Kommentar

kontertext: En Garde! Der Essai als vernachlässigte Gattung

Michel Mettler © zvg

Michel Mettler /  Heute führt das spielerische Nachdenken aus Versuch und Irrtum ein Schattendasein in der literarischen Öffentlichkeit. Ein Weckruf.

Der Eintrag über den Essai in der deutschen Wikipedia beginnt mit dem Satz, er sei «eine geistreiche Abhandlung, in der wissenschaftliche, kulturelle oder gesellschaftliche Phänomene betrachtet werden». Aufschlussreich scheint mir das Verb ‹betrachten› zu sein: Es bezeichnet eine Mitte zwischen Analyse, Beschreibung und Darstellung und vereinigt in sich die janusköpfige Natur einer Gattung, der sich kontertext in der kommenden Zeit wiederholt zuwenden will.

Wer einen Text ‹Versuch› nennt, weiss noch nicht unbedingt, was ihm damit gelingen soll. Die Autorin strebt etwas an, ohne schon ein festes Ziel oder Ergebnis zu kennen. Sie hat ein Terrain im Blick, das ihr unbegangen vorkommt. Aber nicht einmal dies ist gewiss. Einzig gewiss sind drei Dinge in bezug auf den Essai als Gattung. Zuerst, dass er als Textunternehmen aufbrechen will – dass er persönlich gefärbt ist, weil die Aufbrechende in der Regel identisch ist mit der schreibenden Person. Zum Zweiten macht ihn aus: Es wird im Essai zugleich diskutiert, dargelegt, erwogen, geschildert, analysiert und erzählt. Seine Argumente sollen nicht entkleidet werden auf einen überpersönlichen Kern, sondern in Lebenspraktisches eingebettet bleiben: in Betrachtungen. Das dritte Element ist die fragende Haltung. Wir haben es mit einer Gattung der Ergebnisoffenheit zu tun. Sie präsentiert keinen Indizienprozess, keine lückenlose Beweisführung. Sie sucht Resonanz, ohne schon zu Beginn zu ‹wissen›, welcher Art diese Resonanz sein wird. Vielmehr sind die Lesenden in eben diesen Findungsprozess einbezogen.

Das macht den Essai reizvoll und brisant, da sein Denkweg zwischen Meinungen, Thesen, Interpretationen und aufgearbeiteten Fakten verläuft. Über aufgelockerte Erde gleichsam. Wichtig ist dabei eine Balance: Zwar wird der persönliche Zugang zum Inhalt vorausgesetzt, doch ist die Freiheit nicht die selbe wie beim literarischen Erzählen. Der Essai stützt sich auf verfügbares Material – auf Beobachtbares, Hergeleitetes, Zeugnisse und schriftliche Referenzen ebenso wie auf eigene Erfahrungen. Doch innerhalb dieser heterogenen Materialität gibt er eher etwas zu bedenken, als fertige Schlüsse zu präsentieren. Durch diese Qualität des fordernden Fragens lebt er als Gattung von einer Eleganz, die rhetorische und appellative Qualitäten hat und an die Degenfechterei der alten Gesprächskünste erinnert: «En garde!»

Glauben und Meinen

Bevor Wissen sich einstellt oder gar Kompetenz, ist oft die Meinung schon da. Sie ist geschenkt, entspringt urwüchsig Affekten und dem Temperament, wird genährt von persönlichen Erfahrungsschätzen, dem täglichen Like and Dislike. Ich sage meine Meinung und hoffe, anderen könnten die Dinge Ähnliches bedeuten wie mir.

Für ein halbes Jahr in London beherbergt, habe ich mir gestern im Bookshop der Tate Britain einen Kunstführer gekauft, dessen Untertitel lautet: An opinionated guide to Art London. Die Wortwahl stellt klar, welch zentrale Rolle die Meinung im gesellschaftlichen Diskurs unserer Zeit spielt. Einst verpönt als das, was (leider) jeglicher Sachkenntnis vorangeht und hoffentlich nicht veröffentlicht wird – eine Meinung kann ja jede/r haben –, ist sie heute nicht nur das omnipräsente Gewürz, das die geistigen Substanzen aufschließen soll, sondern der Treiber vieler Debatten, die umso langatmiger und ermüdender anmuten, je mehr man selber von der verhandelten Sache versteht. Doch die sozialen Medien dulden keine langatmigen Darlegungen, sie wollen Like and Dislike. «Sei meinungsstark und tue deine Vorlieben kund!»

Wenn auch thesenhaft und in der Herangehensweise persönlich, unterscheidet sich der Essai jedoch von Polemik, Traktat und Pamphlet als Giessformen der verschriftlichten Meinung. Denn seine Grundhaltung ist eine des Fragens. In dem Mass, als der Text ‹versucht›, versuchen die Lesenden mit. Bei solchem Mitdenken und Mitverfassen ist eine innere Unentschiedenheit Teil des Spiels. Auszuhalten wäre hier das Offene, das lose Ende, die Kontingenz. Dem fügt der Essai nur eine Spielform des Betrachtens bei. Er unterbreitet Vorschläge, verknüpft sie und fragt: «Was meinst du dazu?» Insofern muss bei dieser Gattung ertragen werden, dass für die aufgeworfenen Probleme nie ein situationsunabhängig tauglicher Lösungsweg präsentiert wird, der auf ewige Zeiten tragfähig bleibt. So ist der Essai die Verlaufsform, die sich zwischen dem Erzählen und der Verfügbarmachung durch wissenschaftliche Methoden fortbewegt. Und er setzt einen Kontrapunkt zur Ratgeberliteratur, die vorgibt, schon zu wissen, was gut für mich ist.

Indem Essais persönlich gefärbt sein dürfen, ja sollen, müssten sie eigentlich meinem opinionated Guide nahestehen und in unsere Zeit eines möglichst beherzten Meinungsführertums passen. Doch weil sie ihre Antworten nicht von Anbeginn parat haben (und feilbieten), fehlt ihnen der ‹predigende› Charakter, um die Massen hinter einer These zu scharen. Man könnte sagen, der Essai sei immer um Fussbreite hinter dem quod erat demonstrandum zurück. Er präsentiert weniger das Ergebnis als «the making of arguments», ohne dass diese am Ende wie aus dem Ei gepellt vor uns stünden. Vielmehr hallen Zwischentöne nach, die Degenklingen funkeln und fordern dazu auf, weiterzufechten – mit Essais auf Essais zu reagieren, also Trial and error in Schriftform zu betreiben als Work in progress.

In dieser Rubrik soll künftig in loser Folge Essayistisches behandelt werden: Buch-Essais, der Essayfilm, die Geschichte der Gattung und ihre heutige Praxis. Damit soll an eine spielnahe Form des Denkens erinnert werden, die nicht nur eine grosse literarische Vergangenheit hat, sondern auch das Potential, Alltagsthemen kongenial aufzugreifen, ohne in platte Thesendrescherei zu verfallen. Erstaunlich deshalb, welches Schattendasein sie hierzulande führt, denn eigentlich wäre sie geeignet, idealtypisch das zu tun, was oft in Unkenntnis der Lage von der erzählenden Literatur gefordert wird: Aktuelles zu thematisieren und auf brisante Fragen einzugehen.

Erst neulich sind mit Büchern von Lukas Bärfuss (Vaters Kiste) und Christian Haller (Blitzgewitter) zwei Exemplare der Gattung erschienen. Und die Edition essais agités versucht seit einigen Jahren, dem Schreiben als Versuch eine Plattform zu bieten. Stoff zuhauf, um an dieser Stelle demnächst verhandelt zu werden.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Michel Mettler, geb. 1966, tätig als freiberuflicher Autor und Herausgeber, interessiert sich für die Geschichtlichkeit von Gegenwart, Wortgebrauch und Erzählungen, die der Subtext schreibt. Zuletzt hat er als Co-Herausgeber den Band DUNKELKAMMERN veröffentlicht (Suhrkamp 2020).
Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren, zurzeit Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler und Felix Schneider.
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Michel Mettler

Michel Mettler, geb. 1966, lebt als freiberuflicher Autor und Herausgeber in Klingnau. Er interessiert sich für die Geschichtlichkeit von Gegenwart und Erzählungen, die der Subtext schreibt. Zuletzt hat er als Co-Herausgeber den Band DUNKELKAMMERN veröffentlich (Suhrkamp 2020).