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«Prostitution ist keine freie Wahl», sagt Monica Boseff, die in Bukarest ein Frauenhaus leitet. © stuttgart-sagt-stopp.de

«Hinter fast jeder Frau steht ein Mann, der profitiert» (2)

Barbara Marti /  Viele argumentieren, man könne freiwillige von unfreiwilliger Prostitution trennen. Nicht aber in der Realität, sagen Fachleute.

Freiwillige Prostitution gilt in Deutschland und der Schweiz als Job wie jeder andere. Wenn man Prostituierten zuhört, tönt dies anders. Die Journalistin Aline Wüst hat zwei Jahre lang in Bordellen und auf dem Strich recherchiert und hörte erschütternde Berichte. Ihr Fazit: Es gibt kaum Prostitution ohne Zwang (1. Teil).

Für die Polizei ist es schwer, Opfer von unfreiwilliger Prostitution zu identifizieren, sagt Simon Steger, Chef Fachgruppe Sexualdelikte bei der Kriminalpolizei Luzern im Buch «Piff, Paff, Puff» über Prostitution in der Schweiz. «Die meisten Menschen denken, es sei schwarz oder weiss. Hier die Zwangsprostitution, da die normale Prostitution. Dabei ist alles viel fliessender.»

«Die Ketten sind im Kopf»
Ähnlich äussert sich Alexander Ott, Chef der Fremdenpolizei der Stadt Bern. Abklärungen wegen unfreiwilliger Prostitution seien sehr schwierig, sagte er Buchautorin Aline Wüst: «Alles ist viel subtiler, als wir glauben. Es ist eine Illusion zu denken, dass die Ketten an den Händen oder Füssen sind. Die Ketten sind im Kopf.» Die Fremdenpolizei der Stadt Bern verfügt als eine der wenigen Behörden in der Schweiz über Statistiken zum Sexgewerbe. Ott gibt an, dass rund 95 Prozent der Prostituierten Migrantinnen sind. Etwa die Hälfte komme aus Osteuropa, hauptsächlich aus Rumänien, Bulgarien und Ungarn. Die meisten behaupten in den vorgeschriebenen Gesprächen bei der Fremdenpolizei, dass sie sich freiwillig prostituieren. Doch es sei schwierig zu erkennen, ob dies zutrifft. «Oft ist es ein normativer Zwang, den die Frauen selber nicht erkennen: Sie sind jung, haben früh ein Kind, kein Geld.» Immer mehr sehr junge Frauen prostituieren sich, weil ein «Freund» ihnen Liebe vorgaukelt und sie in die Prostitution drängt.

Vom «Freund» in die Prostitution geschickt
Aline Wüst hat mit Opfern solcher «Loverboys» gesprochen. Die Rumänin Emma wurde von ihrem Freund in die Prostitution gedrängt: «Es ist das bisher grösste Opfer, das ich für meinen Freund erbracht habe. Es war nicht mein eigener Wille, mich zu prostituieren.» Der Preis sei hoch, sagt die 23-Jährige: «In der ersten Zeit hier war ich so verletzt. Abends lag ich im Bett und wollte nicht, dass jemand sieht, dass ich zerbrochen bin. Also habe ich die einzelnen Stücke von mir eingesammelt und mich wieder zusammengesetzt.»

«Keine Frau würde zugeben, dass sie für einen Mann anschafft»
Lucie und Saskia sind wie Emma Opfer von «Loverboys». Die beiden Rumäninnen erzählten Buchautorin Wüst, dass sie ihre Ausbeutung lange nicht wahrhaben wollten. Saskia: «Wenn mich in den vergangenen zehn Jahren jemand gefragt hätte, ob ich das freiwillig mache, hätte ich bis zum letzten Tag gesagt: Sicher mache ich das freiwillig! Keine Frau würde zugeben, dass sie für einen Mann anschafft.» Lucie sagt, dass hinter jeder Prostituierten ein Mann steht: «Aber niemand spricht darüber. Aus Angst.» Sie sei unzählige Male von der Polizei gefragt worden, ob sie sich freiwillig prostituiere. Und jedes Mal habe sie gesagt: «Sicher mache ich das freiwillig. Ich mache das nur für mich.»
Bordellchefin Anna sagt: «Hinter fast jeder Frau steht heute ein Mann, der profitiert.» Das könne ein Freund, ein Zuhälter oder ein Clan sein: «Wenn ein Mann im Hintergrund Druck ausübt, was heute fast immer der Fall ist, dann fühlt sich das, was im Zimmer passiert, für die Frau wie eine Vergewaltigung an. Diese Frauen erleben also jeden Tag mehrere Vergewaltigungen.»

«Prostitution ist keine freie Wahl»
Monica Boseff leitet in Bukarest ein Frauenhaus. Sie sagte Buchautorin Wüst, eine Unterscheidung zwischen freiwilliger und unfreiwilliger Prostitution brauche es nicht. «Am Ende stellt sich jedes Mal heraus, dass die Prostitution keine freie Wahl war. Entweder ging eine Form von Missbrauch voraus, es war Ausbeutung durch einen Loverboy oder aber Menschenhandel.» Doch es sei oft schwierig bis unmöglich, Zwang zu beweisen, solange die Frauen nicht bei der Polizei aussagen. Und das täten die wenigsten – aus Angst, weil ihnen die Kraft fehlt oder man ihnen nicht glaubt. Die Legalisierung löse das Problem nicht, im Gegenteil: «Wir haben nun Formen von Menschenhandel, die so gut getarnt sind, dass die Opfer nicht mehr als solche identifiziert werden können.»
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Aline Wüst, Piff, Paff, Puff. Prostitution in der Schweiz, Echtzeit-Verlag, CH-Basel 2020, EAN 9783906807171, ISBN 978-3-906807-17-1, CHF 24.– / EUR 26.–.
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Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Die Autorin ist Redaktorin und Herausgeberin der Online-Zeitschrift «FrauenSicht».

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3 Meinungen

  • am 10.11.2020 um 15:24 Uhr
    Permalink

    "Monica Boseff leitet in Bukarest ein Frauenhaus. Sie sagte Buchautorin Wüst, eine Unterscheidung zwischen freiwilliger und unfreiwilliger Prostitution brauche es nicht."
    Hier kann ich die Argumentation nicht mehr nachvollziehen.
    Dasselbe Argument kann man auf jede Arbeit anwenden. Man Arbeitet, weil man Geld braucht. Es ist eine Notwendigkeit, eine Not. Die Ausbeutung durch Dritte, und das anwenden von physischem oder psychischen Druck ist, was mich stört. Oder die beeinflussung durch diskriminierung/verachtung. «Du bist zu dumm, du kannst nichts anderes» etc. Das hören nicht nur Frauen. Aber das blendet man gerne aus. «Nicht denken, Machen». Benutzt man auch z.B im Militär, um den Soldaten zu «erziehen». Wenn jemandem eine Schuld auferlegt wird, kann man man Ihn/Sie zur rechenschaft ziehen.
    Einen Freund zu haben, der verlangt, sich zu prostituieren, kann doch kein erstrebenswertes Ziel sein, ganz egal, wie «Süss» er aussieht, oder spricht.
    Wenn eine Frau VON SICH AUS feststellt: «Ich gehe auch mit Arschlöchern ins Bett, also kann ich dabei auch was verdienen» ist das doch eine ganz andere Voraussetzung, als wenn man das «Für jemanden» tut. Freiwillig und «gedrängt zu…» kann man sehr wohl unterscheiden. Einflussnahme durch psychologischen Druck eingeschlossen. Nur: für welchen «Job» gilt das nicht? Den «Freund» als Boss? das ist 24/7 Geschäft. Wer verkümmert daran nicht emotional?

  • am 12.11.2020 um 18:26 Uhr
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    Die Schlüsse dieses Artikels decken sich mit dem Befund von Anna Schreiber, die früher Prostituierte war und jetzt in Karlsruhe als Psychotherapeutin arbeitet.

    In «Körper sucht Seele. Eine Psychotherapeutin blickt zurück auf ihre Zeit als Prostituierte» beschreibt Anna Schreiber einfühlsam, ausdrucksstark, nachvollziehbar und überzeugend, was die Prostitution mit den Prostituierten und ihren Angehörigen sowie mit den Freiern und ihren Angehörigen macht und weshalb hinter der Prostitution immer Gewalt steckt. Wer ihr Buch gelesen hat, sitzt den ab und zu in den Medien erscheinenden sensationslüsternen und beschönigenden Berichten über Fälle von angeblich freiwilliger Prostitution nicht mehr auf.
    Mehr zum Buch: https://www.annaschreiber.de/aktuelles

  • am 13.11.2020 um 13:44 Uhr
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    Immer wieder wird von Prostitution als «ältestem Gewerbe der Welt» gesprochen. Das ist Quatsch. Prostitution ist mit dem Kapitalismus, dem Patriarchat, der bürgerlichen Familie und der zunehmenden Ungleichheit von Einkommen und Vermögen aufgekommen, also ziemlich spät in der Geschichte der Menschheit. Die Aufgabe der Politik und der Gesellschaft ist es unter anderem, die Gewerbefreiheit zu regulieren – schliesslich wollen wir auch dem Drogen-, Waffen- und Menschenhandel nicht freie Hand lassen. Dass wir dabei mit den Tätern – in der Regel mit Männern – beginnen müssen, ist logisch. Das skandinavische und französische Modell (aus Staaten, wo die Frauenemanzipation schon lange weiter war als bei uns) sollte für uns Vorbild sein.

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