generalstreik

Landesstreik 1918: Truppen auf dem Waisenhausplatz in Bern © Schweiz. Bundesarchiv/Wikimedia Commons/CC BY-SA 3.0

Paktieren mit den Patrons

Wolfgang Hafner /  Wie sich Gewerkschaftsvertreter und Arbeitgeber einigen – damals wie heute.

Der Unia-Sekretär Roman Burger wurde von der Gewerkschaft freigestellt, nachdem sich herausstellte, dass er Mitarbeiterinnen sexuell belästigt hatte. Diese Affäre öffnete plötzlich das Fenster auf grundsätzliche Fragen gewerkschaftlicher Arbeit. Da ist kaum noch von Demokratie innerhalb der Organisation die Rede.
So, wenn die Präsidentin der Unia, Vania Alleva, in der Gewerkschaftszeitung «work» ihr Führungsverständnis auf die militärische Kurzformel: «Auftrag ausführen und abmelden!» reduziert. Entsprechend wird denn auch die gewerkschaftsinterne Personalkommission mit ihren Anliegen kaum ernst genommen.
In der militärischen Kurzformel, die vor allem auf Hierarchien und weniger auf Inhalte ausgerichtet ist, wiederholt sich letztlich eine Struktur, wie sie sich in den Gewerkschaften in den Jahren nach dem Landesstreik 1918 durchgesetzt hat: Davor gab es vor allem regionale und wenig koordinierte Arbeitsniederlegungen. Etwa ab den 20er-Jahren verloren diese spontanen Proteste an Bedeutung. So wurde es in den 30er-Jahren möglich, das Konzept des «Friedensabkommens» als zentrales politisches Instrument des Ausgleichs zwischen den Spitzen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer durchzusetzen.
Streiks in der Uhrenstadt Grenchen
Der Kanton Solothurn hatte bei dieser Entwicklung die Rolle des Vorreiters. So erreichten beispielsweise Streiks in der Uhrenstadt Grenchen ab 1895 eine einmalige Intensität. Nimmt man den Anteil der ausserhalb der Landwirtschaft Erwerbstätigen als Bezugsgrösse zu den Streiks, so haben schweizweit am zweitmeisten Streiks pro Erwerbstätigen im solothurnischen Bezirk Lebern mit dem Zentrum Grenchen stattgefunden. Am meisten Streiks gab es in den Steinbrüchen der Leventina. Erst viel später folgten die traditionellen Hochburgen linker Politik. In den anderen schweizerischen Uhrenregionen bestanden keine vergleichbaren Streikaktivitäten.
Diese Zuspitzung der Auseinandersetzungen, die letztlich zu den Todesschüssen des Militärs in Grenchen führten, ist im Wesentlichen auf die Entwicklung in der Uhrenindustrie und die damit verbundene Modernisierung zurückzuführen. Im Gegensatz zu der handwerklich-gewerblichen Herstellung von Uhren in kleineren Handwerksbetrieben wurden in Grenchen Roskopf-Uhren in grossen Fabriken arbeitsteilig hergestellt.
Trotz dieser «Einschliessung» der Arbeitenden in den Fabriken blieben die Löhne vergleichsweise tief. Das Konzept des «Fordismus» – hohe Lohnzahlungen als Entschädigung für die Anpassung an die modernen Produktionsmethoden – setzte sich in der Schweiz nicht durch. Der intensive Streik in Grenchen war daher auch gegen Modernisierungen gerichtet. Allerdings befürworteten die Gewerkschaften die modernen Produktionsmethoden. Die Gewerkschaften erhofften sich eine Verbesserung der Situation der Arbeitenden durch industrielle Produktionsmethoden mit Arbeitsteilung, Fliessbandarbeit etc.
Der Generalstreik und seine Folgen
Im Kanton Solothurn fand der Generalstreik zumindest teilweise vor dem Hintergrund dieser unterschiedlichen Interessen statt. Ob aber der zentral organisierte Landesstreik überhaupt sinnvoll war und ob er in irgendeiner Art und Weise zur Besserstellung der Arbeitenden beitrug, ist umstritten. Moderne Forschungen zeichnen ein zwiespältiges Bild dieser Ereignisse, verweisen auf eine mögliche Instrumentalisierung des Streiks durch das reaktionäre Bürgertum. So lautet etwa die Quintessenz einer Untersuchung: «Das destabilisierte Bürgertum inszeniert sich den Generalstreik und glaubt daran» (Ernst/Wigger).
Das heisst, letztlich liess sich das Bürgertum vom militärisch orientierten rechten Flügel manipulieren, der mit harter Hand seine Dominanz demonstrierte. Eine andere Interpretation billigt den Generalstreikteilnehmern eine aktivere Rolle zu. Dabei wird – etwas pauschal – davon ausgegangen, dass der Generalstreik gewissermassen «kein Revolutionsversuch, aber ein zwingendes, wegweisendes Ereignis zur modernen Schweiz» war.
Tatsächlich fand als Folge des Generalstreiks eine Entwicklung statt, die bis heute den Zwiespalt innerhalb der gewerkschaftlichen Bewegungen kennzeichnet: Die vorher weitgehend spontan und regional organisierten Streiks wurden zunehmend unterbunden und durch die Kontrolle von der Gewerkschaftszentrale her instrumentalisiert. Ein Beispiel – wiederum aus dem Kanton Solothurn – illustriert diese Entwicklung: In Gerlafingen, wo die Eisenwerke von Roll 1700 Personen beschäftigten, kam es 1920 aufgrund der sich zuspitzenden Situation (schlechte Versorgung mit Nahrungsmitteln, Inflation, Grippewelle) zu einem grossen Arbeitskonflikt mit 1200 streikenden Metallarbeitern, der von grösserer Bedeutung für die ansässige Bevölkerung war als der Landesstreik. Der Schlichtungsvorschlag durch das kantonale Einigungsamt wurde von der Von-Roll-Direktion abgelehnt.
Der von der lokalen Smuv-Sektion organisierte Streik drohte zu eskalieren und überregionale Bedeutung anzunehmen. Schliesslich schaltete sich ohne Rücksprache mit den lokalen Organisatoren Konrad Ilg, Smuv-Zentralsekretär, in den Konflikt ein. Er erreichte in Zusammenarbeit mit dem Von-Roll-Direktor Johannes Dübi (dem Vater des späteren Unterzeichners des Friedensabkommens) unter der Vermittlung von Bundesrat Schulthess eine Beilegung der Auseinandersetzungen. Nach der Legende kommen am Tag des Streikabschlusses Dübi und Ilg «einander auf die Schulter klopfend, aus der von Roll her, wobei Ilg den Streikenden gesagt haben soll, die ganze Sache habe sich erledigt, sie sollten morgen wieder die Arbeit aufnehmen».
Die Konfliktregelung zwischen Direktion und Arbeitnehmern auf eidgenössischer Ebene verhalf den Gewerkschaften zur Akzeptanz als Verhandlungspartner. Dieses Vorgehen ist auch Ausdruck einer grundsätzlichen gewerkschaftlichen Strategie, die auf einer Förderung zentralistischer Lösungen auf Kosten regionaler und föderalistischer Konfliktregelungen abzielte: Gemeinsam sind wir stark!
Arrangement mit der Macht
Die enge vertragliche Zusammenarbeit zwischen den wirtschaftlichen Kontrahenten hatte aber weitreichende Auswirkungen. Es fand eine Ritualisierung der Auseinandersetzung statt, wobei die wirtschaftlich und politisch stärkeren Arbeitgeber den Rahmen setzten. Peter Bichsels Diktum: «Die Geschichte der SP ist in diesem Kanton (Solothurn) die Geschichte der FDP. Dem Widerstand gegenüber der Macht folgte immer wieder das Arrangement mit der Macht, und das Arrangement mit der Macht war das Streben nach Salonfähigkeit, und im Salon sind jene geduldet, die sich anständig verhalten, und der Anstand ist freisinnig», trifft nicht nur auf die sozialdemokratische Partei, sondern auch auf die Gewerkschaften zu – dies auch im eidgenössischen Rahmen: Wer die Form definiert, bestimmt die Bedeutung der Inhalte.
Konkret wurde vor allem auf übergeordneter Ebene die Einbindung der Arbeitnehmerorganisationen in das wirtschaftliche und politische System der Schweiz vorangetrieben. Mit der Gründung der ASUAG (Allgemeine Schweizer Uhrenindustrie AG) im Jahre 1931 wird erstmals in der Schweiz Gewerkschaftsvertretern – das heisst Smuv-Zentralsekretären – der Einsitz in den Verwaltungsrat eines Konzerns gestattet. Und auch das Friedensabkommen von 1937 ist letztlich das Ergebnis eines Übereinkommens zwischen «starken» Persönlichkeiten – Dübi und Ilg –, beziehungsweise wird als das verstanden.
Dabei findet all das in einer Epoche statt, in der weitgehende Orientierungslosigkeit bestand und entsprechend der Bedarf nach Orientierung – auch innerhalb der Gewerkschaften – an eine Vaterfigur oder an eine patronale Führungsfigur delegiert wird. Es sind die «Generäle», die über das Schicksal der Organisationen entscheiden. Die Folge dieses Prozesses ist eine Machtkonzentration an der Spitze der Organisation vor dem Hintergrund kaum vorhandener inhaltlicher Vorstellungen über alternative wirtschaftliche Entwicklungen.
Sehnsucht nach patronaler Führung
Dass dieser Prozess der politischen Desorganisation und einer gleichzeitig damit verbundenen Sehnsucht nach patronaler Führung heute auch wieder in den Gewerkschaften stattfindet, zeigen beispielsweise die in der Unia-Zeitung «work» gepflegten Porträts von patronal geführten Unternehmen. Christoph Blocher verkörpert diesen Stil des patronalen Unternehmers wie kaum ein anderer.
So ist es nicht verwunderlich, dass sich Christoph Blocher und das politische «Aushängeschild» der Unia, der SP-Nationalrat und Zentralsekretär Corrado Pardini, gerne und immer wieder duellieren: Im Stil der politischen Auseinandersetzungen sind sie sich nahe – und gehen manchmal auch politische Bündnisse ein. In seiner Form wiederholt sich hier der Pakt zwischen dem Gewerkschaftsführer Ilg und dem Arbeitgebervertreter Dübi.
Macherorientierte, patriarchale Führungsmodelle versprechen im besten Fall umfassende Für- und Vorsorge des Patrons. Schlimmstenfalls kann aber so auch die Verfügungsgewalt über die Arbeitenden umfassend ausgebaut und Druck auf sie ausgeübt werden. Das System nimmt dann faschistische Züge an. Ein Verlust der Autonomie der Arbeitenden und deren Instrumentalisierung ist eine mögliche Begleiterscheinung dieser Modelle.
Das Konzept des «Organizing»
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie Gewerkschaften – insbesondere die Unia – mit organisatorischen Innovationen umgehen, wie sie der nunmehr entlassene Roman Burger erfolgreich einführte. Sein Konzept des «Organizing» beschreibt eine Form von basisdemokratischer Gemeinwesenarbeit: Im Gespräch mit den Betroffenen und ausgehend von ihren Bedürfnissen versucht man, sie zu organisieren, damit sie handlungsfähig werden. Das aus den USA stammende Konzept des «Organizing» – sowohl Barack Obama als auch Hillary Clinton beschäftigten sich intensiv mit dieser Methode – kann nur unter Berücksichtigung der konkreten Verhältnisse seine Möglichkeiten entfalten.
Das Konzept des Organizing hat aber auch seine Tücken, da es wesentlich auf einer fein austarierten Machtverteilung aufbaut. Hier nun bestand bei der Unia ein Gefälle zwischen der übergeordneten hierarchischen Struktur sowie ihrer auf militärische Führung ausgerichteten Organisation und der basisorientierten Bewegungsarbeit. Denn das militärische Führungsverständnis bevormundet letztlich die einzelnen Gewerkschaftsmitglieder und -mitarbeiter in ihrem Verhalten und stellt so einen Widerspruch zum Ansatz des «Organizing» dar. Hätte die Unia-Führung den Ansatz ernst genommen, hätte sie Definitionsmacht und Macht überhaupt an die Basis delegieren müssen. Das wollte sie aber offensichtlich nicht.
In dieser «Lücke» vermochte Burger seine persönlichen Machtansprüche unkontrolliert zu entfalten und zu missbrauchen. Ob dieser Widerspruch in der Form gewerkschaftlicher Arbeit in den Führungsetagen der Unia überhaupt diskutiert und entsprechende Überlegungen zur Einbettung des basisdemokratisch ausgerichteten Modells des «organizing» auch gemacht wurden, ist fraglich. Jedenfalls überzeugte der Auftritt der Unia-Geschäftsleitung im Zusammenhang mit der Affäre «Burger» bis jetzt kaum.
Als langjähriges Gewerkschaftsmitglied bleibt mir bloss eine leise Hoffnung über einen möglichen Wandel. Das dürfte aber angesichts der komplexen Struktur und der intern machtpolitisch stark hierarchisch ausgerichteten Unia schwierig werden.

Weiterführende Literatur:
– André Kienzle: «Es gibt nur ein Gerlafingen», Chronos;
– Rudolf Jaun, Tobias Straumann: Durch fortschreitende Verelendung zum Generalstreik? Widersprüche eines populären Narrativs in: Der Geschichtsfreund (Mitteilungen des Historischen Vereins Zentralschweiz) Nr. 169;
– A. Ernst, E. Wigger: Innovation und Repression, in Imhof, Kleger, Gaetano: Zwischen Konflikt und Konkordanz, Zürich 1993

Dieser Artikel erschien zuerst in der Solothurner Regionalausgabe der «Schweiz am Sonntag».


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Wolfgang Hafner ist Sozial- und Wirtschaftshistoriker. Er ist Autor von mehreren Büchern und Mitautor der Solothurnischen Kantonsgeschichte.

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