Kommentar
Warum Personenfreizügigkeit uns allen schadet
Die modernen Ökonomen sind unisono für flexible Arbeitsmärkte bis hin zum grenzüberschreitenden freien Personenverkehr. Sie begründen dies damit, dass die Arbeitskräfte dann am meisten zum Bruttoinlandprodukt beitragen, wenn sie punktgenau immer dort und dann eingesetzt werden, wo sie den grössten Nutzen bringen.
Etwa wenn eine Firma ihre dringend benötigten Spezialisten nicht bloss im eigenen Land suchen muss. Oder wenn der Bauunternehmer in Süddeutschland sein Personal besser auslasten kann, indem er es auf Montage in die Schweiz entsendet. Aus all diesen Gründen sollen die Arbeitsmärkte örtlich und zeitlich flexibel sein und werden Arbeitslose verpflichtet, für eine neue Stelle lange Arbeitswege in Kauf zu nehmen.
Mehr BIP heisst nicht immer: mehr Wohlstand
Die Ökonomen begründen ihre Maxime damit, dass mehr BIP mehr Wohlstand schaffe. Doch trifft dies auch dann zu, wenn das BIP-Wachstum durch flexible Arbeitsmärkte erkauft werden muss?
Zweifel sind angebracht: Es könnte durchaus sein, dass das durch die Flexibilität gewonnene BIP durch die zusätzlichen Wegkosten und -zeiten und die damit verbundenen Umweltschäden mehr als aufgebraucht wird. Das BIP steigt zwar insgesamt, aber der nach Abzug dieser Kosten verbleibende «essbare» Teil schrumpft.
Wenn man bedenkt, dass der durchschnittliche Arbeitsweg in der Schweiz eine Stunde beträgt und dass die entsprechenden Wegkosten mindestens weitere 20 Arbeitsminuten ausmachen, ist diese Annahme sogar sehr wahrscheinlich.

Bereits Aristoteles argumentierte anders. Ihm ging es um die Grundsatzfrage, ob zusätzliches «Zeug» überhaupt etwas dazu beiträgt, worauf es wirklich ankommt, nämlich zu einem «guten Leben». Martha Nussbaum fasst seine Meinung dazu so zusammen: «Zu viel Reichtum kann zu einem extremen Konkurrenzdenken oder zu einer extremen Konzentration auf technische und verwaltungsmässige Aufgaben führen und die Menschen von sozialen Kontakten, von der Beschäftigung mit den Künsten, vom Lernen und Nachdenken abhalten.»
Aristoteles hat natürlich recht: Noch mehr Zeug (heute reden wir von BIP) hat bestenfalls einen kleinen Einfluss auf das gute Leben. Umso wichtiger ist die Frage, wie sich BIP-steigernde Massnahmen – wie insbesondere die Flexibilisierung der Arbeitsmärkte – auf wichtigere Aspekte des guten Lebens auswirken.
Integrative Funktion der Arbeit wird wichtiger
Schauen wir also genauer hin. Eines der grundlegendsten Bedürfnisse der Menschen ist die soziale Zugehörigkeit. Die Produktionsstätten dieser Zugehörigkeit sind in erster Linie die Familie und die Nachbarschaft und – vor allen für die Menschen im erwerbsfähigen Alter – der Arbeitsplatz.
Auf alle drei wirkt sich die Flexibilisierung der Arbeitsmärkte negativ aus. Denken wir an die langen Arbeitswege, an häufige Stellenwechsel, Nachtschichten und so weiter. Wie sehr Familien schon zerrüttet sind, zeigt sich etwa darin, dass der Anteil der Ein-Personen-Haushalte an der Gesamtbevölkerung der Schweiz seit 1970 um das 2,5-Fache gestiegen ist, während der Anteil der Paare mit Kindern um einen Viertel gesunken ist. Und obwohl sich die Heiraten pro 1000 Bewohner seit 1970 annähernd halbiert haben, haben sich die Scheidungen fast verdoppelt.
Weil Familien und Nachbarschaften immer mehr beschädigt werden, hat die Bedeutung der bezahlten Arbeit als «Produzent» von Gemeinsamkeit und sozialer Integration stark zugenommen. Gemäss der Glückforschung mindert Arbeitslosigkeit das Glück (das gute Leben) in etwa gleich stark wie eine mittelschwere Krankheit. Nach einer Studie aus England von 1994 bräuchte es eine Erhöhung des durchschnittlichen Einkommens um das Elffache, um den seelischen Schaden der Arbeitslosigkeit auszugleichen. Dies klingt unglaublich, zeigt aber, wie unwichtig noch mehr Einkommen oder BIP für das gute Leben ist.
Stellenschaffen als Selbstzweck
Dies haben auch die Ökonomen und Wirtschaftspolitiker gemerkt. Mit fatalen Folgen. Die «Schaffung» von Jobs wurde zum Selbstzweck, was wiederum die Macht der Unternehmen enorm gestärkt hat. Neben ihren Produkten konnten sie nun auch ihre Jobs – und die damit verbundene soziale Integration – verkaufen. Nach dem Motto: Sozial ist, was Arbeit schafft. Wir schaffen Jobs, da könnt ihr nicht auch noch existenzsichernde Löhne und gute Arbeitsbedingungen verlangen. Darunter hat auch die soziale Integrationskraft der (schlecht) bezahlten Arbeit stark gelitten.
Kurz zurück zu Aristoteles, dem Erfinder der Ökonomie, die damals noch überwiegend in der Hausgemeinschaft – dem Oikos – stattfand. Auch heute noch werden mindestens 60 Prozent der Tätigkeiten, mit welchen wir unsere Bedürfnisse befriedigen und das Überleben sichern, in Familien und Nachbarschaften geleistet.
Die Flexibilisierung der bezahlten Arbeit und der Steuerwettbewerb sowie die dadurch ausgelöste Binnenwanderung haben aber die Produktionskraft des Oikos weiter stark geschwächt. Dies auch deshalb, weil im Bestreben, Jobs zu schaffen, unbezahlte Arbeit gezielt durch bezahlte ersetzt wurde.
Familienaufgaben wurden professionalisiert
Mit teuren Folgen: Die Betreuung von Kleinkindern etwa war einst Sache der Familie und der Nachbarschaft. Heute braucht es dafür die bezahlte Arbeit in Kitas. Allein die Wegzeiten der Kita-Angestellten, der Kita-Bürokraten und der Eltern dürfte den Zeitaufwand der einstigen nachbarschaftlichen Lösung bei weitem überschreiten. Einverstanden: Dafür wird mehr bezahlte Arbeit geleistet und das BIP wurde vergrössert, aber per Saldo ist das eine massive Verschwendung von Arbeitszeit.
Doch das ist nur die Spitze des Eisbergs. Die Schwächung des Oikos kostet noch viel mehr. So wird auch die Betreuung der Senioren immer mehr kommerzialisiert und professionalisiert. In der Schweiz kostet eine Pflegestunde inzwischen rund 80 Franken. Wird die Arbeit von Angehörigen geleistet, kassieren diese maximal 38 Franken. Der Rest geht an Spitex-Organisationen, welche die Pfleger ausbilden. Gemäss Sonntags-Blick haben sich die Grundpflegeleistungen dieser Firmen von 2020 bis 2023 verfünffacht.
Und dann wären da noch die Kinder, die auch im Rahmen der integrativen Förderung in der Schule besonders intensiv betreut werden müssen. Dafür werden Klassenassistenzen eingesetzt. Im Kanton Bern waren es 2020 noch 918; inzwischen ist diese Zahl auf 2954 angewachsen und auch in der Stadt Zürich hat sich die Zahl der Assistenzkräfte von 340 auf 1020 verdreifacht. An den Aargauer Volksschulen verdoppelten sich die Vollzeit-Pensen der Schulassistenzen von 220 auf 437, während die Zahl der Schüler bloss um 8% gestiegen ist. Es ist anzunehmen, dass die Schule hiermit eine zusätzliche Sozialisierungsarbeit leisten muss, weil immer mehr Familien überfordert sind.
Und auch die Erwachsenen sind von der neuen sozialen Unordnung überfordert. Viele werden depressiv, gehen zum Psychiater oder suchen anderswo nach Orientierung. Das zeigt sich etwa in der Tatsache, dass allein in der Region Zürich neun private Institute Life-Coaches ausbilden.
Globale Wanderarbeit
Und wer macht dann noch die eigentliche Arbeit? Kein Problem. Wir importieren die Leute.
Damit kommen wir zur internationalen Dimension des freien Personenverkehrs. Diese zeigt sich exemplarisch in der EU: Die Randgebiete in Spanien, Portugal, Süditalien, Rumänien oder Kroatien entleeren sich. Im Gegenzug explodiert die Bevölkerung in den Ballungsgebieten.
Am Beispiel von Portugal sieht das so aus: 2009 wurde dort der Status des «nicht gewöhnlichen Wohnsitzes» geschaffen, um gut ausgebildete Arbeitnehmerinnen und Rentner aus dem Ausland anzulocken. 2012 wurden die «Goldenen Visa» eingeführt, die Ausländern mit dickem Scheckbuch einen privilegierten Zugang zur Staatsbürgerschaft bieten. Darauf stiegen die Immobilienpreise und Mieten mit der Folge, dass sich junge Portugiesen keine Wohnung mehr leisten konnten. Heute lebt ein Drittel aller Portugiesen zwischen 15 und 39 im Ausland. Auf jeden erwerbsfähigen Portugiesen kommen heute zwei Rentner. Für die einfachen Arbeiten werden deshalb billige Arbeitskräfte aus Brasilien, Angola, Indien, Bangladesch oder Marokko angeworben.
Ähnliches spielt sich global ab. Immer mehr Länder verlieren die Fähigkeit, für den eigenen Bedarf und damit für Beschäftigung zu sorgen. Der Hauptgrund ist immer derselbe: Um eine Region wirtschaftlich zu entwickeln, braucht es im besten Fall etliche Jahre. Doch die Leute, die diese Entwicklung gestalten könnten, finden morgen schon einen besser bezahlten Job im Ausland – und lassen eine dysfunktionale Heimat zurück.
Globale Wertabschöpfung bringt überall Verlierer hervor
Der Grund dafür sind die globalen Wertabschöpfungsketten. Ein Paar On-Schuhe zum Beispiel wird bei uns für 200 Franken an ein Publikum verkauft, das pro Stunde 100 Franken verdient. Von der Arbeit, die in diesen Schuhen steckt, werden 90 Prozent zu einem Stundenlohn von – sagen wir – 5 Franken geleistet. Das erlaubt es, die restlichen 10 Prozent der Arbeit mit 300 Franken zu entlöhnen. Die entsprechenden «Wertabschöpfer» siedeln sich und ihre Firmen gerne an gehobenen Wohnlagen mit tiefen Steuersätzen und guten Verkehrsverbindungen an.
Diese globalen Wertschöpfungsketten und ihre fetten Enden haben gewichtige Nachteile: Zum einen wird in den Verlierernationen Kaufkraft, die für die lokale Entwicklung nötig wäre, abgeschöpft oder kann gar nicht erst entstehen. Und in den Siegerländern wie etwa der Schweiz sorgen die Profiteure der «fetten Enden» mit ihrer Kaufkraft für Preissteigerungen vor allem bei den Mieten und Immobilien und damit für eine massive Umverteilung von den Wohnungssuchenden zu den Bodenbesitzern. Die hohe Kaufkraft und der entsprechende Konsumbedarf bewirken zudem eine Massenwanderung von billigen Arbeitskräften von den Verlierer- zu den Siegerländern.
Damit leben wir in einer Welt, die Aristoteles als paradox empfunden hätte. Zu seiner Zeit wurden mit Arbeit überwiegend die lokalen Bedürfnisse befriedigt. Die Arbeit war da, wo die arbeitenden Menschen waren. Heute muss die Arbeit der monetären Nachfrage hinterherrennen, die von der globalen Marktwirtschaft mal hier und mal dort immer sehr einseitig verteilt wird. Wir leben in einer hypermobilen globalen Wanderwirtschaft.
Doch diese Welt bekommt uns nicht. Sie ist letztlich extrem ineffizient. Jede Arbeitskraft, die wandert, schwächt die Produktionskraft von Familie und Nachbarschaft. Doch genau davon hängt das gute Leben viel mehr ab als von der bezahlten Arbeit. Aristoteles wäre das aufgefallen. Die heutigen Ökonomen merken es nicht. Sie sind blind. Ihr alleiniger Massstab ist das BIP oder allenfalls noch die bezahlte Beschäftigung.
Das Migrationsproblem an der Wurzel packen
Und dann ist da noch ein wichtiger Punkt: Der Mensch ist ein Herdentier. Wir sind von Kindsbeinen an extrem auf die Hilfe anderer angewiesen – auf Familie, Freunde, Nachbarn und auch auf den Sozialstaat. Um diese Abhängigkeit erträglich zu machen und den Anderen vertrauen zu können, knüpfen wir ein enges Netz von gegenseitigen sozialen Verpflichtungen. Und wir schaffen Institutionen, mit denen wir unser Zusammenleben organisieren und das soziale Vertrauenskapital ständig erneuern.
Dieser Prozess ist schwierig genug und er wird noch schwieriger, je mehr Menschen aus fremden Kulturen mit anderen sozialen Regeln einwandern. Diese Metastudie zeigt, dass das soziale Vertrauen umso stärker sinkt, je grösser die ethnische Vielfalt in einem Gebiet ist. Das gilt in besonderem Masse für das lokale Vertrauen in die Nachbarn. Und aus sozial kaputten Nachbarschaften und Quartieren droht eine «failed nation», ein gescheitertes Land zu werden. In Deutschland und in vielen Gebieten Westeuropas ist diese Gefahr real. Sei es, weil die Integration gescheitert ist oder weil einfach zu viele gekommen sind.
Doch es reicht nicht, einfach Grenzen zu schliessen. Wir müssen das Problem auch an der Wurzel packen. Wir brauchen eine Weltwirtschaftsordnung, die es allen Ländern möglich macht, sich zu entwickeln, sich so zu organisieren, dass sie wieder den eigenen Oikos pflegen können, statt für reiche Fremde noch mehr Nike-Schuhe herzustellen.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Ja alles O.K. aber wo fangen wir an?
Der Ostblock hat es anders probiert: Fabriken nicht in die Ballungsräume, sondern aufs Land, damit Dörfer und Kleinstädte Arbeitsplätze haben. Die wichtigsten Dinge werden im Land selber hergestellt (Nahrungsmittel, Kleidung, Weißwaren, Bürobedarf usw.). Streng reglementierter, kostenloser Universitätszugang nach Erfordernissen der Volkswirtschaft. Leistungsorientiertes Bildungssystem mit Bestenförderung und deutlicher Aussiebung nach dem 10. Schuljahr. Ständige kostenlose Weiterqualifikation um Fach- und Führungskräfte zu gewinnen. Legale Einwanderung nur in äußerst geringem Umfang, wenige Gastarbeiter in gesonderten Wohnheimen mit begrenzten Zeitverträgen und ohne Familiennachzug. Die Dritte Welt wurde durch Ausbildung, Projekte und Maschinenlieferungen unterstützt – Facharbeiter gingen wieder zurück in ihre Heimat. Ansammeln von Immobilienbesitz war rechtlich unmöglich und sinnlos: keine Rendite. Das ganze hat leider auch nicht funkioniert, weil Geld und Arbeitskräfte fehlten.
Wieder ein absolut hervorragender Artikel von Werner Vontobel. Besten Dank. Schade nur, dass Herr Vontobel nicht auch gleich noch den neoliberalen Sektenglauben widerlegt hat, dass mit Freizügigkeit jeder dort eingesetzt wird, wo er am meisten BIP erzeugt. Das wäre für Werner Vontobel doch ein Leichtes gewesen.
Danke für den ausgezeichneten Artikel!
Dass Economiesuisse die Personenfreizügigkeit liebt, liegt auf der Hand.
Leider tun dies auch viele Linke, aus einer verträumt-unrealistischen Vorstellung von grosser sozialistischenr Völkerverbindung und Überwindung des verhassten Nationalstaats. Einige Gewerkschafter haben immerhin gemerkt, dass sie der hiesigen Arbeitnehmerschaft keinen Gefallen tun, wenn sie sie der Konkurrenz aus ganz Europa aussetzen.
ein paar wenige «Globalisten» mit viel zu viel politischem Einfluss sahnen ab, während der Staat und die «Kleinen» die Zeche zahlen.
Zur Aussage im Artikel: «Zweifel sind angebracht: Es könnte durchaus sein, dass das durch die Flexibilität gewonnene BIP durch die zusätzlichen Wegkosten und Zeiten und die damit verbundenen Umweltschäden mehr als aufgebraucht wird..Wenn man bedenkt, dass der durchschnittliche Arbeitsweg in der Schweiz eine Stunde beträgt und .. die entsprechenden Wegkosten mindestens weitere 20 Arbeitsminuten ausmachen, ist diese Annahme sogar sehr wahrscheinlich..»
Könnte wohl möglich sein, dass noch nicht alle Zeitgenossen im 21. Jahrhundert erkannt haben könnten, dass die Zeiten des 18. oder 19. Jahrhunderts endgültig vorbei sind, als der Arbeitsplatz im Haus oder in der Nachbarschaft, oder ein paar Strassen weiter war. Bedingt durch die
Bevölkerungs-Zunahme muss mehr produziert werden. Es braucht mehr Fabriken, Büros, Verteilerzentren, Märkte etc. etc. pp, damit die Bevölkerung konsumieren kann und versorgt ist. Wohnungen sind knapp. Das Resultat: Lange Arbeitswege.
Gunther Kropp, Basel
Dieser Analyse stimme ich voll zu. Obwohl ich von Wirtschaft kein grosses Wissen habe, denke ich, dass die Brics-Staaten eine neue, gerechtere Wirtschaftsordung bilden wollen. Afrika ist gegenwärtig am Aufbauen, eigene Industrie, eigene Bildungs-und Ausbildungsstätten, eigene Unternehmer und Arbeiter. Das gefällt den westlichen Mächten nicht, aber ich hoffe, dass dies die Zukunft ist für eine gerechtere Welt!
Leider erwähnen Sie das Kernproblem mit keine Wort – die demografische Entwicklung. selbst mit Migration stirbt Europa und selbst wenn wir nicht ganz aussterben sind wir in 50 Jahren so überaltert, dass die sozialen und wirtschaftlichen Konflikte nicht absehbar sind.
Die Bevölkerung von Europa ist, nach einem Maximum von 749 Millionen (2020) auf 745 Millionen gesunken. Ich finde es etwas befremdlich, dass schon ein Rückgang um ein halbes Prozent bei so vielen Leuten Ansätze von Panik auslöst. Praktisch alle ökologischen Probleme lassen sich leichter lösen, wenn die Bevölkerung nicht weiter zunimmt oder sogar etwas zurückgeht.
Die Hochrechnungen, was passiert, wenn von heute an bis in alle Ewigkeit die Frauen im Schnitt nur noch 1,2 Kinder hätten, sind ziemlich nutzlos, denn die Annahme, alles entwickle sich immer genau gleich weiter, ist reine Spekulation. Und sie vernachlässigt, dass Menschen denken können. Es gibt Leute, die wollen nicht so viele Kinder haben, weil sie ein weiteres Bevölkerungswachstum kritisch sehen. Wenn einmal die Bevölkerung wirklich schrumpfen sollte, würden sie es vielleicht anders beurteilen und hätten wieder mehr Kinder.
Sachzwingzwang, der. So, oder so ähnlich hat eine Musikgruppe das menschliche Treiben einmal besungen. Worunter aber alle und besonders auch die Ökologie leiden, ist der innerste Wirkmechanismus, nachdem eine seit spätestens 1998 entfesselte Dollarwirtschaft sich ständig neue, freiere Spielregeln gegönnt hat, die quasi alles entwerten. Seit der Mensch exponentiell Geld aus Luft schöpft, entwertet er damit Ressourcen/Umwelt und Arbeitskraft. Die Realwirtschaft kann dem nur hilflos hinterherhecheln und doch nie auch nur einen Bruchteil davon abdecken. Wir alle wissen das, flüchten uns aber in unsere Greenfonds und sonstige Nachhaltigkeitsblasen. Solange für jeden noch ein Krümel vom Tisch fällt, auf dem das große Fressen in luftiger Höhe stattfindet, bleibt es hier unten am Boden eben noch erträglich. Umweltprobleme waren in den 90ern schon schlimm, konnte man aber durch technischen Optimismus ausblenden. Soziale Probleme in fernen Ländern konnte man wegspenden. Das ist vorbei.
Vielen Dank für diesen wertvollen Artikel. Die Erkenntnis, dass unser aktuelles Wirtschaftssystem nicht so gut funktioniert wie einmal gedacht (da es sich ja gegen den Kommunismus durchgesetzt hat) sickert langsam (ja, sehr langsam) bei mehr und mehr Leuten durch. Es wäre begrüssenswert, wenn damit die Erkenntnis einhergeht, dass wir weg von der eindimensionalen und undifferenzierten Betrachtung der Wirtschaft hin zu einem systemischen Ansatz mit mehr Messparametern sollten.