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«Radikal, renommiert, ungemütlich» Foto: FS ©

kontertext: Tabubruch in der Asyldebatte

Felix Schneider / Daniel Winkler /  Der «Tages-Anzeiger» macht eine inhumane Idee salonfähig: Die Kündigung der Flüchtlinskonvention.

Die «Tages-Anzeiger»-Redaktorin Alexandra Kedves verkauft ihren Interviewpartner, den Politökonomen Laurenz Guenther («Tages-Anzeiger» vom 17.11.2025) ganz gut: «Radikal», «renommiert», «ungemütlich» sind so interessegenerierende Adjektive, die sie verwendet. Und sie holt die Leute ab: «Viele fühlen sich von Parlament und Regierung nicht ernst genommen – besonders mit ihren Sorgen bezüglich Zuwanderung und Kriminalität.“ Das nennt Herr Guenther «Repräsentationslücke». Er sagt: «(…) in der Tendenz sind die meisten Mainstream-Politiker kulturell zu weit links für ihre Wählerschaft – und wirtschaftlich zu weit rechts.»

Guenthers Medizin

Frage von Redaktorin Kedves: «Wie müssten die Politiker vorgehen, damit sich die Menschen besser repräsentiert fühlen?»

Antwort des Forschers Guenther: «In erster Linie müssten sie das Asylsystem stark abbauen, sprich: weniger Rechte und Leistungen für Asylsuchende, vielleicht das System komplett abschaffen, also aus der Genfer Flüchtlingskonvention austreten. Zudem die Entwicklungshilfe drastisch reduzieren, Diversitätsquoten bei den Jobs abschaffen und das Strafsystem deutlich stärker auf Abschreckung und härtere Bestrafung der Kriminellen ausrichten.»

«Zugegeben, sagt Guenther noch, das sind zum Teil Positionen, die Rechtspopulisten vertreten – aber ich denke, um die kommt man nicht herum, weil sie nun mal sehr populär sind.»

Scheinobjektivität

Irgendwie liess diese Meinung dann aber dem Leiter des Ressorts Analyse und Meinungen des «Tages-Anzeigers» doch keine Ruhe. Fabian Renz publizierte am nächsten Tag einen sehr guten Kommentar, in dem er anhand eines Vergleichs der USA mit der Schweiz zeigte, wie mehr Härte im Strafsystem zwar mehr Gefängnisinsassen, mehr Kosten und mehr Gewalt verursacht, aber weniger Sicherheit bringt.

Zur menschenverachtenden Idee, die Genfer Flüchtlingskonvention zu kündigen, findet der «Tages-Anzeiger» allerdings kein Wort, auch nicht in einem zweispaltigen, seitenhohen Artikel von Kedves. Guenther liefert das Musterbeispiel eines blinden, ideologischen Objektivismus. Die Zahlen, die er zusammenträgt, mögen stimmen, aber die Voraussetzungen und vor allem die rechtsnationalen Schlussfolgerungen sind Politik. Seine Studien zur «Repräsentationslücke» und zum «Kultur- und Wirtschafts-Gap» sind nachvollziehbar. Dass einer migrationsfreundlicheren Politik eine tendenziell fremdenfeindliche Gesellschaft gegenübersteht, trifft als Diagnose die aktuellen Entwicklungen durchaus. Aber wie ist es so weit gekommen?

Guenthers Voraussetzung heisst: Das Volk ist Gottes Stimme, vom Himmel gefallen, homogen, fertig. Wenn das Volk fremdenfeindlich, rassistisch und empathielos ist – und das Volk ist zu Zeiten eine Bestie! – dann muss die Politik umsetzen, was das Volk will. Das und nur das ist die Aufgabe der Politik. 

Und was seine Schlussfolgerungen betrifft, so ist es eher so, dass ein Rechtsnationaler unter dem Etikettenschwindel der Forschung Politik betreibt. Die von Guenther vorgeschlagene «Therapie» ist kein Heilmittel, sondern ein Präparat aus dem Giftschrank der Rechtspopulisten

A propos Repräsentationslücken

Wir hätten da noch so einige andere Repräsentationslücken: Die Todesstrafe wurde in den meisten Ländern gegen die Mehrheit der Bevölkerung abgeschafft. Und es ist anzunehmen, dass weite Teile der Bevölkerungen Europas wesentlich antisemitischer eingestellt sind, als ihr Führungspersonal.   

Die Aufkündigung der Genfer Flüchtlingskonvention wäre ein zivilisatorischer Bruch. Da diese eng mit der Europäischen Menschenrechtskonvention verknüpft ist, müsste letztlich beides preisgegeben werden. Damit ginge eine der grossen zivilisatorischen Errungenschaften und eine der letzten Konsequenzen aus Nationalsozialismus, Judenvernichtung und Zweitem Weltkrieg verloren: Menschen in Not Schutz zu gewähren. Ja, wir erinnern uns an die Konferenz von Evian, als die Vertreter der Länder Europas mit Ausnahme weniger, geringer Initiativen die Juden achselzuckend ihren Mördern überliessen. 

Flüchtlinge als Sündenböcke

Wie viele Rechtspopulisten arbeitet auch Guenther mit der Gleichsetzung von Migration und Flüchtlingszuwanderung. Dieses Narrativ ist gerade mit Blick auf die Schweiz grundfalsch. Migration bedeutet hier in erster Linie Arbeitsmigration. Ohne sie käme das Land zum Stillstand: Spitäler, Gastronomiebetriebe und Universitäten müssten schliessen, und zentrale Infrastrukturen liessen sich nicht mehr aufrechterhalten. 

Fast 90 Prozent der Nettozuwanderung der vergangenen zehn Jahre entfallen auf Arbeitsmigration: rund 70 Prozent stammen aus EU- und EFTA-Ländern, etwa 30 Prozent aus Drittstaaten, meist hochqualifizierte Fachkräfte, die gezielt rekrutiert wurden, um die Schweizer Wirtschaft funktionsfähig zu halten. Nur rund 10 Prozent der Nettozuwanderung entfielen auf Flüchtlinge: Menschen aus Kriegsgebieten oder aus Ländern mit diktatorischen Regimes. Diese Leute leisten heute in ihrer grossen Mehrheit wertvolle Arbeit. Aus Pflege, Gastronomie, Bau oder Gewerbe sind sie kaum mehr wegzudenken.

Eine gewisse «Repräsentationslücke» oder ein Kultur-Gap ist wohl unvermeidlich. Gerade deshalb braucht es eine Politik, die rechtspopulistische Forderungen – oft basierend auf Halbwahrheiten und Falschinformationen – offenlegt und entkräftet. Die Aufgabe menschlicher Politik und jeder Demokratie ist es, die Schwächsten einer Gesellschaft zu schützen. Dazu gehören auch Flüchtlinge. Die Idee einer Kündigung der Genfer Flüchtlingskonvention ins Spiel bringen zu lassen, ohne auf deren Bedeutung aufmerksam zu machen, kommt geistiger Brandstiftung gleich. 


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren. Sie reflektiert Diskurse der Politik und der Kultur, greift Beiträge aus Medien kritisch auf und pflegt die Kunst des Essays. Zurzeit schreiben regelmässig Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler, Felix Schneider und Beat Sterchi.

Daniel Winkler ist evangelisch-reformierter Pfarrer in Riggisberg / Kanton Bern und aktiv in der Flüchtlingsarbeit tätig. 

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