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Tessiner Regierungspräsident Gobbi: Die Anwendung des Gesetzes bringt ihn «innerlich zum Kochen.» © RSI

Ausländer: Tessiner Regierung missachtet Bundesgericht

Beat Allenbach /  Norman Gobbi und der Staatsrat als erste Rekursinstanz verweigern Ausländern Bewilligungen – oft zu Unrecht, sagt das Gericht.

«falò», die renommierte Informationssendung der Radiotelevisione della Svizzera Italiana (RSI), hat Missstände bei der Vergabe von Ausländerbewilligungen im Migrationsamt aufgedeckt. Das Amt gehört zum Departement des gegenwärtigen Tessiner Regierungspräsidenten Norman Gobbi. Von Grossräten der SP, der FDP, der Grünen und der Bewegung für den Sozialismus wurden nun im Kantonsparlament kleine Anfragen und Interpellationen eingereicht, damit die Umstände geklärt werden. Auch in Italien haben die Enthüllungen die Gemüter bewegt und einen Vorstoss im Senat bewirkt. Die Fernsehsendung «falò» (grosses Feuer) hat schon viele Missbräuche aufgedeckt, doch manchmal werden sie von einem Mantel des Schweigens zugedeckt.

Weshalb jetzt die Aufregung? Die beiden Journalistinnen Alessandra Maffioli und Simona Bellobuono haben bei Ausländern und Anwälten recherchiert sowie Entscheide des kantonalen Verwaltungsgerichts und Tätigkeitsberichte des Obergerichts ausgewertet. Das Resultat war eine 48-minütige Reportage; anschliessend diskutierten im TV-Studio der Sendeleiter mit Staatsrat Norman Gobbi von der Lega, seiner Mitarbeiterin und dem Präsidenten der Tessiner Anwaltsvereinigung.

Demütigende Kontrollen durch die Polizei
Was zu sehen und zu erfahren war, lässt aufhorchen. Um abzuklären, ob ein Ausländer mit einer Arbeitsbewilligung sein Lebenszentrum wirklich in der Schweiz hat, werden im Tessin zum Teil unverhältnismässige und demütigende Kontrollen durch die Polizei durchgeführt – ganz im Stil der «Schweizermacher». So beobachten Polizisten am Morgen früh und in der Nacht, ob Licht in der Wohnung brennt; weiter gibt es unangemeldete Besuche, im Kühlschrank werden die Vorräte begutachtet, die Wäsche durchsucht, auch der Konsum von Elektrizität wird bewertet. In Straffällen wäre ein solches Eindringen in die Wohnung ohne offiziellen Auftrag nicht möglich.

Zu oft bei Verlobter übernachtet, stundenlang verhört
Einem Italiener wurde aus unerklärlichen Gründen die Aufenthaltsbewilligung verweigert, und er wurde angewiesen, die Schweiz zu verlassen. Dieser Mann hat in Balerna nahe bei Chiasso in einem zuvor baufälligen Haus, das er umgebaut hatte, eine Bierbrauerei eingerichtet; sein Bier verkauft er in der Schweiz. Für ihn ist klar, sein Geschäfts- und Lebenszentrum liegt im Tessin, aber weil er über Nacht offenbar zu oft bei seiner Verlobten in der nahen italienischen Grenzstadt Como bleibt, hat das Migrationsamt entschieden, sein Lebenszentrum sei nicht in der Schweiz. Pikant ist, dass dessen Vater, ein in die Deutschschweiz eingewanderter Italiener, inzwischen die schweizerische Staatsbürgerschaft besitzt.
Ein Anderer, der vor rund 30 Jahren als Grenzgänger aus Italien in die Schweiz kam, baute sich im Tessin ein Unternehmen mit rund 100 Beschäftigten auf, das er danach zu einem stolzen Preis verkaufen konnte; er ist weiterhin im Tessin tätig. Als er seine Aufenthaltsbewilligung verlängern wollte, wurde ihm gesagt, er solle eine Niederlassungsbewilligung beantragen. Damit begann ein Albtraum: Nicht so sehr die Kontrollen und die Besuche störten ihn, aber eines Tages wurde er von einem Polizisten während fünf Stunden verhört, wobei es sich um einen Beamten handelte, der Italiener nicht mochte und entsprechend abfällige Bemerkungen machte. Das setzte dem 60-Jährigen nach fünf Stunden Verhör derart zu, dass er sich ins Spital für Herzkranke in Lugano begeben musste, wo er beruhigenden Bescheid erhielt. Er und der Bierbrauer haben Rekurs eingereicht: sie warten jetzt auf den Entscheid des Verwaltungsgerichts.

Gobbi reagierte lange nicht auf Kritik des Verwaltungsgerichts
Einem Grenzgänger, der schon lange in der Schweiz arbeitete, wurde 2017 die Bewilligung entzogen, weil das Migrationsamt damals erfahren hatte, dass er in Italien verurteilt worden war. Hier ist anzufügen, dass das Tessin als einziger Kanton seit 2013 auch von EU-Bürgern jeweils einen Strafregisterauszug verlangt. Das Verwaltungsgericht entschied im Sommer des letzten Jahres, der Betroffene dürfe in der Schweiz bleiben. Es präzisierte, dass der Italiener in jungen Jahren, im April 2004, in Italien wegen Besitz von 18,5 Gramm Haschisch, aufgeteilt in sechs Portionen, festgehalten worden und im Jahr 2007 vom zuständigen Gericht zu vier Monaten und zehn Tagen Haft und einer Busse von 750 Euro verurteilt worden war; seither sei er nie mehr straffällig geworden. Das Tessiner Gericht befand, es handle sich um einen um Jahre zurückliegenden Bagatellfall, so dass aufgrund der seit 2012 in Kraft getretenen Rechtsprechung des Bundesgerichts die Bewilligung nicht entzogen werden dürfe. Das Tessiner Verwaltungsgericht kritisierte zudem, dass der Staatsrat (als erste Rekursinstanz) zum wiederholten Mal entgegen dem geltenden schweizerischen Recht falsche Hinweise liefere und Fakten verschweige, um den Entzug einer Bewilligung zu begründen.

Gericht durch Rekurse überlastet, die fast zur Hälfte gutgeheissen werden
In allen Tätigkeitsberichten seit 2015 betont das Obergericht zudem die hohe Zahl von Rekursen im Bereich der Bewilligungen für Ausländer: im Jahr 2019 sei die Rekordzahl von 190 Rekursen eingegangen. Seit dem Jahr 2017 betont das Obergericht stets, die Überlastung des Gerichts sei auf den kaum vorhandenen Willen des Staatsrats und des Migrationsamts zurückzuführen, die Rechtsprechung des Bundesgerichts zu beachten. Die unrechtmässig übertriebene Strenge des Kantons zeigt sich auch daran, dass 47 Prozent der Rekurse gutgeheissen werden.

Gobbi hat Mühe zu akzeptieren, dass er nicht so rigoros sein kann, wie er möchte
Wie reagiert Staatsrat Norman Gobbi auf die geballte Kritik aufgrund der Recherchen der Journalistinnen und der Stellungnahmen des Tessiner Obergerichts? Er versucht abzulenken: bei den Beispielen in der Reportage handle es sich um wenige Einzelfälle, die Kontrollen durch die Polizei seien rechtmässig und manchmal sei ein grosser Aufwand notwendig, um Klarheit zu schaffen. Im Zusammenhang mit den Vorwürfen des Obergerichts meinte er, man habe sich angepasst. Das scheint eine Schutzbehauptung zu sein, denn es bestehen offenbar noch keine Entscheide des Migrationsamts, welche mit der Rechtsprechung des Bundesgerichts übereinstimmen. Gobbi betonte auch, nie etwas Illegales gemacht zu haben, doch sagte er ebenfalls, dass ihn die Anwendung des Gesetzes, wie vom Obergericht verlangt, innerlich zum Kochen bringe, denn auf diese Weise werde die öffentliche Ordnung nur mangelhaft geschützt.

Aufschlussreich wird sein, wie das Migrationsamt und der Staatsrat künftig ihre Urteile fällen und begründen werden. Ebenso gespannt warten viele auf die Antworten der Tessiner Regierung zu den vielen Fragen von Tessiner Grossräten, welche die Handhabung des Ausländerrechts und die übermässigen Kontrollen der Ausländer durch die Polizei betreffen.


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2 Meinungen

  • am 22.09.2020 um 14:59 Uhr
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    JA zur BGI: Im Tessin arbeiten mehr Ausländer*innen als Einheimische!
    Im Tessin arbeiten mittlerweile mehr EU-Ausländer*innen als inländische Arbeitnehmende. Das Lohndumping ist so massiv, dass unsere Kantonsregierung bereits 21 Normalarbeitsverträge mit zwingenden Mindestlöhnen ausarbeiten musste, um die Löhne zu stabilisieren. Auch führt die unkon¬trollierte Zuwanderung zu mehr Kriminalität, mehr Umweltverschmutzung, mehr unlauterem Wettbewerb, mehr Staus auf den Strassen und letztlich zu weniger Lebensqualität für alle, vor allem für den Mittelstand. Denn dieser leidet am stärksten unter der masslosen Zuwanderung. Das Tessin ist kein Einzelfall. Auch Genf und andere Grenzregionen kämpfen mit solchen Problemen. Das sollte unsere Landsleute in der deutschen Schweiz aufrütteln. Denn was in den Grenzregionen geschieht, sind die Vorboten dessen, was bald im Rest unseres Landes Realität sein wird. Zumal die Corona-Krise und die damit einhergehende Wirtschaftskrise zu mehr Arbeitslosigkeit in Europa führen. Dadurch wird die Schweiz für EU-Bürger noch attraktiver.

  • am 23.09.2020 um 11:23 Uhr
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    Wenn die Personen in den geschilderten Fällen anständig und den Gesetzen entsprechend behandelt worden wären, hätte es deswegen wohl kaum «mehr Kriminalität, mehr Umweltverschmutzung, mehr unlauterem Wettbewerb, mehr Staus auf den Strassen und letztlich» «weniger Lebensqualität für alle, » gegeben.
    Was meine Lebensqualität verschlechtert ist diese unglaubliche Feindseligkeit gegen fremde Menschen. Ich fühle mich in dieser Hässigkeit manchmal selber nicht mehr daheim.

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