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«Dschungel» von Calais, 2016: Der französische Staat kümmerte sich nicht um die Zustände im Lager © wikipedia

Frankreich: Polizei schikaniert und behindert Flüchtlingshelfer

Tobias Tscherrig /  Französische Behörden gehen mit Schikanen und Gewalt gegen Flüchtlingshelfer vor, um Solidarität mit Geflüchteten zu unterbinden.

Die französische Hafenstadt Calais erlangte in den letzten Jahren traurige Berühmtheit: Im berüchtigten «Dschungel», einem illegalen Flüchtlingscamp ohne nennenswerte Installationen zur Sicherstellung von humanitären Grundbedürfnissen, sammelten sich bis zu 9000 Flüchtlinge und Migranten. Sie lebten monatelang unter unwürdigen Bedingungen und warteten auf die Gelegenheit, einen Weg nach Grossbritannien zu finden.

Immer wieder standen die französischen Behörden in der Kritik: gewalttätiges Vorgehen gegenüber Flüchtlingen und Migranten, Verletzung von Menschenrechten, Verweigerung von Hilfestellungen, Passivität bei der Lösung der Probleme vor Ort und eine Flüchtlingspolitik, die keine Antwort auf die Krise fand und die – nicht nur in Calais – zur Bildung von illegalen und menschenunwürdigen Flüchtlingscamps beigetragen hatte.

Wegen der Zustände im «Dschungel» wurde Frankreich vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) verurteilt.

Behörden gehen noch immer mit Härte vor
Die französischen Behörden räumten den «Dschungel» Ende 2016. Es kam zu Strassenschlachten, Teile des Lagers brannten, die Bilder gingen um die Welt. Seitdem berichten die Medien – mit einigen Ausnahmen – nur noch sporadisch über die Lage vor Ort. Calais rückt hauptsächlich dann ins Zentrum des öffentlichen Interesses, wenn Flüchtlinge und Migranten beim Versuch des illegalen Grenzübertritts nach Grossbritannien erwischt werden. Wenn sie Fähren besetzen, sich auf Lastwagen verstecken oder wenn es zu Scharmützeln zwischen verfeindeten Flüchtlingsgruppen oder zu Strassenschlachten mit der Polizei kommt.

Die französischen Behörden wollen nicht, dass sich im Raum von Calais neue illegale Lager bilden. Das Areal auf dem der Dschungel von Calais stand, erklärten sie zum Naturschutzgebiet und zäunten es ein. Auf Migranten und Flüchtlinge reagieren sie mit Härte, konfiszieren Zelte, Schlafsäcke und andere Hilfsgüter. Die einzige Hilfestellung der Behörden besteht im Transport in die weit entfernten offiziellen Flüchtlingsunterkünfte, aus denen viele Flüchtlinge und Migranten wieder fliehen – schlichtweg deshalb, weil die Büros, in denen sie ihre Asylgesuche stellen müssen, viel zu weit entfernt sind. Im Übrigen wollen die meisten Flüchtlinge und Migranten gar nicht in Frankreich bleiben, sie versuchen, Grossbritannien zu erreichen.

391 Zwangsräumungen in 5 Monaten
Trotz der Repression, die der französische Staat in und um Calais installiert hat, gelingt es ihm nicht, Migranten und Flüchtlinge fernzuhalten. Gemäss «Amnesty International» leben zurzeit ungefähr 1200 Migranten und Flüchtlinge auf den Strassen und in der Wildnis um Calais. Darunter unbegleitete minderjährige Flüchtlinge.

Um der Lage Herr zu werden, bedienen sich Polizei und Sicherheitskräfte des altbekannten Musters der Repression. Ein Vorgehen, das zu nichts führt: Sobald sich eine Gruppe Flüchtlinge und Migranten provisorisch eingerichtet hat, rücken die Sicherheitskräfte aus, konfiszieren Zelte und Schlafsäcke, die dann nicht selten im Abfall landen.

Allein von Anfang Januar bis Ende Mai gab es 391 Zwangsräumungen. «Der französische Staat hilft den Flüchtlingen nicht», sagt Julie Jeannet, Migrationsverantwortliche bei «Amnesty International». «Vor Ort stellen sie weder Unterkünfte, noch sanitäre Anlagen oder Informationen zur Verfügung.» Es seien private Personen und Hilfswerke, die diese Aufgaben des Staates übernehmen würden.

Diese humanitäre Hilfe ist dem französischen Staat ein Dorn im Auge. «Die Behörden denken, dass keine Flüchtlinge mehr kommen, wenn die humanitäre Hilfe komplett eingestellt wird», sagt Jeannet. «Natürlich stimmt das nicht. Es ist die Grenze zu Grossbritannien, welche die Flüchtlinge interessiert. Egal wie die Lage vor Ort ist, sie werden kommen und den Grenzübertritt versuchen.»

Neue Taktik: Repression gegen Flüchtlingshelfer
Den französischen Staat interessiert das nicht. Deshalb ist er dazu übergegangen, Hilfswerke und private Flüchtlingshelfer zu kriminalisieren, sie zu schikanieren und zu bedrohen. In einem Bericht beschreibt «Amnesty International» die Situation vor Ort. Zahlreiche Aussagen von betroffenen Helferinnen und Helfern und Aussagen von Zeugen vermitteln das Bild eines französischen Staates, der diejenigen Menschen kriminalisiert und einschüchtert, die seine Aufgaben übernehmen.

Der Bericht beschreibt die Einschüchterungsversuche der Behörden: Die Flüchtlingshelfer und -Helferinnen werden ausspioniert, überwacht und ständig kontrolliert. Einige berichten von Polizeigewalt, andere von häufigen ID-Kontrollen und Körperdurchsuchungen, bei denen sich auch Frauen von männlichen Polizisten abtasten lassen müssen. Manche der Helferinnen und Helfer wurden bis zu drei Tage in Gewahrsam genommen – auf der Grundlage von falschen Vorwürfen, wie Jeannet erklärt. Dazu kommt die Verfolgung durch die Justiz, die zum Beispiel einen 22-Jährigen wegen der Veröffentlichung eines Fotos auf Twitter zu einer Geldstrafe von 1200 Euro auf Bewährung verurteilte. Wegen Verleumdung. Dabei hatte er nur auf die unhaltbaren humanitären Zustände in den wilden Lagern hingewiesen.

Gemäss «Amnesty International» ist es zwischen November 2017 und Juni 2018 zu «646 Fällen polizeilicher Schikanen gegen Ehrenamtliche» gekommen. In diesem Jahr zählten die Hilfswerke 72 solcher Fälle – die Dunkelziffer ist hoch.

Für Jeannet haben die behördlichen Schikanen gegen Flüchtlingshelferinnen und -Helfer System. «In ganz Europa werden Menschenrechte zunehmend kriminalisiert. Für die Staaten ist es wichtiger, die Migration einzudämmen, statt die Menschenrechte durchzusetzen.»

Polizeigewalt anzeigen: Spiessrutenlauf
Gemäss dem Bericht von «Amnesty International» haben zahlreiche Flüchtlingshelferinnen und -Helfer die Menschenrechtsverstösse gegen Flüchtlinge, Migranten und gegen sich selber protokolliert. «Personen, die diese Menschenrechtsverletzungen bei der französischen Polizei anzeigen, beschweren sich darüber, nicht ernst genommen zu werden», sagt Jeannet. Etwa, als eine ehrenamtliche Helferin mehrere Fälle polizeilichen Fehlverhaltens bei der polizeiinternen Untersuchungskommission anzeigte. «Man warnte sie, dass ihre Beschwerden als ‹Diffamierung› gewertet und somit eine ‹Straftat› darstellen könnten.»

Es seien zahlreiche Klagen gegen die Polizei hängig, sagt Jeannet. «Darüber haben wir keine Informationen. Die Verfahren laufen schleppend, ausserdem sind sie kostspielig.» Das sei auch ein Grund, weshalb nur wenige freiwillige Helferinnen und Helfer bei der Polizei vorstellig würden.

Helferinnen und Helfer werden kriminalisiert
Inzwischen bezeichnet Jeannet die humanitäre Hilfe in und um Calais als «gefährlich». Hauptsächlich wegen der polizeilichen Gewalt und den Schikanen, aber auch wegen einigen der Anwohnerinnen und Anwohner. «Die Lage in Calais polarisiert», sagt Jeannet. «Manche der Anwohner helfen den Geflüchteten. Darunter sind viele Gläubige, die sich für ihre moralischen Werte und Überzeugungen einsetzen.» Dann gebe es aber auch Anwohnerinnen und Anwohner, welche die Flüchtlingshelferinnen und -Helfer verurteilen würden. «Sie machen die Helfenden direkt für die Situation in und um Calais verantwortlich», sagt Jeannet. «Sogar die Kinder der Flüchtlingshelfer werden in den Schulen attackiert.»

Dieser Mix aus staatlichen Repressionen, Justizverfolgung und nachbarschaftlicher Anfeindung entmutige die Helferinnen und Helfer in Frankreich. «Natürlich werden wir weitermachen», sagt Jeannet. «Aber die Organisationen haben zunehmend Mühe, Freiwillige zu rekrutieren. Die Menschen haben Angst.»

Frankreich heuchelt
Anlässlich des 70. Jahrestags der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte erinnerte Frankreich Ende 2018 daran, «dass die Menschenrechte überall auf der Welt verteidigt und gestärkt werden müssen». Im krassen Gegensatz dazu steht die französische Flüchtlings- und Migrationspolitik – und mit ihr die Situation in Calais.

Die französische Republik will aus Calais um jeden Preis eine Sackgasse für geflüchtete Menschen machen. Sie verweigert Flüchtlingen und Migranten die rudimentärsten Menschenrechte und nimmt nun sogar Flüchtlingshelferinnen und -Helfer ins Visier.

Nachdem eine Studie des Innenministeriums bestätigt hatte, dass die französische Polizei mit unangemessener Härte gegen Flüchtlinge vorgegangen war, sagte Präsident Emmanuel Macron: «Ich kann nicht zulassen, dass die Idee an Glaubwürdigkeit gewinnt, die Sicherheitskräfte würden physische Gewalt einsetzen, würden persönliche Dinge der Migranten konfiszieren, Menschen mitten in der Nacht wecken, sie mit Tränengas während der Essensausgabe festsetzen. Wenn das geschieht, ist das gegen jedes Berufsethos; wenn das geschieht und bewiesen wird, wird es bestraft.»

Gemäss dem Bericht von «Amnesty International» und unzähligen Zeugnissen in französischen Medien, geschieht genau das aber noch immer. Die polizeiliche Gewalt hat sich sogar noch auf Flüchtlingshelferinnen und -Helfer ausgeweitet. Und diese können ein Lied davon singen, was bei einer Meldung bei der Polizei oder bei der polizeiinternen Untersuchungskommission geschieht und wie oft Polizeibeamte tatsächlich bestraft werden.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Der Autor besuchte im Jahr 2016 ein illegales Flüchtlingslager in Paris.

Zum Infosperber-Dossier:

Afghanischer_Flchtling_Reuters

Migrantinnen, Migranten, Asylsuchende

Der Ausländeranteil ist in der Schweiz gross: Die Politik streitet über Asyl, Immigration und Ausschaffung.

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Eine Meinung zu

  • am 18.06.2019 um 10:11 Uhr
    Permalink

    Wenn Gewalt zur einzigen Lösung wird, soziale Spannungen abzubauen, dann wird sich die Spirale der Gewalt immer schneller drehen. Es bleibt betroffenen Menschen in diesem Zusammenhang wohl nur noch der Weg zum internationalen Gerichtshof um eine entsprechend formulierte Klage einzureichen.

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