dem gemeinschaftlichen Zusammenleben steht. Den direkten Kontrast dazu bildet eine Wahlkampfrede des damaligen Bundeskanzlers Scholz in Prenzlau, die von den Bürgern als zu abstrakt und fern von ihrer Lebensrealität empfunden wird. Für Simon Strauss bildet die kleinstädtische Gemeinschaft Prenzlaus ein Modell für ganz Deutschland, was der Rezensent Eggers «sehr zweifelhaft» findet. Ihn stört auch die gelegentlich etwas pathetische Sprache, der «George-Kreis-Tonfall» des Buches. Dem könnte man vielleicht zustimmen und diese ganze, nicht besonders spektakuläre Rezension wieder vergessen – wären da nicht die irritierenden Sätze, mit denen Eggers seinen Text beendet:

«Der von ihm an vielen Stellen so positiv beschworene Begriff der Gemeinschaft aber hat eine hoch problematische Geschichte, auf die Strauss nicht eingeht. Es war der Begründer der deutschen Soziologie, Ferdinand Tönnies, der ‹Gemeinschaft› und ‹Gesellschaft› bereits Ende des 19. Jahrhunderts voneinander differenziert hat. In der Zeit des Nationalsozialismus wurde dann die ideologisch hoch aufgeladene Idee einer ‹Volksgemeinschaft› konstruiert, mit allen fatalen Implikationen. Eine ausdrückliche Abgrenzung zu dieser missbräuchlichen Wortverwendung wäre das Mindeste gewesen. Ob der eigentlich historisch sehr reflektierte Strauss die Vorgeschichte einer der Leitvokabeln seiner Argumentation bewusst verschweigt oder ob er sie nicht kennt, bleibt unklar, und man weiss nicht recht, was schlimmer wäre.»

DLF-Rezensent Eggers fordert also, wer den alltäglichen Begriff ‹Gemeinschaft› verwende, müsse dabei immer im Kopf haben, dass ein Gelehrter vor 138 Jahren ein Buch darüber geschrieben hat. Kann er das ernst meinen?

Was würde er jemandem sagen, der von einem ‹Ereignis› redet? «Wissen Sie nicht, dass Martin Heidegger ein Buch mit dem Titel ‹Vom Ereignis› geschrieben hat? Heidegger war Mitglied der NSDAP! Bei dieser Wortwahl wäre also eine ausdrückliche Abgrenzung zum Nationalsozialismus das Mindeste!» – Dies ist offensichtlich grotesk.

Es ist schon ein starkes Stück, wie Eggers einfach mit dem kleinen Wörtchen ‹dann› von Ferdinand Tönnies zum Nationalsozialismus kommt, als ob es da einen direkten Zusammenhang gäbe – aber lassen wir das mal auf sich beruhen. Wie steht es mit der Forderung, Simon Strauss hätte sich ausdrücklich von der nationalsozialistischen ‹Volksgemeinschaft› distanzieren müssen? Ein wesentliches Merkmal dieser Volksgemeinschaft bestand darin, dass ihr nicht alle Menschen angehören konnten, sondern bestimmte Menschen aufgrund ihrer Herkunft davon ausgeschlossen wurden. Simon Strauss lässt in seinem Buch keinen Zweifel aufkommen, dass zu seiner Idee der Gemeinschaft sowohl der AfD-Politiker als auch der syrische Flüchtling gehören. Dies zeigt seine Haltung klarer als jede verbale Distanzierung.

Gemeinschaft ist mehr als die Summe der Individuen

Wenn man sich die Rezension anhört, wird man den Eindruck nicht los, der Autor Eggers habe generell etwas gegen die Idee der Gemeinschaft, ohne dies ausdrücklich zu äussern. An einer Stelle unterläuft ihm jedoch eine aufschlussreiche Formulierung: Sozialer Zusammenhalt entstehe daraus, «dass viele Einzelne sich für alle einsetzen». Demzufolge ist Gemeinschaft nichts als eine Zusammenfassung vieler Einzelner, aber dies geht völlig am Kern der Idee vorbei. Wie ein alter, weiser Satz besagt: Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. Eine Gemeinschaft ist viel mehr als die Summe der einzelnen Teilnehmer.

Die Ablehnung dieser Idee weckt Erinnerungen an ein Grunddogma des Neoliberalismus, das Margret Thatcher formulierte: «There is no such thing as society», so etwas wie Gesellschaft (oder Gemeinschaft) gibt es nicht, es gibt nur Individuen, die ihre eigenen egoistischen Interessen verfolgen. Ihre Gier treibt den Konsum an, dadurch floriert die Wirtschaft und alle haben Arbeitsplätze. Demokratie ist, wenn alle gemäss ihrer egoistischen Interessen wählen, und die stärksten Interessen setzen sich dann durch.

Aber wer so denkt, vergisst dabei einen Mitbegründer der modernen Demokratie, Jean-Jacques Rousseau, demzufolge Demokratie gerade nicht dadurch entsteht, dass die Bürger sich bei Abstimmungen an ihren egoistischen Interessen orientieren. Sie müssen im Gegenteil von ihren privaten Interessen abstrahieren, darüber hinausblicken und fragen, was das beste für die Gemeinschaft, das Gemeinwohl ist.

Nur so entsteht echte Demokratie.

Es ist natürlich legitim, dies für antiquierten romantischen Unsinn zu halten und mit Margret Thatcher, Ayn Rand, Friedrich August von Hayek und ähnlichen neoliberalen Ideologen das Loblied des Egoismus anzustimmen. Aber dann sollte man dies auch klar benennen. Ob der DLF-Rezensent Michael Eggers diese Hintergründe seiner Argumentation bewusst verschweigt, oder ob er sie nicht kennt, bleibt unklar, und man weiss nicht recht, was schlimmer wäre.


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