Festnahme von Zivilisten Rom

Festnahme von Zivilisten in Rom nach einem Attentat von Partisanen im März 1944. Viele Verhaftete wurden bei der anschliessenden Vergeltungsaktion in den Ardeatinischen Höhlen von SS-Soldaten ermordet. © Bundesarchiv/Wikimedia/CC BY-SA 3.0

Folgenlose Kriegsverbrechen

German Foreign Policy /  Deutschland schaltet den Internationalen Gerichtshof in Den Haag ein, um Entschädigungen für NS-Kriegsverbrechen zu verhindern.

Um Entschädigungen für NS-Kriegsverbrechen zu verhindern, klagt Deutschland vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag gegen Italien. Hintergrund ist der jahrzehntealte Streit um Entschädigung für die Angehörigen von NS-Massakern unter anderem in Italien. Deutschland verweigert den Opfern bzw. ihren Nachkommen hartnäckig jegliche Zahlung. Dabei beruft sich die Bundesregierung seit je auf die sogenannte Staatenimmunität, der zufolge Bürger fremder Staaten nicht bei der Justiz ihres Landes Klage gegen «hoheitliche Aktivitäten» Deutschlands einreichen dürfen. Dies bezieht sich laut Auffassung Berlins auch auf Massenverbrechen der Wehrmacht und der SS.

Entschädigung verweigert

Erstmals eskaliert war der Streit zwischen Italien und Deutschland um die Zahlung von Entschädigungen an die Angehörigen von NS-Opfern im Jahr 2008. Im Oktober jenes Jahres urteilte der Kassationsgerichtshof in Rom, die höchste Instanz der italienischen Justiz, Berlin müsse für ein Massaker vom 29. Juni 1944 Entschädigung zahlen. Damals hatte eine SS-Einheit den Ort Civitella unweit Arezzo überfallen und mehr als 200 Einwohner ermordet. Weder Überlebende noch Angehörige der Todesopfer wurden jemals entschädigt.

Deutschland verweist regelmässig auf ein Globalabkommen mit Rom, das Italienern, die «aus Gründen der Rasse, des Glaubens oder der Weltanschauung» vom Nazi-Staat verfolgt wurden, insgesamt 40 Millionen D-Mark zusprach. Allerdings kam diese Summe in der Praxis vor allem jüdischen Opfern zugute; nichtjüdische Opfer von NS-Kriegsverbrechen gingen leer aus.

Das war auch in allen anderen von der Wehrmacht überfallenen Staaten der Fall. Entschädigungsforderungen für NS-Kriegsverbrechen wurden etwa in Griechenland sowie in Polen erhoben, aber von der Bundesregierung und der deutschen Justiz bislang konsequent abgewehrt.

Hoheitliche Aktivitäten

Das Urteil der höchsten italienischen Justiz schien einen Durchbruch zu bringen. Entsprechend ging die Bundesregierung dagegen vor – und klagte im Dezember 2008 beim Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag gegen Italien wegen angeblicher Verletzung der Staatenimmunität. Dieser Rechtsgrundsatz untersagt es Privatpersonen, gerichtlich gegen hoheitliche Aktivitäten fremder Staaten vorzugehen. Berlin stuft NS-Massenverbrechen demnach als hoheitliche Aktivitäten sowie ihre Strafverfolgung im Ausland als prinzipiell unzulässig ein.

In einem Urteil vom 3. Februar 2012 gab der IGH Deutschland recht. Hat sein – in der Fachwelt überaus umstrittener – Beschluss Bestand, dann haben Angehörige der Opfer von NS-Massakern faktisch keinerlei Chance, jemals Entschädigung für die NS-Verbrechen zu erhalten. Der Gang vor deutsche Gerichte ist laut jahrzehntelanger Erfahrung völlig aussichtslos.

Rom gegen Den Haag

Eine weitere Entscheidung des römischen Kassationsgerichtshofs brachte möglicherweise eine erneute Wende. Das Gericht urteilte am 22. Oktober 2014, das Verbot des IGH, Opfer von NS-Kriegsverbrechen sowie ihre Nachkommen gegen den Täterstaat klagen zu lassen, sei unvereinbar mit der italienischen Verfassung. In Italien könnten also weitere Klagen gegen Deutschland angestrengt werden. Das ist auch geschehen.

So entschied zum Beispiel ein Gericht in Sulmona in den Abruzzen im Jahr 2017, Berlin müsse für ein NS-Massaker an 128 Menschen im nahe gelegenen Roccaraso Entschädigung zahlen – 5 Millionen Euro an die Nachfahren der Opfer, 1,6 Millionen Euro an die Gemeinde Roccaraso. Im Jahr 2018 wiederum urteilte der Römische Zivilgerichtshof, die Bundesrepublik müsse den Sohn von Paolo Frascà entschädigen, einen Italiener, der 1944 von der deutschen Polizei inhaftiert, im Gefängnis gefoltert und am 24. März 1944 gemeinsam mit 334 weiteren Zivilisten in den Ardeatinischen Höhlen im Süden Roms ermordet worden war. Der Forderung Berlins, den Klagen politisch Steine in den Weg zu legen, verweigert sich die Regierung in Rom – bis heute.

Italien drohte mit Zwangsversteigerung

Berichten zufolge wurden seit dem IGH-Urteil von 2012 in Italien mehr als 25 Klagen gegen Deutschland eingereicht; mindestens 15 Klagen führten zu einer Verurteilung der Bundesrepublik. Weil Deutschland sich weigert, den Urteilen der italienischen Justiz nachzukommen und Entschädigung zu zahlen, drohten italienische Gerichte mit einer Zwangsversteigerung von deutschem Staatseigentum auf italienischem Boden. Dazu gehören etwa die Gebäude des Goethe-Instituts, der Deutschen Schule in Rom, des Deutschen Archäologischen Instituts und des Deutschen Historischen Instituts.

Dagegen wehrt sich Deutschland jetzt mit einer erneuten Klage vor dem IGH. Wie das Gericht in Den Haag am Wochenende mitteilte, hat die Bundesrepublik jedoch in einem am 5. Mai eingegangenen Brief die Klage teilweise zurückgezogen – insbesondere den Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz. Denn am 1. Mai ist in Italien ein Gesetz in Kraft getreten, das es Gerichten verbietet, deutsches Staatseigentum auf italienischem Boden zu konfiszieren.

Die eigentliche Klage vor dem Gerichtshof in Den Haag bleibt im Kern aber bestehen: Deutschland wehrt sich dagegen, dass italienische Gerichte individuelle Schadenersatzklagen von Familien der Opfer von Nazi-Kriegsverbrechen weiter zulassen. Dabei beruft sich Deutschland auf das IGH-Urteil aus dem Jahr 2012, das festhält, dass solche Schadenersatzklagen unzulässig seien. Berlin verlangt deshalb die Annulierung der in Italien gefällten Entschädigungsurteile.

Die Krone der Doppelmoral

Peinlich für Berlin ist, dass es die justizielle Aufarbeitung von NS-Massenverbrechen zu einem Zeitpunkt zu verhindern sucht, zu dem der Westen sich anschickt, tatsächliche oder angebliche russische Kriegsverbrechen in der Ukraine vor einem internationalen Gericht abzuurteilen.

Straflosigkeit für westliche Kriegsverbrechen ist seit Jahrzehnten gängige Praxis: NATO-Kriegsverbrechen in Jugoslawien aus dem Jahr 1999 sind genauso folgenlos geblieben wie deutsche Kriegsverbrechen in Afghanistan; australische Spezialkräfte, die am Hindukusch als Initiationsritual Morde an afghanischen Zivilisten begingen, kamen bislang mit Verwarnungen, allenfalls einer Entlassung aus dem Militärdienst davon.

Ein Versuch des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) in Den Haag, Kriegsverbrechen von US-Soldaten in Afghanistan abzuurteilen, wurde von Washington abgeschmettert; führende IStGH-Mitarbeiter, darunter Chefanklägerin Fatou Bensouda, wurden von der US-Administration mit Sanktionen belegt. Berlin setzt der Doppelmoral des Westens jetzt die Krone auf, indem es für Deutschland Immunität selbst bei NS-Massenverbrechen verlangt.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Dieser Artikel erschien zuerst auf der Online-Plattform «German Foreign Policy». Diese «Informationen zur Deutschen Aussenpolitik» werden von einer Gruppe unabhängiger Publizisten und Wissenschaftler zusammengestellt, die das Wiedererstarken deutscher Grossmachtbestrebungen auf wirtschaftlichem, politischem und militärischem Gebiet kontinuierlich beobachten.
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2 Meinungen

  • am 11.05.2022 um 11:52 Uhr
    Permalink

    Verdrängte Vergangenheitsbewältigung oder Prävention? Allenfalls beides? Das Timing dürfte kein Zufall sein.

    «Dabei beruft sich die Bundesregierung seit je auf die sogenannte Staatenimmunität, der zufolge Bürger fremder Staaten nicht bei der Justiz ihres Landes Klage gegen «hoheitliche Aktivitäten» Deutschlands einreichen dürfen.»

    Wäre doch praktisch für Deutschland, wenn man da schon mal vorgesorgt hätte. Wer weiss, was die Aufarbeitung des Ukraine Konflikts eines Tages offenbaren wird…!?

  • am 11.05.2022 um 11:55 Uhr
    Permalink

    Interessanter Artikel, vielen Dank! Nun habe ich als Fachfremder eine Frage: Verjähren Kriegsverbrechen, die von Staaten begangen werden, nicht? Was ist, wenn Personen, die diese Verbrechen begangen haben, direkt angeklagt werden? Ich stelle die Fragen wegen der vor kurzem angeklagten und verurteilten syrischen Regimevertreter in Deutschland.

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