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Daniel Goldstein © Grietje Mesman

Sprachlupe: Willkommen in der Bühnendeutschschweiz

Daniel Goldstein /  Wer Medien zuhört, muss Schweizer Geografie auch dann verstehen, wenn Deutsche darüber reden; nicht zur Nachahmung empfohlen.

Waren Sie schon einmal in Wintatua, in Bruhg oder in Diétikon? Dann kennen Sie die Bühnendeutschschweiz schon recht gut. So oder so können Sie Ihre Kenntnisse vertiefen, indem sie Radio SRF Ihr aufmerksames Ohr leihen. Wahrscheinlich funktioniert es auch beim Fernsehen, da gönne ich mir weniger Weiterbildung. Sind Sie nicht völlig abstinent, so hat man Ihnen sicher auch schon von Zührich erzählt, bei Normalgebrauch mehrmals täglich. Erholung von der Aussprache mit langem, besonders spitzem ü bieten vor allem noch die Verkehrsmeldungen, wo Zürich meist nach hiesiger hochdeutscher Art mit kurzem ü erklingt, wie auch in SBB-Durchsagen ­– allerdings an beiden Orten oft in markant helvetischen Verlautbarungen, die kaum dem SRF-Standard entsprechen.

Die Sendeanstalt pflegt nach eigenem Bekunden ein «eher ‹neutrales› Hochdeutsch» – mithin nicht die Kunstsprache Bühnendeutsch. Eine Rückfrage ergab, dass nach wie vor das Handbuch «Sprechen am Mikrofon bei Radio DRS» gilt, Ausgabe 2008. Dort ist für Orts- und Eigennamen die phonetische Angabe [ˈtsʏrɪç] zu finden. Wäre das ü [ʏ] lang auszusprechen, so folgte ihm ein Doppelpunkt. Als «schweizerische» Aussprache ist [ˈtsʏrɪç] auch im Duden angegeben, abweichend vom Haupteintrag «Zürich» (samt Hörbeispiel mit langem ü im E-Buch «Rechtschreibung» und auf duden.de). Auch Dietikon figuriert unter den Beispielen im DRS-Handbuch, weil der «Mundart-Diphthong» (Doppelvokal, hier ie) «auch in der Standardsprache» erklingen soll, ausgenommen bei Biel und Liestal mit langem i – also keinesfalls mit getrenntem i-e wie beim vor längerer Zeit gehörten «Diétikon».

Grenzen der Toleranz

Was -er etwa in Winterthur angeht, empfiehlt der Duden-Spezialband «Schweizerhochdeutsch» von 2018 diplomatisch Toleranz für die a-Aussprache: «Die unsern Mundarten fremde Vokalisierung von r vor Konsonant und am Wortende (z. B. Va:ta statt Va:tər, me:a statt me:r) ist zumindest im nicht professionellen Bereich zu meiden.» Demnach dürfen auch die Profis am Radio ein r hören lassen, aber sie müssen nicht. So mag Meer tönen wie in mea culpa, aber bei Schweizer Orts­namen endet für mich als Bürger von Winterthur die Toleranz gegenüber der Aussprache ‐a statt -⁠er. Auch Verena und erst recht Vreni mit hörbarem W am Anfang stört, selbst wenn «Schweizerhochdeutsch» die F-Aussprache nicht zwingend findet, sondern nur «zulässig». Bei Velo ist zwar das W richtig und der Gebrauch dieses Helvetismus erfreulich, aber bitte nicht mit langem spitzem e.

Ein Ärgernis sind auch die weich ausgesprochenen -gg- wie im (seltenen) Bruhg oder in (häufigeren) Eigennamen wie Bruhger. Einen Hinweis zur harten Aussprache gibt das «Schweizer Wörterbuch» von Kurt Meyer (2006): Unter «Artikulation» findet man «gg [k’] in südalemannischen Wörtern und Eigennamen» wie Egger, Egg, Weggis, selbstverständlich mit kurzem Vokal vor -gg-. Gar keine Toleranz hat Meyer für -a statt -⁠er: «r wird niemals ‹vokalisiert›.» Wohlgemerkt: Es geht nicht um Mundart, sondern um «Standardsprache». Keine Freude hätte er daher gehabt, als auf Radio SRF 2 Kultua vom Konzeat des Trios Aiga die Rede war. Zum Glück kam in der Sendung der gleichnamige Beag im Beana Obaland nicht vor.

Momente der Einsicht

Einen Schreckmoment hatte ich im Kunstmuseum Bern, als mir aus dem Audioguide der Kirchner-Ausstellung der Name des langjährigen Museumsdirektors ins Ohr schallte: Huhgler. Max Huggler müsste sich im Grab umdrehen. Bei Zührich war ich schon vom Radio abgehärtet, aufgemuckt habe ich indes beim Sertiiigtal mit langem, betontem i. Doch da musste ich mich belehren lassen, die Aussprache sei korrekt, bestätigt vom Davoser Tourismusbüro. Wenigstens lag ich mit meiner Vermutung richtig, dann sei der Name wohl romanischen Ursprungs. Das Historische Lexikon der Schweiz sagt: «Die Ersterwähnung Sertix datiert auf das Jahr 1400. (…) Die erste Besiedlung erfolgte durch Romanen, die wohl zum Teil aus dem Montafon kamen.»

Kaum hatte ich mich beim Sertigtal blamiert und schier gar als Gaggelari erwiesen, da begegnete mir selbiger in einem Tamedia-Sprachquiz, in leicht vom Idiotikon abweichender Schreibweise: «Gaggalari ist ein Schimpfwort und bezeichnet einen Tunichtgut oder sogar einen Trottel, hat aber eine gutmütige Konnotation.» Mit einem Abonnement bekommt man es auch zu hören: Das Wort klingt, als käme es von gaga – passt zwar einigermassen, nur ist Gaggelari viel älter. Prompt kritisierte ein genau hinhörender Leser: «Also, die Aussprache von ‹Gaggalari› ist dann schon ziemlich falsch auf der Audio-Intro. Sollte vielleicht besser von einer Person mit Schweizerdeutsch als Muttersprache gesprochen werden: doppeltes GG, also scharf betont.» Auch Profis anderer Muttersprache können das lernen – und müssten es, wenn sie auf Deutschschweizer Radiowellen reiten wollen.

Weiterführende Informationen

  • Indexeintrag «Helvetismen/Hochdeutsch» in den «Sprachlupen»-Sammlungen: tiny.cc/lupen1 bzw. /lupen2, /lupen3. In den Bänden 1 und 2 (Nationalbibliothek) funktionieren Stichwort­suche und Links nur im herun­tergeladenen PDF.
  • Quelldatei für RSS-Gratisabo «Sprachlupe»: sprachlust.ch/rss.xml; Anleitung: sprachlust.ch/RSS.html

Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

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Daniel Goldstein zeigt, wie Worte provozieren, irreführen, verharmlosen – oder unbedacht verwendet werden.

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