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Bundespräsidentin Sommaruga: «In Graubünden war die Hälfte der heuer gerissenen Schafe geschützt.» © Wikimedia Commons,Retron/Beat Mumenthaler

Widersprüchliche Bündner Wolfsriss-Statistik

Kurt Marti /  Laut dem Kanton Graubünden war die Hälfte der gerissenen Nutztiere geschützt. Im August waren es nur 6 %. Wie ist das möglich?

In den letzten Wochen las man überall in den Medien, dass Wölfe im Kanton Graubünden seit Anfang Jahr die Hälfte der Nutztiere aus geschützten Herden gerissen haben. Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga beispielsweise erklärte am 1. September in der Luzerner Zeitung: «Im Kanton Graubünden war die Hälfte der heuer gerissenen 160 Schafe durch Hunde oder Zäune geschützt. Hier können wir nicht weiter zuschauen.»

In der «Zeit» (19. August) bestätigte der Bündner Jagdinspektor Adrian Arquint diese Behauptung mit konkreten Zahlen: «Die Wölfe haben seit Anfang Jahr bereits 143 Nutztiere gerissen, 75 davon in geschützten Herden.»

Dieselbe Aussage findet man auch in den «Monatsberichten Grossraubtiere», die das Bündner Amt für Jagd und Fischerei (AJF) Ende Juni und Ende Juli publiziert hat. Im Juli-Bericht heisst es zusammenfassend: «Gut die Hälfte der gerissenen Schafe war durch Herdenschutzhunde oder Elektrozäune geschützt.» Und im Juni-Bericht: «Die Hälfte dieser gerissenen Tiere war durch Herdenschutzhunde und/oder Elektrozäune geschützt.»

Ein ganz anderes Bild entsteht hingegen, wenn man die einzelnen Riss-Meldungen auswertet, die das Bündner Amt für Jagd und Fischerei (AJF) fortlaufend auf seiner Webseite veröffentlicht. Eine Auswertung der August-Meldungen – die im Vergleich zu den Vormonaten detaillierter und folglich aussagekräftiger sind – steht im krassen Widerspruch zur propagierten Behauptung.

August: Nur rund 6 Prozent waren geschützt

Im Monat August rissen Wölfe insgesamt 62 Schafe und Ziegen. In den Einzel-Meldungen des AJF wurden aber nur 4 Tiere explizit als «geschützt» bezeichnet. Das sind rund 6 Prozent – ein Wert, der weit unter den behaupteten 50 Prozent liegt.

Zu den restlichen Tieren gibt es folgende Informationen: Überhaupt keine Angaben zum Schutzstatus macht das AJF bei 13 gerissenen Ziegen; 16 gerissene Schafe wurden als «ungeschützt» vermerkt und schliesslich 29 Schafe als «ungeschützt» ausserhalb der Nachtpferche.

Knapp die Hälfte aller Tiere im August wurde also ausserhalb eines Nachtpferchs gerissen. Die Meldungen gleichen sich: Während die Herde «geschützt» war, befanden sich die gerissenen Schafe «ungeschützt» an einem anderen Ort. Hier ein Beispiel:

«Am 11. August wurden 6 Schafe auf der Alp Gannaretsch durch einen Wolf gerissen. Die Herde war geschützt. Die gerissenen Schafe befanden sich ca. 1 km ungeschützt vom Pferch entfernt.»

«Beim Grossteil dieser Risse war der Grundschutz gegeben»

Wie ist es also möglich, dass in Graubünden der Wolf laut Statistik die Hälfte der Tiere aus geschützten Herden gerissen hat, im Widerspruch zu den 6 Prozent, die sich aus den einzelnen Riss-Meldungen ergeben?

Für den Monat August bietet sich – gestützt auf die verfügbaren Riss-Meldungen des Kantons – folgende Erklärung an: Die 29 Schafe, die ausserhalb des Nachtpferchs gerissen wurden, aber grundsätzlich Teil einer geschützten Herde waren, flossen in die Statistik als «geschützt» ein. So geht die Rechnung auf. Zusammen mit den 4 Schafen, die im August explizit als geschützt bezeichnet wurden, ergäbe das 33 Tiere – und damit rund 50 Prozent.

Hat also der Kanton Graubünden Schafe, die «ungeschützt» ausserhalb der Nachtpferche gerissen wurden, in seiner Gesamt-Statistik als «geschützt» deklariert?

Dieser Schluss lässt sich aus der Stellungnahme des Bündner Jagdinspektors Adrian Arquint ziehen, der den «Grundschutz» für einen «Grossteil» dieser Wolfsrisse ausserhalb der Nachtpferche als gegeben sieht.

Zunächst verweist Arquint auf die aktuellen Risszahlen: Seit Anfang 2020 wurden in Graubünden 205 Schafe und Ziegen vom Wolf gerissen, wovon 95 Tiere «in geschützten Herden». Dann schreibt der Bündner Jagdinspektor: «Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Herden zum Teil geschützt wurden, indem die Tiere zum Teil über Nacht eingepfercht und innerhalb und ausserhalb des Nachtpferchs Herdenschutzhunde eingesetzt wurden.» Und er folgert: «Beim Grossteil dieser Risse war der Grundschutz aus unserer Sicht gegeben.»

Und er ergänzt: Bei einem Teil der Risse könne man sich «die Frage stellen, inwiefern der Schutz mit Herdenschutzhunden gewährleistet ist, wenn sich einzelne Nutztiere ab einer gewissen Entfernung von der Herde bzw. von den Herdenschutzhunden aufhalten. Zudem inwiefern der Herdenschutz gewährleistet ist, wenn Nutztiere ausserhalb eines Nachtpferchs gerissen werden, ausserhalb des Pferchs ebenfalls ein Herdenschutzhund eingesetzt wird».

Auch muss laut Arquint bei der Beurteilung «die Anzahl Hunde, Qualität der Hunde, Bezugsquelle der Hunde, Grösse der Nutztierherde, Topografie des Sömmerungsgebietes, Nachtpferch mit Herdenschutzhunden ausserhalb des Nachtpferchs etc. berücksichtigt werden». Im Falle einer Massnahme gegen einen Einzelwolf oder ein Wolfsrudel entscheide «das Bafu schlussendlich, ob der zumutbare Herdenschutz gewährleistet war».

Im Unterschied zur Einschätzung des AJF hält das Bundesamt für Umwelt (Bafu) in seiner «Vollzugshilfe Herdenschutz» zum Thema Nachtpferche klar festhält: «Die Nutztiere gelten im Schadenfall als durch diese Massnahme geschützt, wenn sie sich zum Zeitpunkt des Angriffs innerhalb des geschlossenen elektrifizierten Zauns befinden.»

Die meisten Schafe, die im August in Graubünden ausserhalb der Nachtpferche gerissen wurden, waren laut den Riss-Meldungen des Kantons zwischen 500 Meter und 1000 Meter vom Nachtpferch entfernt.

Keine Antwort zum Vorwurf der Republik

Ein weiteres Indiz, dass der Kanton Graubünden «ungeschützte» Schafe ausserhalb der Zäune in «geschützte» Schafe verwandelte, lieferte ein Artikel, der am 5. September in der «Republik» erschienen ist. Am 8. Juli publizierte der Kanton Graubünden folgende Meldung: «Am 03. Juli 2020 hat ein Wolf auf der Alp Mer bei Pigniu 1 Schaf gerissen. Die Nutztiere waren geschützt.» Jedoch ohne den Vermerk, dass das Schaf sich «ungeschützt» ausserhalb des Schutzzaunes aufhielt.

Laut der Republik «suggerierte» das Bündner Amt für Jagd und Fischerei in diesem Fall einen Schutz, «der so nicht existierte». Zwar sei die Herde geschützt gewesen, aber das gerissene Schafe habe sich «ausserhalb der Zäune» befunden. Infosperber gab dem AJF die Gelegenheit zu einer Stellungnahme zu diesem Vorwurf. Doch das AJF verzichtete darauf.

Mit demselben Vermerk «Aus geschützter Herde» werden im Juli neun weitere Wolfsrisse aufgelistet. Deshalb wollte Infosperber vom AJF wissen: Gab es im Juli noch weitere gerissene Schafe, die zwar als geschützt deklariert wurden, jedoch ausserhalb der Zäune gerissen wurden? Auch diese Frage liess das AJF unbeantwortet.

Der August-Bericht fehlt

Auf der Webseite des Kantons fehlt – im Gegensatz zum Juni und Juli – der «Monatsbericht Grossraubtiere» für den August. So kurz vor der Abstimmung zum Jagdgesetz, das einen erleichterten Abschuss des Wolfs vorsieht, wollte der Kanton Graubünden offenbar diese neusten Zahlen, die einen anderen Blick vermitteln und vor allem Zeugnis für den mangelhaften Herdenschutz sind, nicht an die grosse Glocke hängen.

Die Antwort des Bündner Amts für Jagd und Fischerei (AJF) zum fehlenden August-Bericht: Frequenz und Inhalt der monatlichen Berichte seien «nicht fix monatlich» und «noch zu definieren».

Unvollständige Juni-Statistik

Auch die Juni-Statistik zeigt Erstaunliches: Insgesamt wurden im Juni 40 Nutztiere vom Wolf gerissen, von denen laut dem Monatsbericht des Kantons «die Hälfte» durch Herdenschutzhunde oder Elektrozäune geschützt waren. Die Auswertung der einzelnen Meldungen zeigt jedoch, dass im ganzen Monat nur drei gerissene Schafe explizit als geschützt und zwei als ungeschützt bezeichnet werden. Bei den restlichen 35 gerissenen Schafen fehlt ein entsprechender Vermerk.

Infosperber wollte vom AJF wissen, weshalb zu den 35 gerissenen Tieren im Juni keine Angaben gemacht werden? Die Antwort des AJF: «Wie üblich bei der Einführung von neuen Programmen» müssten noch gewisse Abläufe «optimiert werden». Die Erfassung der Meldungen von Nutztierrissen auf der AJF-Homepage gebe es erst seit dem 1. Juni 2020 und sei «wahrscheinlich noch unvollständig».


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8 Meinungen

  • am 15.09.2020 um 11:33 Uhr
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    Herr Marti,
    Viellleicht wissen Sie es oder Sie können es finden:
    Wie viele Menschen sind in den letzten 10, 50, 100 Jahren in der Schweiz von Wölfe, Luchse oder Bären getötet worden und wie viele von Jägern?
    Gruss und Danke

  • am 15.09.2020 um 14:13 Uhr
    Permalink

    Passt ins Bild ! Gehört eben zum Abstimmungskampf ! Dass sich im Vorfeld von Abstimmungen auch Bundesräte bereitwillig vor den Karren von Interessengruppen spannen lassen und ohne Skrupel auch offenkundige Fake News verbreiten ist nun wahrlich nichts Neues. Das war seit jeher so und wird es auch in Zukunft so bleiben. Es bleibt dem Stimmbürger überlassen, sich seine eigene Meinung zu bilden. Dabei ist er gut beraten, den politischen Meinungsführern prinzipiell zu misstrauen, diesen (auch Bundesräten !) nicht auf den Leim zu kriechen, sich nicht manipulieren zu lassen, sein Hirn einzuschalten und sich umfassend selbst zu informieren und nicht wie ein braves Schäflein den selbsternannten Hirten zu folgen.

  • am 15.09.2020 um 15:43 Uhr
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    Der vermeintliche Widerspruch ergibt sich, weil der Riss- und Fundort nicht identisch sind. Gemäss Wolf CH ziehen die Wölfe ihre erlegte Beute vielfach an einen sicheren Ort, wo sie ungestört fressen können. Wie in Frankreich hat der Wolf auch im Bündnerland gelernt, über Elektrozäune zu springen. Die Tiere im Pferch sind für ihn eine leichte Beute, weil sie nicht flüchten können. Nachher verschleppt er sie ausserhalb des Pferches, wo er ungestört ist. Gemäss Wolf CH erlegen Wölfe überwiegend Tiere, die in einem Zustand sind, in dem sie für ihn eine leichte Beute darstellen. Weil der Wolf die Herdenschutzmassnahmen umgehen kann, werden sie zunehmend nutzlos und auch als Kriterium für den Schadenersatz unbrauchbar. Der Bund hält jedoch krampfhaft am Kriterium „Fundort“ fest, weil er sonst mehr als doppelt soviel Schadenersatz vergüten müsste. In einem Rechtsstaat ist der Halter, für sein Tier verantwortlich. Zum Beispiel der Hundehalter für Hundebisse. Der Bund ist der Halter des Wolfes, weil der Wiederansiedlung mit der Unterzeichnung der Berner Konvention und dem EU-„Plan zur Wiederansiedlung des Wolfes in Europa“ (LCIE) zugestimmt hat. Dass die Wolfsopfer bzw. die Tierhalter Kosten selber tragen müssen, verstösst gegen alle Prinzipien eines Rechtsstaates. Bundesrat und Parlament sind sich dessen bewusst und empfehlen deshalb ein Ja zum modernisierten Jagdgesetz.

  • am 17.09.2020 um 07:49 Uhr
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    Danke für den guten Artikel!

  • am 18.09.2020 um 11:25 Uhr
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    @ Peter Aebersold
    Gemäss Ihrer Darstellung springen die Wölfe über Elektrozäune, reissen die Nutztiere, und schleifen sie weit weg an Orte ausserhalb des Schutzzaunes.
    Frage: Schleifen die Wölfe die Nutztiere durch den Zaun, überspringen die Wölfe den Zaun mit den Gerissenen im Schlepptau – oder könnte der nicht bewusstlose Betrachter gar zur Annahme sich versteigen, dass das eine gerissene Falschinfo sein könnte seitens Ihnen und des Bündner Amtes für Jagd und Fischerei (AJF) – das notabene bereits wegen der Graureiher-Abschiesserei im Skandal-Scheinwerfer steht?
    Siehe drei Kommentare:
    https://www.suedostschweiz.ch/politik/2020-06-29/illegal-oder-nicht-das-ist-hier-die-frage

  • am 25.09.2020 um 12:18 Uhr
    Permalink

    @Wolfgang Reuss: Danke für Ihren Kommentar zur Zuschrift von Herrn Aebersold! Und von wegen «der Halter ist für sein Tier verantwortlich»: Das gilt ja wohl insbesondere auch für Schafhalter (z.B. im Wallis), die ihre Tiere seit Jahren unbehütet (weder durch Hirt noch durch Hund) auf Alpen lassen und sich dann über Verluste durch Wolfsrisse beklagen, aber offenbar schon längst akzeptiert haben, dass mindestens ebenso viele Tiere anderswie (durch Unfälle, Absturz, usw.) verloren gehen. Eine seltsame Form von Wahrnehmen der Verantwortung!

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