Kommentar

kontertext: Yes we can?

Felix Schneider © zvg

Felix Schneider /  Hinter dem etwas muffigen Titel «Vaters Kiste – eine Geschichte über das Erben» versteckt Lukas Bärfuss einen wilden Essay.

Das Glück der Erkenntnis stellt sich ein, wenn Bärfuss die zentrale Entdeckung seines Essays entfaltet: Wir leiden an «Herkunftswahnsinn». Das ist die Diagnose. Bärfuss liefert eine erhellende Anamnese: Er zeichnet die Beschwerden und die Leidensgeschichte des Patienten auf. Der Patient ist die westliche Zivilisation.

Vaters Kiste

Am Anfang steht das ambivalente Verhältnis zur eigenen Familiengeschichte: Einerseits empfindet Bärfuss – ich nehme mal an, dass er von sich selbst spricht – heftigen Widerwillen gegen seine Herkunft, andererseits fühlt er sich der Familie zugehörig, den Eltern verpflichtet, und die Flucht aus der Herkunft erscheint ihm unmöglich: «Du kriegst den Jungen aus dem Schuldturm, aber niemals den Schuldturm aus dem Jungen.»

Vaters schmutzige Bananenkiste ist die Hinterlassenschaft eines ökonomischen Versagers, der auf dem Thorberg, in Witzwil und schliesslich auf der Strasse landete. Sie enthält Mahnungen, Beschwerden, Schuldscheine, Rechtsöffnungen usw. Und die Mutter – schön, sexy, begehrt von Männern wie von Frauen – will jede Erinnerung an den Vater ihrer Kinder tilgen. Sie nutzt den Vater, der im Knast sitzt, als Negativbeispiel: Werde nicht wie er! Dadurch aber verleiht sie ihm eine mächtige Präsenz. Und mehr noch: Sie liebt gerade die Ähnlichkeit des Sohnes mit dem Vater. Sie liebt ein Leben, vor dem sie den Sohn warnt. Sie liebt die Welt, in der sie sich bewegt, die Welt der Diebe, Huren, Schläger, Zuhälter, Betrüger. 

Darwins Kiste

Bärfuss versucht zum Glück nicht, seine widersprüchlichen Gefühle gegenüber dem Familienerbe aufzulösen, sondern fragt sich, warum Herkunft eigentlich so wichtig und emotional so hoch besetzt ist. Nach einer Schlaufe über Bibel, Eugenik und Römisches Recht landet er bei Darwin.

Mit seiner Evolutionstheorie hat sich Darwin zum Vater und zur Verkörperung des Herkunftsdenkens gemacht. «Über die Entstehung der Arten», erschienen 1859, habe Europa ebenso sehr geprägt wie die Bibel, sagt Bärfuss. Er bestreitet nicht die Fakten, die Darwins positivistische Wissenschaft massenweise herbeischaufelte, sondern untersucht die Art, wie Darwin die Befunde auswählt, präsentiert und in Zusammenhänge setzt. Er untersucht Darwins Erzählweise und sein framing.

Darwins Methode zerteilt die Welt, in Arten, Familien, Individuen. Die Interaktion zwischen ihnen wird mit den Begriffen Selektionsdruck, Vernichtung und Vermehrung beschrieben. «Kooperation kommt nicht vor, eine Wissenschaft der Zusammenarbeit hat er nicht entwickelt», sagt Bärfuss. Die Natur erscheine bei Darwin als Königreich, seine Auffassung der Naturgeschichte sei dynastisch: geprägt von Herrschaft, Kämpfen und Macht. Was Darwin an der Natur deskriptiv beobachtete, wurde dann im Sozialdarwinismus zur gesellschaftlichen Norm. Ökonomisch und in unsrer Lebensführung herrsche dieser «in weiten Bereichen» noch immer. «Die Wirtschaft ist nicht demokratisch». Ob ich reich oder arm bin und in welchem Masse ich Rechte habe, hängt nach wie vor von der nationalen Zugehörigkeit ab, die noch immer weitgehend nach dem Abstammungsprinzip organisiert ist. Während die Herkunft bei den Waren keine Rolle spiele – Hauptsache, die Lieferkette funktioniert –, spielt sie für Menschen eine Riesenrolle. Die Armutsflüchtlinge bezeugen es.

Angeregt von Thomas Carlyle («On History», 1830) beobachtet Bärfuss, wie die Tradition der Aufklärung die Vielfalt der Ursachen ins einfachere Modell Eltern – Nachkommen presst, und er macht das an einem einfachen Beispiel verblüffend klar.

Was ist ein Kondensstreifen?

Wer’s nicht weiss, kann’s bei Wikipedia nachschlagen. Kondensstreifen sind künstliche Wolken aus Wasserdampf und Abgasen im Gefolge von Flugzeugen. Basta. Wenn aber jemand aus dem Fenster einen Kondensstreifen sieht, so nimmt er zugleich noch viele andere Phänomene wahr: Wetter (Sturm?), Krähen (im Flug?), Bäume (von der Miniermotte beschädigte Linden?), Geräusche (ein Martinshorn?), etc. Jedes einzelne dieser Phänomene wird jedoch einer anderen Ursache zugeordnet, deswegen gilt ihr Zusammentreffen – Bärfuss nennt es «Konstellation» – nichts. «Ihr Zusammentreffen hat nichts zu besagen, und wenn das Gegenteil behauptet wird, entsteht Literatur, entstehen Träume und Prophezeiungen, also unwissenschaftliches Zeug.» Die Surrealisten haben Konstellationen gefeiert. Eines ihrer Ur-Objekte ist die zufällige Begegnung eines Regenschirms mit einer Nähmaschine auf einem Seziertisch.

Im Alltag und in der Wissenschaft arbeitet westeuropäisches Denken mit Kategorien. Und wie diese Kategorien angesetzt werden, ist von politischer Bedeutung, denn sie ordnen bestimmte Objekte oder Phänomene bestimmten Zusammenhängen zu und schliessen andere weitgehend aus: Der Kondensstreifen wird eben gerade nicht mit Wetter, Krähe und Umwelt in Zusammenhang gebracht.

Struktur oder Freiheit?

Gegen die dominante Suche nach Strukturen, Systemen, Ordnungen, Regeln und Modellen macht Bärfuss die subjektive Entscheidungsfreiheit stark: «Es gibt überhaupt kein ‹geistiges Erbe›, das nicht ausgeschlagen werden könnte. Wenn wir den Willen haben, können wir die Bezüge selbst wählen, und wir sollten es tun. Im Gegensatz zur biologischen ist jede kulturelle Herkunft selbst gewählt.» Seltsam unklar ist diese Stelle. Was bedeuten die Anführungszeichen? Wieso ist nur von geistigem Erbe die Rede, und nicht auch vom materiellen? Wer ist dieses Wir? Hatten die Deutschen wirklich die Wahl, das Erbe des Nationalsozialismus und der Judenvernichtung «auszuschlagen»? Bärfuss entgeht wohl nicht ganz der Gefahr, den Subjekten eine Freiheit anzudichten, die in den Bereich des Wunschdenkens gehört. «Yes we can» lautet, unausgesprochen, die ersehnte Parole. Vielleicht ist es hilfreich, sich an die Formulierung von Marx zu erinnern: «Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen. Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden.» Dürrenmatt hat das Bild vom Weg ins Verhängnis gebraucht, auf dem die Menschheit jederzeit hätte umkehren können. Umkehr auf einem Weg bedeutet, dass man nicht sofort in jede Richtung gehen kann, sondern zunächst mal zurück muss.  Vielleicht ist das realistischer.

Haken schlagen

«Wild» ist dieser Essay, weil Bärfuss auf gerade mal neunzig Seiten vom roten Faden des Themas «Herkunftswahnsinn» immer wieder wegspringt in andere Themen. Wer das liest, muss auf der Hut sein. Es kann jederzeit und plötzlich in viele Richtungen losgehen. Das hat seinen Charme, gelegentlich nervt es auch, und mehrmals gelingen Bärfuss so nebenbei brillante Formulierungen und verblüffende Pointen. Vielleicht ist der Essay auch einfach aus verschiedenen Einzelarbeiten zusammengefügt? Wie auch immer, er endet mit einer politischen Zuspitzung: Der Autor empfiehlt, sich dem Genossenschaftsgedanken wieder zuzuwenden. Keine schlechte Idee – Stoff für den nächsten Essay!

Lukas Bärfuss: Vaters Kiste. Eine Geschichte über das Erben. 95 Seiten Rowohlt Hamburg November 2022


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

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Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren. Sie greift Beiträge aus Medien auf, widerspricht aus journalistischen oder sprachlichen Gründen und reflektiert Diskurse der Politik und der Kultur. Zurzeit schreiben regelmässig Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler, Felix Schneider und Beat Sterchi.

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