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Rachsucht der Frau halten viele für wahrscheinlicher als Machtmissbrauch des Mannes. © AL

Der Frau misstraut man

Barbara Marti /  Eine Frau wirft ihrem früheren Vorgesetzten Übergriffe vor. Doch kommentiert wird weniger sein Verhalten, sondern ihr Vorwurf.

Nochmals zu Gottfried Locher, Präsident der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz (EKS). Er ist zurückgetreten, weil ihm eine frühere Mitarbeiterin Übergriffe vorwirft. Der Sachverhalt war zunächst unklar. Trotzdem hielt das selbst renommierte Personen nicht von Kommentaren ab, die beispielhaft ein altbekanntes Muster offenbaren: Statt der angeblichen Übergriffigkeit des Mannes stand die angebliche Rachsucht der Frau im Vordergrund.

«Intrige»
Der Theologe Frank Jehle schrieb in der «Neuen Zürcher Zeitung» von einem «unwürdigen Schauspiel». Obwohl er zu diesem Zeitpunkt den Sachverhalt nicht kennen konnte, tat er die Vorwürfe als «Intrige» ab: «Lochers angebliche oder wirkliche Frauengeschichten gehen niemanden etwas an, solange nichts Strafrechtliches vorliegt. Dies ist offenbar nicht der Fall.» Es komme auf das Sachliche an und nicht auf persönliche Querelen: «Wer Locher kennt, weiss um seine grossen Qualitäten.» Er sei wohl einigen zu tüchtig: «Vieles am Kesseltreiben gegen Gottfried Locher wirkt wie ein hässlicher Rachefeldzug.»
Der Verweis auf das Strafrecht tauchte auch in anderen Kommentaren auf. Doch für Personen in Machtpositionen gelten strengere Massstäbe. Sie verletzen Grenzen, wenn sie die Würde und Integrität abhängiger Menschen nicht respektieren. Ob solche Grenzverletzungen strafrechtlich relevant sind, sollte gerade in kirchlichen Arbeitsverhältnissen keine Rolle spielen.

«Racheakt»
Auch der reformierte Theologe Josef Hochstrasser schrieb in einem Online-Gastkommentar für die «Tages-Anzeiger»-Gruppe von einem «Racheakt» gegen Locher. Hochstrasser witterte eine Verschwörung von Reformationspuristen, Moralisten und Feministinnen, die eine «starke Führungspersönlichkeit», auch weil diese ein Mann sei, fertig machen wollen. Kommentare auf Facebook zeigten, dass viele diese Ansicht teilen. Der Vorwurf, dass Frauen aus Rache Männer fertig machen, ist ein altbekanntes Narrativ. Es basiert auf der Annahme, dass Frauen gerne Intimstes und Verletzendes preisgeben, um einem Mann zu schaden. Doch das Gegenteil ist der Fall: Betroffene von Übergriffen brauchen mitunter Jahre, bis sie in der Lage sind, Vorwürfe zu erheben. Viele schweigen, weil sie davon ausgehen, dass man ihre Aussagen nicht ernst nimmt.

«Feigheit»
Theologieprofessorin Isabelle Noth kritisierte in der «Neuen Zürcher Zeitung», dass die Frau anonym bleiben will. Damit vertusche sie die «eigene Feigheit». Es sei leichter, unter dem Mantel der Anonymität Anschuldigungen vorzubringen, statt Konflikte wie Erwachsene offen und respektvoll auszutragen. «In der hierarchisch unterlegenen Position zu sein, heisst nicht automatisch, im Recht zu sein», kommentierte Noth in Unkenntnis des Sachverhaltes und offenbar auch in Unkenntnis der Angst von traumatisierten Übergriffsopfern, dass sie auch noch zu Opfern von Rache und Häme werden.

Machtmissbrauch
Die Kommentare von Noth, Hochstrasser und Jehle waren Ausdruck frauenfeindlicher Vorurteile, wie sich später herausstellen sollte. Sechs weitere Frauen erhoben Vorwürfe gegen Locher. Mitglieder des nationalen Parlamentes der Kirche (Synode) sprachen mit allen sieben betroffenen Frauen. Christoph Weber-Berg, Aargauer Kirchenratspräsident, zog aus diesen Gesprächen in der «Aargauer Zeitung» den Schluss, dass Locher sein Amt missbraucht hat, um Frauen unter Druck zu setzen und sich ihnen ungebührlich zu nähern. Er habe von ihnen gesetzte Grenzen auch im körperlichen und sexuellen Bereich missachtet. Es gehe um mehr als einen zeitlich weit zurückliegenden Einzelfall. Die Vorwürfe gegen Locher wird nun eine externe Stelle untersuchen. Für Locher gilt die Unschuldsvermutung.

Dem Mann glaubt man eher
Unter dem Hashtag #MeToo prangern seit fast drei Jahren unzählige Frauen Übergriffe von mehr oder weniger prominenten Männern an. Der Fall Locher zeigt, dass auch heute noch viele eine rachsüchtige Frau für wahrscheinlicher halten, als dass ein Mann seine Machtposition für Übergriffe ausnutzt.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Barbara Marti ist Redaktorin und Herausgeberin der Online-Zeitschrift FrauenSicht.

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4 Meinungen

  • am 27.06.2020 um 12:27 Uhr
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    Der Frauenhass ist universell, in allen Religionen und Gesellschaften, von der frühesten Zeit bis heute. Eigentlich unverständlich, wird doch auch der ‚Mann’ von einer Frau geboren. Wir sollten gleichberechtigter denken und handeln.
    Eliane Studer

  • am 27.06.2020 um 15:08 Uhr
    Permalink

    Habe das Buch «Erziehung prägt Gesinnung» von Herbert Renz-Polster jetzt schon zweimal durchgearbeitet. Darin geht es um die Folgen einer streng autoritären, engbegrenzenden Erziehung von Kindern, bevor diese selbst reflektieren könnten.
    Bei Erwachsenen kann sich dann daran kaum noch was ändern, autoritäre Führer u. die autoritär Geführten, beide seit Geburt körperlich u. geistig autoritär erzogen, sind ein Herz u. eine Seele.

    Deshalb ist mir im obigen Text die Vorverurteilung von Frauen von der wohl selbst „starken Führungspersönlichkeit“ J. Hochstrasser aufgefallen, dass eine «starke Führungspersönlichkeit», subtil mit positiver Bedeutung konotiert, fertig gemacht werden sollen.

    Die allermeisten Führungskräfte, weltliche u. geistliche Herrschaften, besonders auch Theologen sind u. müssen einen stark autoritären Führungs-Stil u. -Persönlichkeit haben und wurden in einem autoritären Umfeld sozialisiert. Dazu gehört subtil die Prägung der Geschlechter-Rollen.
    ‹Wie› es zu Gesinnungen , vulgo Meinungen, kommt, Macht- u. Geltungs-Gier, nationalistische, religiöse Eiferer, wird im genannten Buch ein eher ‹aufgeklärtes› Erklärungsmuster vorgestellt.
    Wer an Selbst-Aufklärung interessiert ist u. das nötige Erkenntnis-Vermögen findet im Buch Gelegenheit dazu.
    Menschen mit autoritärer Grundgesinnung, aber ohne Auctoritas, werden bloss gewohnt versuchen, die Erkenntnisse im Buch mit autoritär populistischen Mitteln, zu diffamieren.

  • am 28.06.2020 um 14:13 Uhr
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    Jede / r ‹fasse sich an die eigene Nase› bzw. ’schaue in den Spiegel› … Ungeachtet, ob & wie ich es ‹auslebe› finde auch Ich bei mir Hass, Vorurteile o.Ä. – gegen wen auch immer› … Und nur mit dem, was ich mir selbst gegenüber ‹eingestehe›, kann ich auch ‹umgehen› bzw. dieses ‹verändern›, auch wenn Vieles – wie ja schon kommentiert – durch Sozialisation etc. tief verankert ist. Machen wir uns also gegenseitig Mut zu entsprechender Wahrnehmung & Selbsterkenntnis !

  • am 28.06.2020 um 20:24 Uhr
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    Es gibt wie immer mehreren Seiten und es ist nicht einfach schwarz weiss. Meiner Meinung nach muss etwas bewiesen werden bevor man irgendwelche Schlüssie zieht. Reine mündliche Aussagen ohne jegliche Zeugen oder anderweitige Beweise reichen nicht aus um vor dem Recht anerkannt zu werden. So sollte es auch am Arbeitsplatz sein. Unschuldsvermutung sollte nicht einfach zu gunsten von emotionalen Raktionen auf eine Tat zur Seite gelegt werden. Das sieht man sehr gut im Falle von Johnny Depp und Amber Heard.

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