Kommentar

kontertext: Das Märchen vom einfachen Volk

Michel Mettler © zvg

Michel Mettler /  Die «Classe politique»: Kleine Geschichte eines erstaunlich widerstandsfähigen Kampfbegriffs.

Wenn ich mich zu erinnern versuche, wann mir der Begriff Classe politique letztmals begegnet ist, ergreift mich ein seltsames Gefühl. Meist kommt er aus dem Mund eines Vertreters eben dieser Gruppe. Parteigänger*innen der SVP verwenden ihn gern, um ihren eigenen Klassenkampf auszurufen, den Kampf des Volkes gegen die, die so tun, als würden sie es vertreten. Diese Argumentation wird von einer Chimäre getragen: Der Mann, die Frau «von der Strasse», wer soll das sein? Eine Metzgerin? Ein Sachbearbeiter? Ein Bewohner abgelegener Berggebiete? Oder jemand, der in Downtown Switzerland mit Hund und Whirlpool auf der 17. Etage lebt?

Ähnlich diffus ist die Definition des Konterparts, der Berner Clique nach SVP-Lesart. Sind dies alle anderen Politiker*innen? Eine Antwort bleibt die Partei schuldig, denn ihre Entgegensetzung bedarf keiner konkreten Gestalt. Offenbar wissen die Gefolgsleute blind, wer zum Volk gehört und wer das nur vorgibt. Dieses gleichsam gottgegebene Wissen um die nationale Identität und den Wählerwillen pachtet die SVP nicht allein. Es ist ein Erkennungszeichen zahlreicher dogmatisch-populistischer Strömungen, zu entdecken auch auf den Filmdokumenten vom Sturm aufs Kapitol, wenn die Eindringlinge skandieren: «This is our house», oder auch einfach «USA, USA!» Sie sind die USA, und dieser Staat, den es mit den Fäusten und Knüppeln der Rechtschaffenheit zu verteidigen gilt, ist ihr Staat. Er hat sie zu vertreten, die sich in einer gefühlten Mehrheit sehen.

Diese Ideologie, der auch die SVP in verschleierter Form huldigt, ortet die wahren Feinde des Volkes im Parlament, in Gerichten, auf Ämtern. Sie tragen feines Tuch, privat verwalten sie Vermögen, und ihr Schuhglanz ist von keiner Alltagsanwehung getrübt. Die Classe politique ist jenes nebulös im Sucher des Neids aufscheinende «Kapital», gegen das schon die Nazis anzutreten vorgaben, um die Mittellosen der Weimarer Republik zu mobilisieren. Da wurde es dem «Weltjudentum» zugeschrieben, bei den Bolschewisten dem ausbeuterischen Adel, beim Sturm auf das Kapitol «dem» Establishment – dem Washington der (demokratischen) Berufspolitiker.

In der Schweiz wird der diskretere französische Begriff gewählt, wenn es gilt, all jene anzusprechen, die sich von wichtigen Entscheidungen ausgeschlossen fühlen, was einen diffusen Hass auf die Obrigkeit nährt. Gerade die Partei, die behauptet, den Mann, die Frau von der Strasse zu vertreten, und diesen Anspruch stolz im Namen trägt, schneidet allerdings schlecht ab, wenn man den Lobbyismusquotienten der Schweizer Parteien erhebt, der auch Verfilzungsindex genannt werden könnte: Die SVP kooperiert mit Wirtschaftsverbänden, die sich für die Bevölkerung nur als Manövriermasse ihrer Planspiele interessieren.

Bemerkenswert auch, wie willig die SVP zur Diskreditierung ihrer politischen Gegner den Begriff Classe gebraucht, obwohl sie jeden, der von gesellschaftlichen Klassen zu sprechen wagt, gern der Umstürzlerei verdächtigt. Hier aber spricht sie nicht von Elite, sondern braucht ausgerechnet jene Bezeichnung, die wie keine andere, von Adam Smith und Henri de Saint-Simon her, im Marxschen Denken verankert ist.

Wie aber wäre der Begriff Classe politique grundsätzlich zu verstehen? Er bezeichnet eine Kaste von Berufspolitikern, die ihre Arbeit ausserhalb der Parlamente, Gremien und Exekutiven weitgehend eingestellt haben, weshalb man sagen kann, dass sie das gesellschaftliche Leben nurmehr aus dem Blickwinkel der Politik wahrnehmen. Auch hier fällt auf, wie widersprüchlich die SVP den Begriff verwendet. Denn gerade diese Partei betreibt seit Jahren das wohl professionellste Polit-Marketing der Schweiz.

*

«We, the people»: Mit einem selbstgewissen, getragenen Wir beginnt die amerikanische Verfassung. Es mag an diesem speziellen Punkt der Geschichte eine breit abgestützte Autorität dafür gegeben haben. Und doch war das Wir schon damals eine rhetorische Figur. Es verband die Verfasser – die informierte und gebildete Kaste – mit einem fiktiven Kollektiv Gleichgesinnter zu einer Nation, die einen Mehrheitswillen verkörpern sollte. Spätestens als es gegen die Sklaverei ging, erwies sich diese Fiktion als hilfreich. Auf dem grossen Plan der Geschichte mag sie heute hinnehmbar erscheinen, weil sie den Unterdrückten die Kraft gab, ihren Platz in der Gesellschaft einzufordern. Doch je näher sie – als Lüge – an meinen Alltag heranrückt, desto geisterhafter mutet sie an. Wenn Dorfobere ein Wir bemühen, dem ich mich nicht zugesellen mag, wirkt das verlogen, und wenn der Nachbar von Interessen als den meinen spricht, die ich beileibe nicht teilen kann, ist dies ein Anlass, die innere Entfremdung zwischen uns stärker zu spüren. Wenn aber die SVP «unsere Schweiz» feiert und ihr die «fremden Richter» Brüssels entgegenstellt, dann verdichtet sich der Verdacht, in einem ganz anderen Staat zu leben als dem, den die selbsternannte Vaterlandspartei beschwört.

Herje, die Väter. Auch meiner träumte vom einfachen Volk. Aufgewachsen auf dem Land, war sein goldenes Kalb jene gute alte Dorf-Identität, der wir als Akademikerfamilie längst entwachsen waren. Wir lebten im Zuzügerviertel, in einem einfachen Haus zwar, aber doch am «Bonzenhügel», wo man Aussicht und Abendsonne genoss. Etwas von der verlorenen eidgenössischen Identität fand der Vater im Milizheer wieder. Dieses Zentralorgan der Willensnation war ihm heilig. In der Kaserne, meinte er, kämen sie alle zusammen, die Schweizer (Männer). Da komme es zum grossen Schulterschluss.

Was für ein politisches Erfolgsrezept es ist, die Sehnsucht nach dem imaginären Herkommen zu wecken und mit Karikaturen des einfachen Lebens zu bebildern, zeigt der Schweizer Polit-Alltag bis heute. Auch in Zeiten der Globalisierung sind damit offenbar noch immer Wählermassen zu bezirzen: mit dem egalitären Du der dörflichen Allmende. Allerdings muss diesem Manöver jeder Anschein von Verstellung ausgetrieben werden, auch wenn es nur politisches Kasperltheater ist.

Ein Meister dieser Kunst war Christoph Blocher. Wie er seine Gefolgschaft im Albisgüetli ansprach – dieses Gepolter, das einer Gotthelfparodie glich –, signalisierte genau dies: Ich bin nicht Teil der Classe politique, sondern einer von euch. Wir sind vom gleichen Holz, Patrioten vor dem hehren Gedanken der unabhängigen Schweiz.

Aber welcher Schweiz?

Immer wieder habe ich gestaunt, wie willfährig Blochers Klientel darüber hinwegsieht, dass hier ein Mitglied vermögender Klüngel vorgibt, ihre Interessen zu vertreten. Entspringt ihre Blindheit dem Wunsch, weiter an die bäuerliche Schweiz zu glauben, von der der Verführer spricht – in einer Welt der Melkroboter und des internationalen Saatguthandels?

*

Ich erinnere mich: In den Siebzigerjahren war es im Kreis meiner Eltern geradezu ein Gebot des guten Tons, Klassengrenzen zu erörtern. Damals sassen italienisch sprechende Männer im Hochsommer auf ratternden Baumaschinen, um unsere Strasse für den wachsenden Quartierverkehr zu erweitern. Es war ein Quartier der Besserverdiener, und die Männer auf den Maschinen nannte man «Fremdarbeiter». Ich kurvte mit dem BMX-Rad um sie herum und wollte unbedingt mit ihnen sprechen, denn in ihren orangen Westen waren sie Helden für mich. Ich wollte sein wie sie, ahmte ihre Art zu gehen und ihr gebrochenes Deutsch nach. Zuhause erntete ich damit Lacherfolge und wusste nicht warum. Dies alles geschah in jenem Hitzesommer, in dem mein Vater die selbstauferlegte Krawattenpflicht beklagte, die ihm das Atmen schwer und die Arbeit zur Qual machte.

Leuchtweste hier, Anzug dort: Schon als junger Beobachter war es peinvoll für mich, dass wir uns nicht einfach die Wahrheit sagen konnten: Jemand verdiente gut, jemand kärglich, damit mussten wir umgehen, politisch wie nachbarschaftlich. Einer stand in der Mittagshitze, der andere sass im gekühlten Büro. Beide bewohnten sie dieses Land. Beide besassen sie nur eine Stimme (wenn überhaupt).

Aber wog dies alle Ungleichheit auf?

50 Jahre später tritt die Volkspartei gegen ein tieferes Rentenalter für jene Kalabresen ein, die uns damals den Weg durch die Sommerhitze ebnen sollten. Ein tieferes Rentenalter für Risikoberufe, meinen die Buchhalter der Nation, könnten wir uns nicht leisten. Dafür sechs Milliarden Franken für ein neues Kampfflugzeug.

Obwohl sie längst den Schweizerpass haben, zählen die italienischen Arbeiter offenbar nicht zu jenem «einfachen Volk», das die SVP zu vertreten behauptet, wenn sie ihm die Classe politique gegenüberstellt – sich selbst.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Michel Mettler, geb. 1966, tätig als freiberuflicher Autor und Herausgeber, interessiert sich für die Geschichtlichkeit von Gegenwart, Wortgebrauch und Erzählungen, die der Subtext schreibt. Zuletzt hat er als Co-Herausgeber den Band DUNKELKAMMERN veröffentlicht (Suhrkamp 2020).
Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren, zurzeit Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler und Felix Schneider.
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Michel Mettler

Michel Mettler, geb. 1966, lebt als freiberuflicher Autor und Herausgeber in Klingnau. Er interessiert sich für die Geschichtlichkeit von Gegenwart und Erzählungen, die der Subtext schreibt. Zuletzt hat er als Co-Herausgeber den Band DUNKELKAMMERN veröffentlich (Suhrkamp 2020).