Kommentar

Herrenwitze und andere Übergriffe

Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des AutorsSchriftsteller // Berufsschullehrer // MAS Cultural&Gender Studies ©

Jürgmeier /  Ich habe eine Utopie. Dass das Geschlecht (und die soziale Herkunft) keine Rolle mehr spielen.

Keine Rolle mehr in Direktionen, Vorzimmern und Geburtenabteilungen. Nicht bei Restaurantrechnungen, Füdliputz und medialen Darstellungen von Beinen. Noch ist es nicht so weit.

Kompliment – Übergriff – Herrenwitz
Anfang April lobt Barack Obama die Demokratin Kamal Harris, «brillant sei sie, sie arbeite mit Bestimmung und sei dazu noch ‹die bei weitem am besten aussehende Generalstaatsanwältin im ganzen Land›» («SonntagsZeitung»). Wegen empörter Reaktionen entschuldigt sich der US-Präsident umgehend bei der Gouverneursanwärterin Kaliforniens. «Der Kommentar ist zweifellos sexistisch», erklärt der Kolumnist Ruben Navarette auf CNN, «da er eine professionelle Frau zum Objekt macht. Über einen Mann würde man so etwas nie hören.» Schade, eigentlich.
Um in den Genuss des Siegerkusses zu kommen, hätte der Radprofi Peter Sagan an der Flandern-Rundfahrt schneller fahren müssen. Auf dem Podium nutzt der Zweitplatzierte den Moment, in dem eine der «Ehrendamen» mit ihrem Kuss-Job beschäftigt ist, um nach deren Po zu greifen. (Fürs diesjährige Eidgenössische buhlen 150 Frauen um die 16 Ehrendamen- und 9 Hostessen-Plätze) «Ich habe seine Hand gespürt und wollte mich umdrehen und ihm eine scheuern», sagt die Sekretärin Maja Leye laut «Bild.de». Sie macht es nicht, «weil es Millionen von Leuten gesehen hätten.» Sie dreht sich, statt zu (männlicher) Gewalt zu greifen, auch nicht einfach weg, so dass die Hand des Übergriffigen effektvoll ins Leere gegrabscht hätte. Hat sie Angst, dass ihr dasselbe passiert wie der «Stern»-Reporterin Laura Himmelreich?
Deren Porträt des zum Spitzenkandidaten der deutschen FDP erkorenen 67-jährigen Rainer Brüderle wird Ende Januar 2013 unter dem Titel «Der Herrenwitz» veröffentlicht. Es sind vor allem die nachfolgenden, eigenartig mehrbödigen Dialogfetzen, die in alten und neuen Medien erregte Debatten lancieren und der Autorin Himmelreich u.a. den Vorwurf der Altersdiskriminierung eintragen.
«Ich möchte von ihm wissen, wie er es findet, im fortgeschrittenen Alter zum Hoffnungsträger aufzusteigen. Er will lieber über etwas anderes sprechen: mein Alter. Auf 28 Jahre schätzt er mich. Ich sehe ihn erstaunt an, weil das zu diesem Zeitpunkt stimmt. ‹Mit Frauen in dem Alter›, sagt Brüderle, ‹kenne ich mich aus›.
Ich frage, was er in seiner Rede wenige Stunden zuvor meinte, als er beklagte, Deutschland verändere sich nicht schnell genug.
Brüderle möchte wissen, woher ich komme.
‹München›, antworte ich.
Dort seien die Frauen eigentlich trinkfest, sagt er und blickt skeptisch auf die Cola Light in meiner Hand. Ich sage ihm, dass ich privat, zum Beispiel auf dem Oktoberfest, durchaus Alkohol trinke. Brüderles Blick wandert auf meinen Busen. «Sie können ein Dirndl auch ausfüllen.»
Diesem Text ist inhaltlich nie widersprochen worden. Aber die Veröffentlichung der Sexualisierung einer Befragung zu politischen Themen durch einen Spitzenpolitiker an der von zahlreichen JournalistInnen und FDP-Mitgliedern besuchten Bar des Hotels Maritim in Stuttgart löst einen doppelten Aufschrei aus.
Ein tausendfacher Twitter-#Aufschrei bestätigt, was Frauen aufgrund ihrer Erfahrungen vertraut ist und auch Männer wissen müssten – dass, so Tina Hildebrandt in der «Zeit», «Belästigung in den unterschiedlichsten Ausprägungen» zum Alltag «für einen Teil des Landes gehört».
«Tabubruch» wirft ein Präsidiumsmitglied der FDP dem «Stern» wegen der Publikation von Brüderles gesammelten Herrenwitzen, inklusive Körbchengrösse von Kuheutern, vor. «Da wird ein Abschuss vorgenommen», ereifert sich der Publizist Matthias Matussek bei «Anne Will» und macht Laura Himmelreich – die laut Late-Night-Talker Markus Lanz explizit festhält, sie habe sich von Brüderle nie belästigt gefühlt – zur Täterin. Nicht das Gebrüderle ist in dieser Optik das Problem, sondern seine Veröffentlichung.

Wenn die erotische Ausstrahlung nicht genügt
Es ist u.a. eine Frau, Birgit Kelle, die bei «Markus Lanz» und in der Zeitung «The European» den Vorwurf der subjektiven Beliebigkeit erhebt. Wäre damals George Clooney an der Bar gestanden, hätte Frau Himmelreich «vielleicht ganz anders reagiert». Dann «wäre es unter Umständen die Geschichte eines heissen Flirts geworden.» Wo persönliche Befindlichkeit, fährt sie fort, «als ausreichender Gradmesser erscheint, um Sexismus zu definieren, verkommt der Begriff zur Beliebigkeit.» Abgesehen davon, dass der Sexismus-Vorwurf nicht von der Autorin, sondern erst in der nachfolgenden Debatte erhoben worden ist, gehört es ja gerade zur Eigenheit erotischer Annäherungen – was der Satz von Brüderle kaum darstellt –, dass sie situativ unterschiedlich empfunden werden. Das musste ich auch einem Schüler klar machen, der sich darüber entrüstete, dass eine Kollegin ihn, im Gegensatz zu anderen, ihren Hintern nicht anfassen liesse. Wer eine(n) küsst, muss sie alle küssen. Im freien Spiel der Leidenschaften gelten die Gesetze von Gleichheit und Gerechtigkeit nicht, erotische Avancen werden individuell, beliebig eben, beantwortet – je nach Subjekt, Ort und Zeit. Ihre Erwiderung kann nicht eingefordert werden, auch von Frauen nicht, sonst ginge es nicht mehr um Erotik, sondern um Macht.
«Blick am Abend»-Kolumnist Jürg Ramspeck schreibt am 1. Februar 2013, ihm sei zugetragen worden, Arthur Rubinstein hätte während Interviews seine Hände zuweilen aufs Knie der Journalistinnen gelegt, die sich im Interesse ihres Auftrags «dieser taktilen Zudringlichkeit» nicht entzogen hätten. «Ich fand, diese Hand hat immerhin wundervoll Klavier gespielt, und sie sollten sich doch freuen, mit ihr in längerer Berührung gestanden zu sein.» Unter Pianistenfingern verwandelt sich das, was bei Schreinerhänden noch ein klarer Übergriff gewesen wäre, in eine Ehre. Ramspecks Argumentation verweist auf einen Kern des Konzepts Mann, auf die Angst, die eigene erotische Ausstattung und Ausstrahlung genüge nicht, er bedürfte einer «Zugabe» – weltberühmte Hände, Siegerwädli oder Gold –, damit ihm die erotische Zuwendung einer Frau zufalle. «Frauen beschweren sich über ein Privileg», beklagt sich ein Gulo Järv auf der Kommentarseite von «NZZ Campus» in einer früheren Sexismusdebatte, «um das wohl jeder Mann sie massiv beneidet: Das Privileg, vom anderen Geschlecht offen begehrt zu werden».
Der US-amerikanische Professor für Sozialpsychologie Roy F. Baumeister liefert dazu in seinem Buch «Wozu sind Männer eigentlich überhaupt noch gut?» (2012) die (pseudo)wissenschaftliche Erklärung: «Die sexuelle Marktwirtschaft basiert auf der Erkenntnis, dass Männer mehr Sex wollen als Frauen…Um Frauen zum Geschlechtsverkehr zu überreden, müssen sie ihnen im Gegenzug mehr als Sex anbieten.» Da wird die altbekannte, von Männern und Frauen gleichermassen geschürte Fiktion fortgeschrieben, der Mann sei der Frau als Hüterin des sexuellen Feuers ausgeliefert. «Die Waffen einer Frau sind das Aussehen», jammert Matthias Matussek bei «Markus Lanz», und Birgit Kelle stimmt unter dem Titel «Dann mach doch die Bluse zu» in den Kriegskanon ein: «Wir besitzen Macht, weil Männer auf weibliche Reize reagieren.»

Von Stieren und weiblichen Allmachtsphantasien
In diesen (biologistischen) Debatten, in denen Männer auch schon mal mit Stieren verglichen werden, die nicht zu Ochsen gemacht werden sollten, gehen gelebte Realitäten, geht unter, was auch schon Schlagzeilen gemacht hat. «Vor genau einem Jahr», erinnert sich Tin Fischer in der «NZZ am Sonntag» (3.2.2013), «wurde mit ähnlicher Inbrunst das genaue Gegenteil beklagt: dass die Männer von heute viel zu gehemmt seien». Dieses Paradoxon ergibt sich aus der Angst «des Mannes» vor der unberechenbaren Sexualität=Frau und dem Versuch der einen, diese mit Herrenwitzen, Übergriffen aller Art bis hin zu Gewalt unter Kontrolle zu bringen. Sie riskieren, unter Sexismusverdacht zu geraten; das ist ihnen allemal lieber denn als Schlappschwanz zu gelten, was den andern droht. (Sogar der in einer Abhängigkeitsbeziehung von einer Frau verführte Jugendliche wird dies als sexuelle Eroberung darstellen, um nicht dem Spott der Kollegen – «Das müsste mir mal passieren.» – zum Opfer zu fallen) Das «Ich kann und will immer» fingiert auch Potenz, und das ist vermutlich der Grund dafür, dass der dritte Aufschrei ausgeblieben ist – gegen das diffamierende Zerrbild «des Mannes», der mit simplen Reizen von jeder Frau in Stellung gebracht werden kann. «Ich könnte jeden Mann haben, wenn ich nur wollte.» Habe ich schon mehr als einmal gehört – eine weibliche Allmachtsphantasie. Aber «der Mann» tut herzlich wenig, sie zu widerlegen. «Es heisst ja im Allgemeinen: «Frauen haben Sex, wann sie wollen, und Männer, wenn sie dürfen.» Schreiben ehemalige Berufsfachschüler in der Einleitung zu einer Broschüre mit Verführungstipps für Geschlechtsgenossen.

Der dritte Aufschrei
Der Aufschrei gegen derart holzschnittartige Geschlechterkonzepte – hier das schöne Geschlecht, da der Pawlowsche Hund – und das Überschreiten der Geschlechtergrenzen wären Voraussetzung für erotische Begegnungen von Gleichen. Auf dem freien Feld des wechselhaften Begehrens – auf dem alle ein «Nein» riskieren, das nichts anderes ist – gälte auch die alte Damenwahl-Regel, die den Frauen (auf der Tanzfläche) das Ja garantiert(e), nicht mehr. Die Zumutung des männlichen Neins wäre, für Männer und Frauen, eine Befreiung – es machte sie gleichermassen zu Objekten und Subjekten der Lust, anerkennende Blicke für männliche Kniekehlen inklusive. Und Barack Obama müsste sich nicht mehr entschuldigen, höchstens bei allen anderen Generalstaatsanwältinnen, die durch die Verwendung des Superlativs herabgesetzt werden. Was überwunden werden muss, ist nicht das Kompliment, sondern der gesellschaftliche Kontext, der es ins Zwielicht rückt; das heisst die Ungleichheit von Mann und Frau, die kulturell übergreifende und individuell überlieferte Erfahrung der Unterdrückung von Sexualität=Frau, die alle Beteiligten in unterschiedlichster Weise versehrt.

Ich habe eine Vision – dass Sex nur noch für Sex zu haben sei. Und dass sie Wirklichkeit werde.

Dieser Text von Jürgmeier wurde erstmals im Jahresbericht der «Frauenberatung sexuelle Gewalt» (erschienen Anfang Juni 2013) veröffentlicht.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Schriftsteller // Berufsschullehrer // MAS Cultural&Gender Studies

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