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Seit 1977 wurden in den USA 1250 Menschen hingerichtet (Bild nachgestellt) © cc

Michelle Lyons war bei 300 Hinrichtungen in Texas dabei

Red. /  Texas hat mehr Menschen hingerichtet als jeder andere US-Bundesstaat. Eine frühere Angestellte erlebte Hunderte von Exekutionen.

Red. In einem soeben veröffentlichten Buch erzählt Michelle Lyons von ihren Gefühlslagen. BBC-Reporter Ben Dirks hat das Buch gelesen und mit der Autorin gesprochen.

Mutter drückt ihre Hände gegen das Glas der Todeskammer

Vor 18 Jahren sah Michelle Lyons zum ersten Mal einen Mörder sterben, Ricky McGinn. Noch immer bringt es sie zum Weinen.

Ricky McGinn
Wenn sie es am wenigsten erwartet, sieht sie plötzlich McGinns Mutter in ihren besten Sonntagskleidern, wie sie ihre Hände gegen das Glas der Todeskammer drückt. Schön gekleidet, um zuzusehen, wie ihr Sohn hingerichtet wird. Eine Art Abschiedsparty.

Während zwölf Jahren Zeugin von 300 Hinrichtungen

Zwölf Jahre lang – zuerst als Zeitungsreporterin, dann als Sprecherin des «Texas Department of Criminal Justice» (TDCJ) – gehörte es zu Lyons Aufgabe, Zeugin jeder vom US-Staat Texas verordneten Exekution zu sein.
Zwischen 2000 und 2012 sah Lyons fast 300 Menschen auf der Bahre sterben, fast alles Männer. Gewalttätige Leben wurden zu einem friedlichen Ende gebracht.
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Im folgenden Video ist eine Hinrichtung mit Giftspritze realistisch nachgestellt. Achtung: Schockierende Bilder

Quelle: Anti-Todesstrafe-Organisation DeathPenaltyFail
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Als Lyons zum ersten Mal Zeugin einer Hinrichtung wurde, war sie 22 Jahre alt. Nach einer der Vollstreckungen der Todesstrafe schrieb sie in ihr Tagebuch:
«Die Exekution war für mich völlig in Ordnung. Hätte ich etwa bestürzt sein sollen?»
Sie habe lieber Mitleid mit den zwei betagten Männern, die Cruz mit einem Hammer zu Tode geprügelt hatte.

«Zeuge von Exekutionen zu sein, gehörte einfach zu meiner Arbeit.»
Das schreibt Lyons in ihren soeben erschienenen Memoiren «Death Row : The Final Minutes» («Der Todestrakt: die letzten Minuten. Mein Leben als Zeugin der Exekutionen in Amerikas berüchtigstem Gefängnis»).

«Ich war für die Todesstrafe, ich hielt sie für die beste Strafe für bestimmte Verbrechen … Wenn ich angefangen hätte zu fragen, wie sich die Exekutionen für mich anfühlten, während ich sie sah, alle die vielen Gedanken an die Emotionen, die im Spiel waren, wie hätte ich Monat für Monat, Jahr für Jahr in diesen Exekutions-Raum zurückkehren können?»

Seit 1924 fanden alle Hinrichtungen des Bundesstaates Texas in der kleinen Stadt Huntsville statt. Es gibt dort sieben Gefängnisse, darunter das «Walls Unit», ein imposantes viktorianisches Gebäude, das die Todeskammer beherbergt.

Dort wurde Charlie Brooks 1982 als erster Täter nicht mit einem elektrischen Stuhl, sondern mit Spritzen getötet. Huntsville wurde berühmt als «Hauptstadt der Todesstrafe». Es ist ein hübscher kleiner Ort inmitten des schönen Piney Woods, am Knick des Bible Belt. Überall gibt es Kirchen, die Einheimischen sind höflich, und man könnte ein paar Tage in der Stadt verbringen, ohne zu wissen, dass schlechte Leute dort ihren Herrgott treffen.

Wie auch immer man sich einen Zeugen oder eine Zeugin von Hinrichtungen vorstellt, Lyons ist anders. Sie ist klug, kultiviert und hat schlagfertigen Witz.

Doch sobald sich die Unterhaltung den Dingen zuwendet, die sie in der Todeskammer gesehen hat, wird sie verwundbar. Es wird offensichtlich, welchen Preis sie dafür zu zahlen hat.

Zeugin von 38 Exekutionen in einem Jahr
Im Jahr 2000 führte Texas 40 Hinrichtungen durch. Das war ein Rekord und fast so viele wie im gleichen Jahr alle andern US-Bundesstaaten zusammen.


Vollstreckte Todesurteile seit 1976. Grössere Auflösung hier.

Michelle Lyons, in ihrer Rolle als Gefängnisjournalistin für „The Huntsville Item“, war in jenem Jahr Zeugin von 38 der 40 Exekutionen. Aber ihre scheinbare Nonchalance, die sich in fröhlichen Eintragungen in ihrem Tagebuch manifestierte, entpuppte sich als kurzfristiger Bewältigungsmechanismus.
«Wenn ich jetzt auf meine Hinrichtungen zurückblicke, merke ich, dass mich das alles sehr beschäftigte. Doch ich schob alle Bedenken in einen Koffer, den ich in die Ecke stellte. Es war Taubheit, die mich beschützte und weitermachen liess.»

In ihren frühen Tagebucheinträgen fallen die Banalitäten auf. So ist notiert, dass Carl Heiselbetz Jr, der eine Mutter und ihre Tochter ermordet hatte, «auf der Bahre noch immer seine Brille trug». Oder dass Betty Lou Beets, welche Ehemänner in ihrem Garten vergraben hatte, als wären sie tote Haustiere, «winzige Füsse» hatte. Oder dass Thomas Mason, der die Mutter und Grossmutter seiner Frau ermordete, «aussah wie mein Grossvater».

Amerikaner melden sich freiwillig, um bei Hinrichtungen dabei zu sein

«Die letzten Momente von jemandes Leben zu beobachten und mitzubekommen, wie die Seele ihren Körper verlässt, wird niemals banal oder normal sein. Aber Texas hat Straftäter mit solcher Häufigkeit exekutiert, dass es perfektioniert und ohne Theater abläuft.»

Das hiess für Lyons nicht, dass sie ihre Arbeit leicht genommen hat. Es bereitete ihr etwas mehr Probleme, als sie 2001 als Öffentlichkeitsbeauftragte des TDCJ zu arbeiten begann.
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Fünf Methoden von Hinrichtungen in den USA

Quelle: BBC News
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Jetzt berichtet Lyons in ihrem Buch dem Rest der USA und der Welt darüber, was in der Todeszelle in Texas vorging. Für sie und die an der Exekution Beteiligten sei es meistens so gewesen, wie wenn man jemanden beim Einschlafen beobachte. Doch für Angehörige einiger Opfer sei dies enttäuschend gewesen. Diese dachten, «Old Sparky» – der elektrische Stuhl, mit dem 361 Täter zwischen 1924 und 1964 getötet wurden – hätte die bessere Show abgegeben als die weniger theatralische Giftspritze.

Aber Lyons berichtet auch von den verzweifelten Bitten um Vergebung, gequälten Entschuldigungen und verlogenen Behauptungen der Unschuld sowie von biblischen Passagen, Zitaten aus Rocksongs und sogar von gelegentlichen Witzen, die sie anhören musste. Im Jahr 2000 ging Billy Hughes mit den Worten in den Tod: «Wenn ich meine Schulden gegenüber der Gesellschaft begleiche, ist ein Rabatt und eine Rückerstattung fällig.» Selten war Wut zu hören, und nur einmal hörte sie einen schluchzenden Insassen.

Sie hörte die Geräusche der letzten Atemzüge der Täter – ein Husten oder ein Keuchen oder ein Rasseln –, als die Giftspritze ihre Arbeit verrichtete und die Lunge die Luft nur noch wie ein Blasebalg herausdrückte.
Nachdem die Insassen gestorben waren, sah sie, wie sie violett wurden.

Lyons erzählt von Briefen und E-Mails aus der ganzen Welt, in denen sie Leute wegen «staatlich geförderter Morde» verurteilten. Manchmal schrieb sie ärgerlich zurück, sie sollten ihre Nase nicht in die Angelegenheiten von Texas stecken.
Falsches Objekt für Proteste

«Fast die ganze Welt ausserhalb der USA hält es für merkwürdig, dass wir immer noch Menschen töten. Europäische Journalisten benutzen oft das Wort ‹töten›, statt, ‹hinrichten›. Sie denken, wir würden Menschen ermorden.»

Es gab gelegentlich einen grossen Zirkus, wie zum Beispiel als Gary Graham im Jahr 2000 hingerichtet wurde. Die Medien der Welt versammelten sich in Huntsville zusammen mit Jesse Jackson, Bianca Jagger, den New Black Panthers, AK-47 und dem ganzen Ku-Klux-Klan mit all seinen Insignien.

Graham hatte in weniger als einer Woche 13 verschiedene Opfer ausgeraubt, peitschte zwei von ihnen aus, schoss einen in den Nacken und überfuhr einen anderen mit dem Auto, das er ihm gestohlen hatte. Das letzte Opfer seiner Reise wurde entführt, ausgeraubt und vergewaltigt.

Nichts davon war umstritten, weil Graham sich schuldig bekannte. Nur zu Beginn seines Amoklaufs bestritt er einen Mord. Lyons dachte damals bei sich, es gäbe geeignetere Beispiele für die Anti-Todesstrafe-Bewegung.

Manchmal wurden die letzten Augenblicke eines Täters nur von einigen Gefängnisangestellten und einem einzigen Journalisten der Associated Press beobachtet. Wenn das Gift zu fliessen begann, gab es keine Angehörigen, weder von der Täter- noch von der Opferseite, um ihn sterben zu sehen. Selbst die Lokalzeitung konnte keinen Reporter schicken.
Der Staat führte den letzten bürokratischen Akt vor der Haustür der Bürger von Huntsville aus, und die meisten hatten keine Ahnung, dass dies geschah.

Langes Warten im Todestrakt
Ein verurteilter Mann oder eine verurteilte Frau können jahrzehntelang im Todestrakt sein. Deshalb lernte Lyons einige von ihnen gut kennen, darunter Serienmörder, Kindermörder und Vergewaltiger. Nicht alle waren Monster. So kam es, dass sie einige von ihnen zu mögen begann. Manchmal dachte sie sogar, sie könnten Freunde gewesen sein, hätten sie sich in der freien Welt getroffen.

Nachdem Napoleon Beazley, der im Alter von 17 Jahren den Vater eines Bundesrichters ermordete, 2002 hingerichtet worden war, weinte Lyons den ganzen Weg nach Hause.
«Ich hatte das Gefühl, dass Napoleon keine grösseren Probleme mehr machen würde und war überzeugt, dass er ein produktives Mitglied der Gesellschaft hätte werden können… Ich versuchte, mich mit ihm zu beschäftigen, um seine Aufmerksamkeit zu gewinnen.
Gleichzeitig fühlte ich mich aber schuldig, weil ich mich so verhalten habe. Er hatte ein abscheuliches Verbrechen begangen. Wäre ich die Familie des Opfers gewesen, hätte ich unbedingt gewollt, dass Napoleon hingerichtet wird. Hatte ich das Recht, Mitgefühl für Napoleon zu empfinden, weil Napoleon mir ja keinen Menschen genommen hatte?»

Als Michelle Lyons 2004 schwanger wurde, verstärkte sich die Ambivalenz. Ihre Verdrängung kam zum Vorschein.
«Exekutionen hörten auf, ein abstraktes Konzept zu sein, und wurden zutiefst persönlich. Ich begann mir Sorgen zu machen, dass mein Baby die letzten Worte der Insassen hören könnte, ihre erbärmlichen Entschuldigungen, ihre verzweifelten Ansprüche auf Unschuld, ihr Spucken und Schnarchen.»

«Als meine Tochter zur Welt kam, begann ich, Hinrichtungen in der Todeszelle anders zu sehen. Während anwesende Angehörige des Opfers viel Zeit hatten, ihren Verlust zu verarbeiten, beobachtete die Familie des Gefangenen einen geliebten, noch lebenden Menschen. Für sie begann der lange Weg der Trauer erst jetzt.»

«Ich hatte ein Baby zu Hause, für das ich alles tun würde. Und diese Frauen sahen zu, wie ihre Babys starben. Ich hörte Mütter schluchzen, schreien, gegen das Glas schlagen und gegen die Wand treten.
Ich stand im Zeugenzimmer und dachte: ‹Es gibt keine Gewinner, jeden macht so etwas fertig.› Hinrichtungen waren überall nur traurig. Und ich musste all diese Traurigkeit immer und immer wieder miterleben.»

Noch sieben Jahre lang machte Michelle Lyons als Mutter weiter und beobachtete Insasse um Insasse, bis die Betroffenen mit einer beunruhigenden Fügsamkeit in den Tod gingen.
Dann kam es zu einer unschönen Trennung vom Texas Department of Criminal Justice (TDCJ), nachdem Lyons einen Fall geschlechtsspezifischer Diskriminierung gewonnen hatte. Lyons fühlte sich todunglücklich, verloren wie eine Gefangene, die einer langen Haftstrafe entkommen ist.

«Ich dachte, jetzt würde ich bald nicht mehr an die Exekutionen denken. Aber das Gegenteil traf ein. Ich musste ständig darüber nachdenken. Es war, als hätte ich den Deckel von der Pandora genommen und ich konnte ihn nicht wieder draufsetzen.»
«Wenn ich eine Tüte Chips öffne, rieche ich die Todeskammer. Oft kommt etwas im Radio, das mich an eine Unterhaltung erinnert, die ich mit einem Insassen führte, wenige Stunden bevor er hingerichtet wurde. Ich sehe die faltigen Hände, die Ricky, McGinns Mutter, gegen das Glas der Todeskammer drückt, und ich löse mich in Tränen auf.»
Es gibt Anzeichen dafür, dass Texas seinen Appetit auf die ultimative Bestrafung langsam verliert. Allerdings zeigte die letzte grosse Umfrage im Jahr 2013, dass immer noch 74 Prozent der Texaner und Texanerinnen die Todesstrafe befürworten. So schnell wird die Todeskammer also nicht abgeschafft.

Wie sich die Meinung zur Todesstrafe in den USA änderte

Allerdings fanden 2017 in Huntsville nur noch sieben Hinrichtungen statt. Gleich viele wie im Jahr 2016 und weit entfernt von der Rekordzahl 40 im Jahr 2000.
Lyons glaubt zwar, Texas habe die Todesstrafe zu häufig vollstreckt. Trotzdem bleibt sie eine Befürworterin dieser Strafe, zumindest für die Schlimmsten der Übeltäter. In Texas seien die Verbrechen immer noch «grösser und verrückter» als anderswo in den USA.

Auf dem Joe Byrd Friedhof, einem hübschen Stück Land, auf dem nicht abgeholte Leichen texanischer Gefangener mehr als 150 Jahre lang beerdigt wurden, steht Lyons zwischen den Kreuzwegreihen und fragt sich, wie viele dieser Männer sie gesehen hat. Aber es sind nicht die Hinrichtungen, an die sie sich erinnert, welche sie am meisten beunruhigen. Es sind diejenigen, die sie vergessen hat…

Michelle Lyons am Friedhof (Bild BBC)
«Man sieht hier nur wenige Blumen auf den Gräbern», sagt Lyons. «Und was sagt es über mich, dass ich mich an einige dieser Männer nicht mehr erinnern kann, bei deren Hinrichtung ich zuschaute? Vielleicht verdienen sie es, einsam und vergessen zu sein. Oder vielleicht wäre es doch besser, ich würde mich an sie erinnern.»
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Quelle: BBC-News. Übersetzung von Uwe Böhm.
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Eine Meinung zu

  • am 27.05.2018 um 10:38 Uhr
    Permalink

    Unfassbar. Und heute weiss man, dass ein guter Teil der Hingerichteten die Taten, deren sie beschuldigt wurden, gar nicht begangen hatten. Werden eigentlich die Richter und Geschworenen, die solche Fehlurteile ausgesprochen haben, einmal zur Verantwortung gezogen? Das könnte tatsächlich geschehen. Nicht dass die Fehlbaren in den Knast wandern. Aber ihre Namen dürften freigegeben und so der Nachwelt in Erinnerung gerufen werden. Eine durchaus nachhaltige Strafe.

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