Kommentar
kontertext: Fahrradhelme und Kronen
Zweieinhalb Monate lebe ich schon hier, und noch immer verstehe ich sie nicht, diese Stadt – ihre Gegensätze, ihre Masseinheiten, ihre verschiedenfarbenen Münzen, ihren Linksverkehr. Und so bin ich gleichsam als berufener Ignorant in das vermeintliche Jahrhundertereignis hineingestolpert: «Es lebe der König! Long live Charles III!» Palastgeschichten allenthalben, Krönungsfieber, aber auch Krönungsmüdigkeit. Und selbstredend Merchandising, wie immer, wenn es um die Erhabenen geht – man erinnere sich an King Roger und sein royales RF-Signet.
Soll man also eine Tasse kaufen? Ein Küchentuch? Servietten, damit auf dem königlichen Konterfei Olivensteine platziert werden können?
«How do you feel about the coronation?» Bei vielen ist da nur Gleichgültigkeit zu spüren. «Als hätten wir keine grösseren Probleme», sagt die Verkäuferin in der Bäckerei. Und die Frau im georgischen Spezialitätengeschäft, zu dem ich regelmässig radle, um Gewürzkräuter zu kaufen, mag gar keine Worte verlieren – ihr reicht eine abfällige Handbewegung. Ich lächle ihr zu, bezahle und befreie am Poller draussen mein Fahrrad von der dreifachen Ketten-Umschlingung.
Eine Krone ist kein Fahrradhelm. Kronen sollen präsentieren, Helme sollen widerstehen und vor Stürzen schützen. Die Krone aber ist ein zerbrechliches Ding, nicht auf Stürze ausgelegt, sondern gemacht für Kissen, auf denen man sie herumreicht; für Handschuhe, mit denen sie hochgehoben und auf durchlauchte Häupter gesetzt wird.
Die Krone, um die es hier geht, hat in der Vergangenheit viele taumeln und stolpern lassen, da sie – als Gekrönte oder Gehörnte – nun ihren Weg vor den Augen der Weltöffentlichkeit gehen mussten, oft schon in jungen Jahren. Das dürfte diesmal anders sein: Der Titular ist im vorgerückten Alter zum Zug gekommen. Seine erste königliche Tugend war Geduld. Und die Aufmerksamkeit des Erdkreises wird sich schon bald anderen Fragen zuwenden. Den steigenden Meeresspiegeln zum Beispiel oder den steigenden Preisen.
Das öffentliche Interesse soll übrigens selbst auf der Insel um einige Inches geschwunden sein. Doch es ist noch immer gross genug, das zeigt die Präsenz in den sozialen Medien. Viel Selbstgebasteltes kursiert, Scherzbilder, Frotzelverse. Dies beweist, dass das Thema auch die nicht ganz kalt lässt, die behaupten, damit durch zu sein.
«Fahrradhelm oder Krone?» Das ist wohl kein Willensentscheid, anders als die Wahl des Fortbewegungsmittels, etwa bei der Anreise zur Insel: Der Zug fordert Geduld und etwas Nerven, legt aber an Beliebtheit zu, die Fliegerei wird peinlicher mit jedem Tag. Auf die Sänfte würde ich freiwillig verzichten, aber noch niemand hat sie mir angeboten. Auch da, wo ich als Kunde König bin, bleibe ich ungekrönt und muss auf Punkt und Komma berappen, was auf dem Laufband liegt – it’s a material world.
Ein entscheidender Faktor bei Kronen soll das Gewicht sein, nicht anders als bei Helmen. Wer radelt schon gern mit dem Gefühl, einen Riesenkürbis mitzuführen. Elizabeth, die letzte und ausdauerndste Kronenträgerin der Insel, liess die ihre abändern. Sie war ihr zu hoch. Das lasse sie schwerfällig aussehen, fand sie, ausserdem sei das gute Stück arg schwer. So wurde es für die Coronation umgearbeitet, etwas abgeflacht – als wäre die Königin ein Lastkahn, der unter tiefen Themsebrücken durchgleiten muss. Dabei ist doch von blossem Auge zu erkennen, dass die Westminster Abbey höher aufragenden Kopfschmuck toleriert.
Offenbar wird Krönungsbereiten empfohlen, die Krone vor der Zeremonie eine Weile in ihren privaten Räumen zu tragen, um die Hals- und Nackenmuskulatur auf die Aufgabe vorzubereiten. Man müsste hier wohl von einer drohenden Krönungsmigräne sprechen. Oder ist das bereits Majestätsbeleidigung?
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Hier im East End, wo ich mit Künstler*innen befreundeter Disziplinen lebe, sind die Royals kaum präsent. Das Quartier ist muslimisch geprägt. Viele Menschen, mit denen ich gesprochen habe, sind bemüht, ein gottgefälliges Leben zu führen. Dabei ist ihnen die Krone wenig behilflich. Fahrradhelme zu tragen, untersagt der Koran übrigens nicht ausdrücklich. Es verstosse gegen kein heiliges Gesetz, sich vor drohenden Gefahren zu wappnen, sagt der Imam, im Gegenteil: «Mit allem, was dein Leben schützen soll, schützt du auch Gott.» Das gilt sogar für Frauen.
Ich habe den Eindruck, Ahmed, der Besitzer des Handy Repair Shop in Bromley-by-Bow, der mir neulich zu Hilfe kam, brauche keinen weltlichen Herrscher im Buckingham Palace, um dem gottgefälligen Leben zu genügen, das er seinen Kindern vorleben will. Selbst dann nicht, wenn dieser Herrscher sich in Gummistiefeln beim Jäten ablichten lässt. Aber stören wird Ahmed die Zeremonie deshalb noch lange nicht. Ohnehin sei das alles viel zu weit weg – das geschehe in einer anderen Stadt. Beim Zuhören denke ich: wohl auch in einem anderen Land, sogar auf einem anderen Planeten. Für das Wohl von Ahmeds Familie steht keine Herrscherfamilie ein. Ein Fahrradhelm schon eher, auch wenn Ahmed stolz auf sein japanisches Hybridauto ist, das immer vor dem Laden steht, stellvertretend für den erreichten Wohlstand. «Pearl white», sagt er lächelnd; ein Lächeln, weit weg von Westminster, ein Lächeln, das näher zu Gott will und doch nicht auf das tägliche Wirtschaften verzichten kann.
Ich lege gerne Geld in seine Hand, viel lieber, als ich zuhause Steuern zahle, mit denen später ausgeblutete Banken gerettet werden sollen. Ich weiss, dass Ahmeds Kinder hungrig sind, so wie alle Kinder nach dem Schulausflug, nach dem Lernen, nach dem Herumtoben im Garten. Würde mein Handy erneut streiken, ginge ich jederzeit wieder raus nach Bromley-by-Bow, weil Ahmeds Lächeln nicht nur geschäftstüchtig ist, sondern schlicht und einfach freundlich.
An diesem Krönungssamstag aber will ich in meinen vier Wänden bleiben, die eine Schweizer Kulturstiftung mir in East London grosszügig zur Verfügung stellt. Bei meinen Nachbarn, die in der Stadtmitte einen Anblick von der alten Welt und ihrem Pomp erhaschen möchten, habe ich Krönungsmigräne vorgeschützt.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. Michel Mettler, geb. 1966, tätig als freiberuflicher Autor und Herausgeber, interessiert sich für die Geschichtlichkeit von Gegenwart, Wortgebrauch und Erzählungen, die der Subtext schreibt. Zuletzt hat er als Co-Herausgeber den Band DUNKELKAMMERN veröffentlicht (Suhrkamp 2020).
Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren, zurzeit Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler und Felix Schneider.
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.