Kommentar

kontertext: Gaza – unter den Trümmern 5000 Jahre Geschichte

Felix Schneider © zvg

Felix Schneider /  Der Kampf um die Kulturgüter aus Gazas Vergangenheit ist ein Kampf um die Zukunft Palästinas.

«Trésors sauvés de Gaza» heisst eine Ausstellung im «Institut du monde arabe» in Paris, die dort noch bis zum zweiten November zu sehen ist. Sie zeigt nicht nur gerettete Kunst- und Kulturschätze aus der 5000-jährigen Geschichte von Gaza sondern dokumentiert auch den harten Kampf von Gazaoui(e)s für ihre Geschichte und ihr historisches Erbe. Die Frage, ob wir uns um Kultur kümmern «dürfen», während doch die Menschen im Gaza und in der Westbank vom israelischen Militär massenhaft getötet, vertrieben und gepeinigt werden, ist von den Leuten vor Ort entschieden worden: Man muss. Die Wertschätzung der palästinensischen Kultur und der Versuch, sie zu retten, sind eine zwingende Folge der Anerkennung der Grund- und Menschenrechte der PalästinenserInnen. Unter den Belegen, mit denen Südafrika vor dem Internationalen Strafgerichtshof seinen Vorwurf des Völkermords gegen Israel zu untermauern versuchte, sind auch mehrere Zerstörungen historischer Stätten in Gaza aufgeführt. Der Direktor des «Institut du monde arabe», der ehemalige Kulturminister Jacques Lang, schreibt im Pressedossier zur Ausstellung, die von den beiden palästinensischen Designern Elias und Yousef Anastas szenographiert wurde: «Puisse cette exposition historique contribuer à redonner un espoir dans l’avenir de Gaza loin des projets déments de Riviera et des déplacements forcés des Palestiniens.»

Archäologie in Gaza

Nach Vorläufern seit dem 19. Jahrhundert erfolgte Mitte der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts, infolge des Abkommens von Oslo, ein hoffnungsvoller Aufbruch der palästinensischen Archäologie. Gemeinsam mit der von Dominikanermönchen betriebenen «Ecole biblique et archéologique française de Jérusalem» begann der junge «Service des Antiquités de Gaza» mit Grabungen, die Wunderdinge über die Geschichte Gazas vom Bronzezeitalter bis zum Ende des osmanischen Reiches zu Tage förderten. Das Kloster Saint Hilarion kam zum Vorschein und wurde von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt. Römische und byzantinische Totenstädte wurden ebenso entdeckt wie ein griechischer Hafen aus der Zeit von 800 v.u.Z.

Im Herbst 2000 zeigte das Pariser «Institut du monde arabe» die Ausstellung «Gaza Méditerranéenne. Histoire et archéologie en Palestine». Andere Ausstellungen in Europa folgten. Im Herbst 2006 eröffnete das «Musée d’art et d’histoire de Genève» die Ausstellung «Gaza à la croisée des civilisations», die Gaza als Drehscheibe zwischen der arabischen Halbinsel und dem Mittelmeer verstand und als Ereignis gefeiert wurde. Bundesrätin Micheline Calmy-Rey empfing in der Ausstellung Mahmoud Abbas, den Vorsitzenden der palästinensischen Autonomiebehörde. Die Stimmung war optimistisch. Zu sehen waren 200 Werke, ausgegraben von französisch-palästinensischen Archäologie-Teams, und dazu noch 260 Objekte aus der Privatsammlung von Jawdat Khoudary, mit dessen Geld ungefähr zur selben Zeit auch ein archäologisches Museum in Gaza eröffnet wurde. An diesem Museumsprojekt für Gaza waren die UNO und mehrere Museen beteiligt. Die Schweiz bildet junge palästinensische Konservatoren und Archäologinnen für das zukünftige Museum aus.

 

Aphrodite
Das ist Aphrodite oder Hekate. Sie stützt sich auf einen «ithyphallischen» Hermes, das heisst auf einen Hermes mit deutlich sichtbarem und erigiertem Penis. Rechts von ihr war noch Pan als Kind. Die Marmorstatue aus hellenistischer oder römischer Zeit wurde von einem Fischer aus dem Meer geholt, gehörte Jawdat Khoudray und ist heute im Besitz der Palästinensischen Autoritätsbehörde. Sie ist in Genf eingelagert.

Altertumsverliebter Unternehmer

Jawdat Khoudary aus Gaza, heute Ende 60, als Unternehmer in der Baubranche steinreich geworden, hatte begonnen, sich für die archäologischen Schätze zu interessieren, die seine Bagger als Kollateralgewinn grosser Bauprojekte aus der Erde hoben. Er entwickelte ein leidenschaftliches Engagement für die Zeugnisse der Vergangenheit Gazas, die in dem extrem dicht besiedelten Gebiet durch Bautätigkeit, Infrastrukturprojekte, anarchistische Stadtentwicklung, illegalen Handel, Kriege und israelischen Kunstraub bedroht waren. In ganz Gaza, so wird berichtet, wusste jeder Bauarbeiter und jeder Fischer: Wenn aus dem Meer oder aus dem Boden ein altes Stück auftaucht, bring’s dem Khoudry, er bezahlt dafür. Khoudrys weitläufiges Anwesen, in dem antike Säulen, griechische Statuen und ägyptische Vasen inmitten von Zitronen- und Jasmin-Hainen standen, beschriebJodi Rudoren, bis vor kurzem Chefredaktorin der jüdischen Zeitung Forward, im Februar 2024 als «not just the loveliest place I ever visited in the Gaza Strip, it was one of the most serene — and surreal — spots I’ve ever seen anywhere». 

Jawdat Khoudry lebt heute im Exil in Ägypten, sein Anwesen und das Museum wurden vom israelischen Militär zerstört. Die archäologischen Zeugnisse, die dort waren, sind verbrannt, zerschlagen, verschwunden. 

24 Tonnen Altertümer warten in Genf

Als die Genfer Ausstellung 2007 abgebaut wurde, realisierte man, dass man die Objekte nicht mehr los wurde. In Gaza war gerade die Hamas an die Macht gekommen, und dass die islamistischen Eiferer Zeugnisse der vorislamischen Zeit beschützen würden, war nicht anzunehmen. Ohnehin waren die verschiedenen palästinensischen Fraktionen untereinander so zerstritten, dass an die Errichtung eines gemeinsamen Museums nicht zu denken war. Die Einfuhr in die Westbank wiederum lehnten die Fanatiker auf der anderen, der israelischen Seite ab. So blieben die 24 Tonnen Altertümer in Genf, sie sind dort seit über fünfzehn Jahren im „Ports francs“, den zollgesetzlich exterritorialen Lagerhallen auf dem Genfer Flughafen, eingelagert und warten auf ihre Rückführung. Die Zerstörungen im gegenwärtigen Krieg haben sie noch kostbarer gemacht und für Khoudary sind sie das einzige, was ihm von seinem Besitz geblieben ist. 

Eine Not-Archäologie

Die «Premiere Urgence Internationale», eine NGO für humanitäre Nothilfe hat 2017 die Initiative «Intiqual» ins Leben gerufen, die sich mit der Sicherung von kulturellem Erbe und der Unterstützung der lokalen Bevölkerung im besetzten palästinensischen Gebiet befasst. Unterstützt vom palästinensischen Tourismus- und Antikenministerium, von der genannten «Ecole biblique» der Dominikaner, dem französischen Generalkonsulat in Jerusalem, dem British Council, der UNESCO, dem Louvre und anderen, versucht sie zu retten, was zu retten ist, oder zumindest die Schäden zu dokumentieren. Dass sie derzeit im Krieg kaum Handlungsmöglichkeiten hat, ist klar, trotzdem aber ist diese Initiative wichtig. 

Kultur kann den Menschen ein Spiegel sein, in dem sie sich erkennen und durch Identifikation oder Abgrenzung definieren können. Das kann sie aber nur, wenn ihre Geschichte präsent ist. Um zu wissen, wer wir sind oder sein könnten, brauchen wir Erinnerungsstätten, historische Erzählungen und Bilder, Objekte aus vergangen Tagen. Die Kultur muss diachronisch als etwas Gewordenes lesbar sein. Und das droht in Gaza verloren zu gehen. Trumps Riviera-Projekt setzt hier an: Die Geschichte soll überbaut werden. 

Die Initiative «Intiqual» besteht vor allem aus risikobereiten jungen Archäologen und Architekten, Männer wie Frauen, und sie verkörpern die Zukunft Gazas.  

Die ausgelöschte Vergangenheit

Gaza hat eine grosse Vergangenheit. «Wâdî Ghazza» war eine blühende Oase am Eingang zur ungastlichen Wüste. Gazas Hafen öffnete sich aufs Mittelmeer. Von der «grössten Stadt Syriens» sprach der griechische Historiker und Geograph Strabo. Hier kreuzten sich die Karawanenwege von Afrika und Asien. Als natürliche Verbindung zwischen Ägypten und Mesopotamien war Gaza für die umliegenden Reiche von grossem wirtschaftlichem und politischem Interesse. Hier herrschten sukzessive die Ägypter, Assyrer, Babylonier, Perser, Griechen, Römer, Mamelucken und schliesslich die Ottomanen. 

Mosaik Giraffe
Giraffe. Ausschnitt aus dem Mosaikboden einer byzantinischen Kirche von 579. Ebenfalls aus dem Besitz der palästinensischen Autonomiebehörde, früher in der Sammlung Jawdat Khoudray, eingelagert in Genf.

Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren. Sie greift Beiträge aus Medien auf, widerspricht aus journalistischen oder sprachlichen Gründen und reflektiert Diskurse der Politik und der Kultur. Zurzeit schreiben regelmässig Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler, Felix Schneider und Beat Sterchi.

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