Locarno Filmfestival: Ein erfreulich guter Jahrgang
Ja, es gibt diese Zaubermomente im Kino: Man spürt den wehenden Wind auf der grossen Leinwand auch auf der eigenen Haut – man riecht das salzige Meer – man taucht ein in die Welt von zwei zarten, verlorenen Seelen in einem verwunschenen Paradies. Es ist ein Naturalismus der feinstofflichsten Art. Natur, Kunst und Leben fliessen ineinander, als wären sie schon immer eins gewesen.
Wir sitzen definitiv im richtigen Film, «Tabi to Hibi» (Two Seasons, Two Strangers) des japanischen Regisseurs Sho Miyake, der als letzter im Programm des Internationalen Festivals in Locarno gezeigt wurde. Das Ausharren hat sich gelohnt. Und für einmal geht man auch mit der internationalen Jury unter dem Vorsitz des kambodschanischen Regisseurs Rithy Panh völlig einig, die diesen Film mit dem Goldenen Leoparden ausgezeichnet hat.
Ein Taumel unaufgeregter Sinnlichkeit
Es ist ein stilles, inniges, wortkarges Meisterwerk, das ganz auf die Kraft der filmischen Bilder vertraut. Ein Taumel der unaufgeregten Sinnlichkeit. Regisseur Miyake selber sagt zu seinem Film: «Reise, mach Filme, durchbrich Routinen. Sieh die Welt wie ein Fremder. Worte geben Richtung, stumpfen aber unsere Wahrnehmung ab. In Bildern und Bewegung begegnen wir anderen und uns selbst. Erwache in einer namenlosen Welt voller Staunen.» Und genau so gestaltet er auch den ersten Teil seines Films, der auf einem Manga des japanischen Autors und Zeichners Yoshiharu Tsuge basiert.

Vierter japanischer Siegerfilm in Locarno
Man muss die beiden konträren Geschichtsstränge, die in diesem Film aufgerollt werden, gar nicht nacherzählen. Man muss sich ihnen nur hingeben. Dann wird man reich beschenkt.
Gleichzeitig reflektiert «Tabi to Hibi» auf leichtfüssige Weise und mit einigem Witz auch über das Handwerk des Filmemachens. Das erinnert an den japanischen Meisterregisseur Hirokazu Kore-eda, etwa in seinem wunderbaren Film «After Life». Fast staunt man ein wenig, dass dies erst der vierte japanische Siegerfilm aus dieser grossen Filmkunstnation ist in der bald achtzigjährigen Geschichte des Locarno Filmfestivals.
Man kann nur hoffen, dass «Tabi to Hibi» auch einen klugen Schweizer Verleiher findet. Denn leider kommen bei weitem nicht alle Siegerfilme von Locarno dann nachher auch in unsere Kinos.
Das Wunder der Resilienz
Ganz anders zeigt sich ein zweiter Siegerfilm, der mit dem Preis für die beste Regie ausgezeichnet wurde: Der Dokumentarfilm «Tales of the Wounded Land» des Irakers Abbas Fahdel. Er berichtet hautnah vom israelischen Krieg gegen den Südlibanon und zeigt das erschreckend flächendeckende Bombardement in Wohngebieten und die entsprechende Zerstörung. Das Wunder dieses Films ist aber der durchgehende Wille zum Wiederaufbau, der alle Gespräche durchzieht. Heimat und die Verbundenheit mit dem Ort, wo man geboren ist und leben will, lassen sich nicht so schnell auslöschen.

Wirre Kameraführung
Ein grosses Rätsel bleibt hingegen, was die Auswahlkommission bewogen haben könnte, einen so dilettantischen Dokfilm wie «With Hasan in Gaza» in den Wettbewerb einzuladen. Er genügt weder vom Informationsgehalt noch von der Gestaltung her den minimalsten Anforderungen. Jeder Halbwüchsige, dem man eine Kamera in die Hand drücken würde, brächte Gehaltvolleres zustande. Die Kameraführung ist so wirr und konzeptlos, dass einem beim Zusehen schlecht wird. Minutenlang wird der Boden gefilmt, weil offenbar vergessen wurde, die Kamera abzustellen. Und auch die Erfindung des Schnitts scheint dem Filmer völlig unbekannt. Da versucht sich einer mit über 20 Jahre altem, mediokrem Filmmaterial wichtig zu machen, das er gerade jetzt wieder entdeckt haben will.
Es drängt sich der schlimme Verdacht auf, dass Locarno unbedingt auch etwas zum aktuellen und wichtigen Gaza-Kontext im Programm haben wollte. Es ist schwierig, sich etwas Kontraproduktiveres vorzustellen als dieses Machwerk.
Die Highlights der Piazza
Einige der besten Piazza-Filme werden in den kommenden Monaten auch in die Schweizer Kinos kommen. «Un simple accident» des Iraners Jafar Panahi («Taxi Teheran») erzählt einen komplexen und phasenweise ins Absurde kippenden Rache-Thriller zwischen Folteropfern im Iran und ihrem mutmasslichen Peiniger (Filmstart: 30.10.2025). Eine packende moralische Gratwanderung.

Publikumspreis ging an einen aufwühlenden Film
Der norwegische Film «Sentimental Value» von Joachim Trier thematisiert psychologisch differenziert und berührend die Konflikte zwischen zwei erwachsenen Schwestern und ihrem selbstherrlichen Regisseur-Vater (Kinostart: 11.12.2025). In «La petite dernière» von Hafsia Herzi wagt eine junge Muslima aus einer traditionellen Familie vorsichtig ihr lesbisches Coming-Out (Kinostart: 18.12.2025). Die Hauptdarstellerin Nadia Melliti wurde in Cannes mit einem Darstellerpreis ausgezeichnet.
Die spannende Schweizer TV-Serie «The Deal» von Jean-Stéphane Bron («Mais im Bundeshuus») über die Atomverhandlungen mit dem Iran wird man bald auf SRF sehen können. Der Publikumspreis der Piazza-Filme ging dieses Jahr an «Rosemead» von Eric Lin. Eine krebskranke Mutter im Endstadium sorgt sich um ihren schizophrenen Sohn und entschliesst sich zum Äussersten. Der Preis beweist, dass das oft unterschätzte Piazza-Publikum in Locarno anspruchsvoll aufwühlende Kost durchaus schätzt.
Ein nautisches Poesiealbum
Ein zweiter Ausreisser im Internationalen Hauptwettbewerb darf aber nicht unerwähnt bleiben, vor allem auch, weil damit viel SRG-Geld verbrannt wurde: «Le Lac» des Westschweizers Fabrice Aragno. Zugegeben, der Film reiht ein paar schöne Bilder aneinander, wie man sie bei Wind und Wetter, bei Sonnenauf- und -untergang, im Sommer und im Herbst auf einem Segelschiff eben erleben kann. Aber das ergibt noch keinen Film. «Le Lac» fehlt jede echte Dramaturgie, er bleibt in der Anhäufung der Bilder rein additiv und täuscht in den Regattateilen die Dramatik durch verzerrende Brennweiten nur vor. Sorry, das wirkt wie ein peinlich selbstverliebtes Poesiealbum. Das Schweizer Fernsehen ist für das schweizerische Filmschaffen von eminenter Bedeutung. Es wäre gut beraten, solche Projekte genauer zu evaluieren.
Fairerweise soll aber nicht unerwähnt bleiben, dass auch solche Produkte ihre Liebhaber finden können. Die Jugendjury vergab ihren Preis an diesen Film, und auch die Ökumenische Jury fand ihn zumindest einer lobenden Erwähnung würdig.
Glanzlicht «Semaine de la critique»
Vom sicheren Wert dieser glänzend kuratierten Dokumentarfilmreihe innerhalb des Festivals war hier in der letzten Woche schon die Rede (Infosperber berichtete). Das Urteil bestätigt sich in diesem Jahr auch in der Gesamtschau. 270 Dokumentarfilme wurden im Vorfeld der «Semaine de la critique» geprüft, 7 davon ausgewählt. Man kann sich die Qual der Wahl der Jury (diesmal mit alt Bundesrätin Simonetta Sommaruga als Mitglied) gut vorstellen: Fast jeden dieser ausgewählten Filme hätte man sich als Sieger vorstellen können, da in ihnen auf hohem gestalterischem Niveau gesellschaftlich wichtige Fragen verhandelt werden.
Das Rennen machte schliesslich zu Recht «Grünes Licht» von Pavel Cuzuiok. Im Zentrum steht der Neuropsychiater Dr. Johann Spittler, der Menschen mit dem Wunsch nach einem assistierten Suizid begutachten muss. Der Film wirft einen differenzierten Blick auf die komplexe Thematik und liefert einen wichtigen und berührenden Beitrag für einen verantwortungsvollen Umgang mit diesen schweren Fragen.

Hommage an die Frauen Vietnams
«The Cowboy» des deutschen Dokfilmers André Hörmann begleitet den jungen Crowley über zehn Jahre hinweg beim Erwachsenwerden und fängt in dieser Langzeitstudie den Verlust des älteren Bruders durch einen Verkehrsunfall, die Trennung der Eltern und das Suchen nach einem eigenen Weg sehr überzeugend ein.
«She» des italienischen Dokfilmers Parsifal Reparato ist ein Film über Arbeiterinnen in einer der grössten Elektronikfabriken Vietnams. Die Arbeitsbedingungen erinnern an Sklaverei. Und wir alle benutzen diese Handys, die unter diesen und ähnlichen Bedingungen entstehen. Der Film wird zu einem Porträt einer Gesellschaft – und zu einer Hommage an die Frauen Vietnams, die überall die Hauptarbeit leisten.

Ein Minibus für ein Dorf in Burkina Faso
Direkt heiter wirkt dagegen «Celtic Utopia» von Dennis Harvey und Lars Lovén, weil die ganze Kritik an der kolonialen und postkolonialen Geschichte Irlands eingebettet ist in die unglaublich lebendige und witzige irische Musikszene in ihrer ganzen Vielfalt. Selten war Gesellschaftskritik so musikalisch und so witzig.
Der finnische Film «Silent Legacy» von Jenni Kivistö und Jussi Rastas zeigt den Choreographen Sibiry aus Burkina Faso, der seit zwölf Jahren in Finnland lebt und etwas für sein Herkunftsland tun will. Er kauft einen Minibus, den er in Burkina Faso einsetzen will, um die Ungleichheit in seinem Heimatdorf zu bekämpfen. Der Beginn einer hindernisreichen, aber optimistischen Odyssee.

Vorschlag: Tour der Suisse der Dokumentarfilme
Der italienische Film «Nella colonia penale» von Gaetano Crivaro, Silvia Perra, Ferruccio Goia und Alberto Diana beobachtet das Leben in den letzten Strafkolonien Europas, in einem sehr entlegenen Winkel Sardiniens. Gesprochen wird fast nichts. Auch sonst bleibt der Informationsgehalt recht dünn. Ob das genügt, um diesem sparsamen Werk den Marco Zucchi Award für den filmisch innovativsten Film zuzusprechen?
Seit 1990 gibt es diese vom Filmjournalistenverband organisierte Dokumentarfilmreihe. Anfänglich zeigte man die Filme im Teatro Kursaal mit seinen 482 Plätzen. Da wegen des wachsenden Andrangs immer Interessierte, die keinen Platz mehr gefunden hatten, abgewiesen werden mussten, wechselte man vor einigen Jahren in die doppelt so grosse Halle von La Sala mit 900 Plätzen. Sie ist jetzt bei allen Vorstellungen gut besetzt. Die Zuschauerzahlen pro Jahr bewegen sich zwischen 5000 und 6000 Personen, Tendenz steigend.
Eigentlich ist es jammerschade, dass die Kraft dieser kompetenten Auswahl nach Locarno einfach verpufft. Ein Interesse an hervorragenden Dokumentarfilmen wäre zweifellos bei einem breiteren Publikum in der Schweiz vorhanden. Warum tun sich nicht alle kommunalen Kinos in der Schweiz zusammen und ermöglichen jeweils eine Tour de Suisse dieser hervorragenden «Semaine de la critique»-Auswahl?
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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