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Daniel Goldstein © Grietje Mesman

Sprachlupe: Der «sogenannte Stadtpräsident» lässt uns rätseln

Daniel Goldstein /  Was für ein deutsches Publikum geschrieben wird, ist in der Schweiz manchmal un- oder missverständlich – und wird so aufgetischt.

Schon fast war der Vorbericht zur Wahl in Polen zu Ende gelesen, da sauste auf den liberalen Kandidaten Trzaskowski der rhetorische Hammer nieder: Der hochgebildete Politiker sei «seit 2018 sogenannter Stadtpräsident von Warschau». Nanu, übt er denn sein Amt seit sieben Jahren so lausig aus, dass er den Titel gar nicht verdient? Oder soll gar angedeutet werden, dass er Wahl und Wiederwahl «gestohlen» habe? Die scheinbare Verunglimpfung kam nicht etwa von seinem eher ungehobelten rechten Gegenkandidaten, sondern von der Zeitungskorrespondentin. Vor allem für eine deutsche Leserschaft schreibend, hatte sie wohl geglaubt, da sei eine Vorwarnung nötig, wenn sie einmal von der vertrauten Bezeichnung «Bürgermeister» abweiche.

Auch in einigen Nachbarländern Deutschlands, nicht aber in der Schweiz, sind Stadtoberhäupter sogenannte Bürgermeister, als wären sie die Meister der Bürger (und der Bürgerinnen?). Hier drücke ich mit «sogenannt» aus, dass mir der Titel im Grunde unpassend erscheint. Hielte ich es für nötig, meine geneigten Leser (und Leserinnen) darauf hinzuweisen, dass es den altertümlichen Titel wirklich noch gibt, schriebe ich «so genannte Bürgermeister». Getrennt zu schreiben entspricht der Betonung, die in diesem Fall sowohl auf «so» als auch auf «genannt» liegt. Die Reform von 1996 schrieb jedoch vor, auch dann «so genannt» zu schreiben, wenn das anfangsbetonte «sogenannt» gemeint war. Die Abkürzung «sog.» blieb indes erhalten. Mit der Revision von 2006 wurde dann das Zusammenschreiben des Worts wieder zugelassen und der Duden empfiehlt es. Einen Bedeutungsunterschied vermerkt er nicht.

Polnische wie schweizerische Amtssprache

Mit «so genannter Stadtpräsident» hätte die Polen-Korrespondentin verdeutlichen können, dass es ihr nicht um die Geringschätzung des Amtsträgers ging, sondern um den amtlichen Charakter seines Titels. Aber wer hätte den feinen Unterschied überhaupt bemerkt? Auch in deutschen Augen könnte «sogenannt», egal wie geschrieben, einen Schatten auf die Legitimität oder Tüchtigkeit des Bürgermeisters werfen. «Ach so, die heissen in Polen ‹Stadt­präsident›», denkt wohl fast nur, wer schon amtlich mit einem zu tun hatte oder – noch rarer – wer die einschlägige «Sprachlupe» von 2019 gelesen und nicht vergessen hatte. Darin kam just dieser polnische Titel vor, der wörtlich übersetzt eben «Stadtpräsident» lautet, also gleich wie in den meisten Deutschschweizer Städten.

Schon vor fünf Jahren ging es in der «Sprachlupe» um Zeitungstexte aus deutscher Feder, wie sie in der klammgesparten Schweizer Presse immer häufiger auftauchen. Solche Texte konsequent an den helvetischen Sprachgebrauch anzupassen, wie es früher oft versucht wurde, ist mittlerweile nicht mehr praktikabel, zumal auch auf Redaktionen und in Restkorrektoraten vermehrt aus Norden Zugewanderte mitwirken. Eine Anpassung ist oft auch unnötig, etwa dann, wenn ein bei uns kaum gebräuchliches Wort mühelos verstanden wird, wie Beiwagen bei einem Motorrad. Aber wenn neben uns jemand schmökt, ist es für die Nase auf eine andere Art lästig, als das Wort vermuten lässt: schmöken ist norddeutsch für rauchen.

Subventionen einkassiert

Problematisch sind Fälle, in denen dasselbe Wort dies- und jenseits des Rheins unterschiedlich verstanden wird. Neulich war aus Schweden zu lesen: «Subventionen für den Kauf von E-Autos wurden einkassiert.» Na und? Wo es Subventionen gibt, wird immer jemand sie einkassieren. Gemeint war aber, dass sie aufgehoben wurden, dass also das entsprechende Gesetz kassiert wurde, wie Juristen sagen würden. Auch in Deutschland, aber in dortigen Medien scheint einkassieren an der Stelle von aufheben, zurücknehmen um sich zu greifen, obwohl diese Bedeutung in den Wörter­büchern (noch) nicht aufgeführt ist.

Beim zitierten sogenannt liegt der Fall etwas anders: Es wurde verwendet, weil Deutschland keine Stadtpräsidenten kennt, und wirkte deshalb in der Schweiz überflüssig bis befremdlich. Ob «sog.» einen Vorbehalt ausdrückt («sogenannte Experten behaupten») oder einen Fachausdruck einführt, ist nicht immer klar. Daher verzichtet man im Zweifel besser auf die einführende Verwendung. Statt etwa von «sogenannten Schnee­härtern» bei der Pistenpräparierung zu reden, hat man mit «chemischen Schnee­härtern» auf gleichem Raum mehr gesagt. Beim Stadtpräsidenten von Warschau hätte man «sogenannt» besser gestrichen – und schon im Titel und Lead des Artikels mindestens einmal die schweizerisch-polnische Amtsbezeichnung verwendet statt zweimal «Bürgermeister».

Weiterführende Informationen

  • Indexeinträge «Helvetismen/Hochdeutsch» und «Medien» in den «Sprachlupen»-Sammlungen: tiny.cc/lupen1 bzw. /lupen2, /lupen3. In den Bänden 1 und 2 (Nationalbibliothek) funktionieren Stichwort­suche und Links nur im herun­tergeladenen PDF.
  • Quelldatei für RSS-Gratisabo «Sprachlupe»: sprachlust.ch/rss.xml; Anleitung: sprachlust.ch/RSS.html

Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

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