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Parag Khanna: Der Direktor der Global Governance Initiative sieht Einfluss von Regierungen schwinden © zgv

Vorwärts ins Neo-Mittelalter

Jürg Müller-Muralt /  Staaten werden immer schwächer. Nicht-staatliche Akteure sollen die Probleme der Zukunft lösen, findet ein Ex-Berater von Obama.

Einst bewährte Problemlösungsstrategien taugen immer weniger. Entwicklungen werden immer unberechenbarer. «Neue Unübersichtlichkeit» nannte das der deutsche Philosoph Jürgen Habermas. Das war 1985. Mittlerweile hat sich die neue zur totalen Unübersichtlichkeit weiter entwickelt. Ökonomische und politische Gewissheiten brechen gleich reihenweise weg, gut eingeübte Rezepte greifen nicht mehr. Die Globalisierung und der entfesselte Finanzkapitalismus nehmen die Staaten in Geiselhaft und berauben sie zunehmend ihrer Handlungsfähigkeit. Die Dominanz der Ökonomie in allen gesellschaftlichen Bereichen erstickt demokratische Prozesse und zerstört damit die Legitimität staatlichen Handelns.

Gigantische Machtverschiebung

Die Folge ist eine dramatische Machtverschiebung. Die Entscheidungsmacht verlagert sich weg von gewählten Organen wie Parlament und Regierung hin zu anonymen Finanzmärkten, also hin zu nicht-staatlichen und nicht-demokratisch legitimierten Institutionen. Aber auch hin zu weltweit tätigen Unternehmen mit der Wirtschaftskraft ganzer Staaten, zu hochspezialisierten NGOs, zu Organisationen wie etwa den G20 oder zum Weltwirtschaftsforum (WEF). Oder zu mächtigen Stiftungen wie beispielsweise die Bill-Gates-Stiftung, die mittlerweile grösseren Einfluss auf die öffentliche Gesundheitsversorgung in der Dritten Welt nimmt als die Weltgesundheitsorganisation (WHO). Aber auch hin zum immer unheimlicher operierenden organisierten Verbrechen grossen Stils. Der Staat ist nur noch einer unter vielen, teils mächtigeren Akteuren auf der internationalen Bühne.

Abschied vom traditionellen Staat

Der traditionelle Nationalstaat ist weltweit unter Druck: Immer mehr Staaten werden zu «failing states», zu scheiternden und zerfallenden Staaten, und selbst die westlichen Demokratien stossen – akzentuiert durch die Schuldenkrise immer deutlicher an ihre Grenzen. «Der Staat ist die politische Organisationsform gewesen, die dem Industriezeitalter am dienlichsten gewesen ist, aber jetzt treten wir ins post-industrielle Zeitalter ein», schreibt Parag Khanna, ein indisch-amerikanischer Experte für internationale Beziehungen, in seinem jüngsten Buch («Wie man die Welt regiert: Eine neue Diplomatie in Zeiten der Verunsicherung», Berlin Verlag, 2011). Khanna charakterisiert die aktuelle Weltlage als «neo-mittelalterlich». Er sieht die Welt vor einer langen, unruhigen Epoche «mit ständig wechselnden Machtkonstellationen, wirtschaftlicher Unsicherheit und einer Vielzahl schwelender Konflikte.»

«Ein neues Mittelalter»

Der Nationalstaat ist nicht mehr die unbestrittene ordnende Instanz. Und wir erleben derzeit nicht nur eine geografische Machtverschiebung weg vom politischen Westen, sondern auch eine institutionelle Verschiebung weg vom klassischen Staat. Wir müssen uns «auf eine zerspaltene, fragmentierte, unregierbare, multipolare oder nonpolare Welt gefasst machen. All diese Adjektive lassen erahnen, was uns bevorsteht: ein neues Mittelalter.» Khanna sieht eine neue Art von Staat entstehen, ein Staat mit «hybrider Souveränität», «in dem die offizielle Regierung nicht unbedingt der einflussreichste Akteur auf ihrem eigenen Hoheitsgebiet ist.»

Will heissen: Wie im Mittelalter überlappen sich Einfluss- und Aktivitätszonen. Damals waren es Königreiche, Fürstentümer, Städte, Zünfte, mächtige Familien und kirchliche Gewalten, aber auch marodierende Söldnerheere, die um die Herrschaft über Territorien, die Verfügungsgewalt über Ressourcen, um Handelspartner und Investitionen konkurrierten. Genau wie heute, findet Parag Khanna, wo aufsteigende Mächte, multinationale Konzerne, Finanzimperien, superreiche Oligarchen, transnationale terroristische Netzwerke, mächtige Verbrecherkartelle die traditionelle Vorrangstellung des Staates untergraben, aushöhlen oder gar zerstören.

Zauberwort «Mega-Diplomatie»

Für Khanna ist klar, dass man von der Vorstellung vom Staat als alleinigem Träger der Souveränität Abschied nehmen muss. Aber auch den von den Einzelstaaten gebildeten Vereinten Nationen traut er nicht viel zu. Khannas Zauberformel, um das neo-mittelalterliche Chaos einigermassen in Griff zu bekommen, heisst «Mega-Diplomatie». Denn: «Technologische Vorrangstellung und Kapitalkraft, nicht Souveränität, bestimmen, wer die Macht besitzt und das Sagen hat.»

Für den in der Wolle gefärbten Pragmatiker Khanna muss das nicht negativ sein, denn heute sei ohnehin keine einzelne Institution mehr in der Lage, die grossen Probleme zu lösen. Mega-Diplomatie bedeutet, dass man – als Beispiel – nicht mehr internationale Klimakonferenzen durchführt, die in erster Linie über die traditionellen diplomatischen Kanäle abgewickelt werden, sondern dass man alle am Problem interessierten Kreise und Akteure zu unkonventionellen Koalitionen zusammenschweisst – und zwar ohne «steifen Walzer von Ritualen und protokollarischen Förmlichkeiten zwischen Staaten». Denn «in dieser neuen Welt der Mega-Diplomatie hängt der Erfolg davon ab, dass man die wichtigsten Akteure – Regierungen, Unternehmen und Organisationen – zu Koalitionen zusammenschmiedet, die sehr schnell globale Ressourcen zur Lösung von Problemen mobilisieren können.»

Einflussreich und gut vernetzt

Die Analyse Parag Khannas ist sicher nicht falsch, seine Lösungsansätze anregend und bedenkenswert. Vor allem aber ist er eine bei internationalen Führungskräften äusserst einflussreiche Stimme. Khanna ist als Direktor der Global Governance Initiative der Denkfabrik New America Foundation ein gefragter Experte für Geopolitik und internationale Beziehungen und gehört gemäss dem Magazin «Esquire» zu den 75 einflussreichsten Persönlichkeiten des 21. Jahrhunderts. Während des amerikanischen Präsidentschaftswahlkampfs 2008 gehörte Parag Khanna zum aussenpolitischen Beraterstab des Kandidaten Barack Obama. Er publiziert nur in den renommiertesten Blättern, wie «New York Times», «Washington Post», «Financial Times», «Forbes», «Newsweek», «The Guardian», «Foreign Policy», «New Statesman», «Die Zeit», «Indian Express», India Today», etc. Er arbeitete auch für das Weltwirtschaftsforum in Davos und wurde 2009 vom WEF mit dem Titel eines «Young Global Leader» geehrt.

WEF «historisch beispiellos»

So anregend seine Rezepte sein mögen – sie hinterlassen auch einen teils widersprüchlichen und zwiespältigen Eindruck. So etwa, wenn er das WEF als «Archetypus der neuen Mega-Diplomatie» lobt: Es sei informell, effizient und binde alle Teilnehmenden als gleichberechtigte Partner ein. Das WEF bilde eine «historisch beispiellose hybride Struktur»: Es werde «von Unternehmen finanziert, es hat die Rechtsstellung einer gemeinnützigen Organisation, in seinem Verwaltungsrat sitzen aktive und ehemalige Regierungsvertreter und die Gipfeltreffen gelten als offizielle diplomatische Ereignisse.»

Gleichzeitig will Parag Khanna aber nicht einfach eine Koalition aus Big Business und Staat. Er plädiert auch für eine «Stärkung der Mitwirkungsrechte auf Gemeindeebene». Vor allem bei schwachen staatlichen Strukturen seien gut funktionierende lokale Gemeinschaften wichtig – und sie könnten wirkungsvoller durch effizient agierende NGOs und Unternehmen gefördert werden als durch traditionelle diplomatische Kanäle.

Heimtückisch und gefährlich

Das Heimtückische und Gefährliche an den Vorstellungen von Parag Khanna ist, dass ihm ziemlich gleichgültig zu sein scheint, wer in das von einem schwachen, handlungsunfähigen oder gänzlich abwesenden Staat hinterlassene Vakuum tritt – Hauptsache, es funktioniert: «Regierungsbürokraten mögen behaupten, souveräne Staaten seien die einzigen Träger von Legitimität und Rechenschaftspflicht, doch dieser konventionelle Mangel an Phantasie hat in einer Welt, die neuartige Lösungen braucht, keinen Platz mehr.» Und überhaupt: In einer Welt mit derart unterschiedlichen ökonomischen und politischen Modellen werde der Attraktivitätsvorsprungs des einen gegenüber dem anderen «nach seiner Fähigkeit beurteilt, die materiellen Lebensverhältnisse der Menschen zu verbessern – nicht danach, wie demokratisch es ist.»

Khanna geht davon aus, dass in dieser neuen, hybriden, öffentlich-privaten Welt der Mega-Diplomatie alle Akteure zum Wohle des Ganzen ihre Kräfte bündeln «und sich gegenseitig zur Rechenschaft» ziehen. In seiner Welt «ist Pragmatismus das einzige Prinzip, das eine zuverlässige Richtschnur sein kann: aus der Erfahrung lernen und ihre Lehren umsetzen.»

Die Frage ist nur, ob diese pragmatismusgesättigte, kontrollschwache, institutionenfeindliche, anarchische, staats- und demokratieferne Mega-Diplomatie uns nicht gerade denjenigen ökonomischen Kräften ausliefert, die sich ohnehin am wirkungsvollsten durchsetzen können.

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