Kataloniens selbstgewähltes Martyrium dauert an

Alexander Gschwind /  Die Separatisten in Barcelona provozieren, die Regierung in Madrid zeigt keine Gesprächsbereitschaft. Gewinnen kann Barcelona kaum.

Niemand beherrsche seine Opferrolle so perfekt wie die Katalanen, pflegt der Barceloneser Schriftsteller Juan Marsé zu spotten. Der Galgenhumor ist ihm nicht vergangen, obwohl er in seiner Geburtsstadt als bekennender Gegner einer einseitigen Unabhängigkeitserklärung zunehmend gemobbt wird und ihm die katalanischen Kulturbehörden auch die Teilnahme an ihrer Delegation auf der Frankfurter Buchmesse verweigerten, weil er auf Spanisch schreibt. Als ob Barcelona bisher nicht die Verlags- und Literatur-Hauptstadt der ganzen iberischen Welt gewesen wäre. Was sich jetzt womöglich dann schnell ändert nach dem Wegzug des grössten Verlagshauses Planeta, dem Sponsor des höchstdotierten Literaturpreises der kastilischen Literatur: Wie inzwischen mehr als 1200 andere Firmen seit dem illegalen Unabhängigkeits-Referendum vom 1.Oktober hat auch Planeta seinen Geschäftssitz nach Madrid verlegt angesichts mangelnder Rechtsicherheit infolge der Unabhängigkeits-Wirren.

Die Situation ist dramatisch

Was sich da seit einem Monat abspielt in einer der wohlhabendsten Regionen der iberischen Halbinsel ist tatsächlich längst nicht mehr bloss verunsichernd, sondern höchst dramatisch. Schon Anfang September hatte das katalanische Regional-Parlament das geltende Selbstverwaltungs-Statut ausser Kraft gesetzt und für den 1. Oktober eine Volksbefragung über eine einseitige Unabhängigkeits-Erklärung von Spanien angesetzt. Zu beidem fehlte jegliche verfassungsmässige Kompetenz: «Was von allen Stimmbürgern beschlossen wurde, kann auch nur von diesen geändert oder abgeschafft werden», stellte das spanische Verfassungsgericht ebenso unmissverständlich wie völlig plausibel dazu fest und erklärte deshalb besagte Beschlüsse für ungültig. Kurz darauf enthob die Regionalregierung die katalanische Wahlbehörde ihrer Funktionen und organisierte den Urnengang ohne jede rechtsstaatliche Garantie über ein Internet-Portal, wo jedermann seinen Stimmzettel ohne Kontrolle durch ein gültiges Stimmregister runterladen konnte. Als die spanischen Sicherheitskräfte in Druckereien zudem fast doppelt so viele Stimmzettel beschlagnahmten wie Katalonien Wahlberechtigte hat, wurden unter der Hand einfach neue gedruckt – ebenfalls ohne jede unabhängige Kontrolle und am Abstimmungstag selbst auch improvisierte Urnen (offene Papierkörbe zum Beispiel!) verwendet, nachdem die offiziellen teilweise beschlagnahmt worden waren. Dass die Polizeiorgane des Zentralstaates dabei höchst unzimperlich vorgingen und sich immer wieder ihrer Gummiknüppel oder gar Gummischrots bedienten, lieferte den Separatisten heiss ersehnte Bilder für ihre Opferkampagnen im Cyberspace, mit denen sie ahnungslose Dritte bis heute beeindrucken: «Die spanische Regierung lieferte ihnen mit ihrem unbedachten Dreinfahren den Fototermin, den sie unbedingt brauchten!» bilanzierte ein Radiokollege am Abend des Abstimmungstages nüchtern.

Eskalation auf beiden Seiten

Seither nahm die Eskalation auf beiden Seiten ihren Lauf. Kataloniens Regierungschef Puigdemont erklärte vor der Regionalkammer am 10. Oktober verklausuliert die Unabhängigkeit, um sie genau acht Sekunden später im nächsten Satz wieder auszusetzen – verbunden mit einem scheinheiligen Dialog-Angebot an Madrid, das aber nur die Bedingungen einer einvernehmlichen Unabhängigkeit beinhalten sollte. Worauf Madrid mit dem Ultimatum einer unmissverständlichen Rücknahme der Unabhängigkeits-Erklärung antwortete. Was Puigdemont auch nach einer Zusatzfrist provokativ mit dem Verweis auf eine de facto wie formell nie wirklich erfolgte Unabhängigkeits-Erklärung verweigerte. Kunststück, hatte er das eigene Parlament doch gar nicht darüber abstimmen lassen, wohlwissend, dass diesem schlicht die Kompetenz dazu fehlte.
Wie zuvor mehrfach angedroht beruft sich die Madrider Regierung nun auf den ominösen Verfassungsartikel 155, der die Wiederherstellung der verfassungsmässigen Ordnung in einer Region erlaubt, wenn diese dort nachhaltig gestört oder ausser Kraft gesetzt wird. Die Bestimmung wurde 1978 aus dem deutschen Grundgesetz übernommen und in Spanien bisher nur einmal angerufen – als die kanarische Region beim spanischen EU-Beitritt 1986 die Abschaffung ihrer Sonderzölle verweigerte. Damals reichte freilich die blosse Androhung einer Intervention kanarischer Zollstationen durch Beamte des Zentralstaates, um den Konflikt zu beenden. Gelungen ist dies damals ausgerechnet dem aus Katalonien stammenden Territorialminister Josep Borrell unter Premier Felipe Gonzalez, der in jenen Jahren seinerseits im Baskenland einen wesentlich härteren Kurs fuhr als sein konservativer Nachfolger Rajoy heute in Katalonien und selbst vor der Duldung einer Todesschwadron gegen ETA-Terroristen nicht zurückschreckte! Gerade im direkten Vergleich mit dem Baskenland und seinen mehr als 800 Terrortoten mutet die katalanische Opferleier und deren Verweis auf ex-jugoslawische Vorbilder wie Kosovo oder Slowenien nur noch pervers an. Zumal die Basken dem Gang durch die Wand inzwischen abgeschworen haben und für sich auf einen weiteren Ausbau ihrer Selbstverwaltung setzen – bei aller Sympathie für katalanische Frustrationen!

Bürokratie statt Dialog

Prompt spricht Kataloniens (Noch-) Präsident Puigemont von den schlimmsten Angriffen auf Katalonien seit der Franco-Diktatur und schwerster Verletzung demokratischer Grundregeln, um das katalonische Opfer-Narrativ fortzuschreiben. Das einmal mehr rein formaljuristische statt politischer Weitsicht und Flexibilität folgende Vorgehen der Zentralregierung kommt ihm dabei erneut weit entgegen. Die Regierung Rajoy hat sich in dieser Krise von Anfang an rein bürokratisch verhalten und auf aktive Gesprächssuche mit den Katalanen demonstrativ verzichtet, obwohl die sozialistische Opposition solche Dialog-Bereitschaft letzten November zur Bedingung gemacht hatte für ihre Stimmenthaltung bei der Amts-Einsetzung des konservativen Minderheits-Premiers. Zerstritten in den eigenen Reihen und mit der übrigen Opposition vermochten die Sozialisten die Erfüllung jener Zusage freilich nie einzufordern. Dafür rangen sie Rajoy nun das ebenso unverbindliche Versprechen zur Prüfung einer überfälligen Verfassungsreform zur Stärkung der regionalen Selbst-Verwaltung ab als Gegenleistung für ihre parlamentarische Unterstützung der Zwangs-Massnahmen gegen Katalonien auf Grundlage des erwähnten Verfassungs-Artikels 155. Dass der ewige Lavierer Rajoy diesmal Wort halten wird, ist mehr als unwahrscheinlich.
Puigdemont und seine regionale Selbstverwaltung aber sind wohl am Ende ihres Lateins, wenn sie in der verbleibenden Woche bis zur Inkraftsetzung von Artikel 155 durch den spanischen Senat nicht doch noch auf den Boden der verfassungsmässigen Ordnung zurückkehren. Dass sie sich dazu aufraffen, gilt als eher unwahrscheinlich, weil es auch im separatistischen Lager an besonnenen Stimmen fehlt oder diese das sinkende Schiff längst verlassen haben. So lässt sich Puigdemont denn von den Anarchochaoten der selbst ernannten «Kandidatur der Volkseinheit» CUP mit ihren weniger als 5 Prozent Wähleranteil vor sich hertreiben, ohne deren Stimmen er ohnehin gar nicht weiter regieren könnte. Seine Koalitionspartner von der republikanischen Linken warten scheinbar ungerührt seinen Sturz ab. In der aberwitzigen Hoffnung auf einen sicheren Wahlsieg in einem unabhängigen Katalonien oder eben vielleicht doch nur in einer ausgebauten Selbstverwaltung.

Der wirtschaftliche Schaden ist bereits gross

Dass Katalonien wie Spanien durch all die frivolen Machtspiele und Profilierungs-Versuche bereits schweren Schaden genommen haben, die wirtschaftliche Erholung der gesamten iberischen Halbinsel ins Stocken gerät und einem unabhängigen Katalonien isoliert von seinen Nachbarn mit schwacher Währung ausserhalb der Eurozone und dafür unbezahlbaren Schulden ohne Schutzschirm der Europäischen Zentralbank dramatische Verarmung droht, wird dabei von allen Beteiligten beharrlich verdrängt oder gar in Kauf genommen. Offensichtlich muss dieses Szenario noch näher rücken, bevor die Stimmen der Vernunft in beiden Lagern wieder an Boden gewinnen oder genügend Katalanen doch wieder auf den ihnen doch ansonsten so wichtigen Geldbeutel schielen.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Alexander Gschwind war Spanien-Korrespondent bei Schweizer Radio DRS (heute SRF). Er ist Autor des Buches «Diesseits und jenseits von Gibraltar». Wer sich für die Länder Spanien, Portugal, Marokko, Algerien oder Tunesien interessiert, findet in diesem Buch viel Hintergrundwissen.

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5 Meinungen

  • am 23.10.2017 um 13:35 Uhr
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    Herr Gschwind, Sie sollten vielleicht wieder einmal die Geschichtsbücher konsultieren! Sehen Sie denn nicht, dass da alte Geister wieder heraufbeschworen werden? Da war doch die Sache mit der demokratisch gewählten Linksregierung, die von einer Minderheit des spanischen Volkes mit Hilfe der katholischen Kirche, mit Hilfe der übelsten europäischen Faschisten, ja sogar mit Hilfe von Stalin überwunden und beiseite gefegt worden ist. Verletzung der Menschenrechte, Folter und Mord waren an der Tagesordnung! Daran erinnern sich die Katalanen, denn Spanien war und ist ein zu tiefst gespaltenes Land. Daher kommt auch die Leidenschaft: Familienstreit, Streit unter Fussballfans, Sprachenstreit usw. Die EU will davon natürlich nichts wissen, denn sie fürchtet nur, ihre (Finanz- )Interessen verletzt zu sehen. Katalonien repräsentiert die Demokratie von unten, Rajoy die von oben.

  • am 23.10.2017 um 23:25 Uhr
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    Herr Jud, eine kleine Korrektur zu Ihrem Kommentar. Rajoy repräsentiert nicht die Demokratie von oben, sondern die alte Form bzw. Wiedergeburt der franquistischen autoritären Diktatur. Null Verständnis für die Anliegen der Katalanen, reines Machtgehabe. Schuld an der aktuellen Krise sind also nicht die Katalanen, sondern die Spanier, welche diesen Dinosaurier Rajoy zum Ministerpräsidenten gemacht haben.

  • am 24.10.2017 um 07:22 Uhr
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    Meiner Meinung nach ist sie Situation zu kompliziert, um sich so eindeutig zu positionieren, wie es im Artikel dargestellt wird. Die Formulierungen zum Thema Polizei-Brutalität finde ich allerdings ziemlich abstossend. Sie erinnern an die Argumentation eines Vergewaltigers, dass sein Opfer keinen Minirock getragen hätte, wenn sie es nicht so gewollt hätte.

  • am 24.10.2017 um 12:02 Uhr
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    Herr Amrein, Sie haben völlig Recht, ich bin bei Ihnen!

  • Portrait_Jrg_Schiffer
    am 24.10.2017 um 12:19 Uhr
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    Katalonien ist kein unterdrücktes Volk sondern selber ein Gebiet, das seit rund vierzig Jahren, dem Joch der Franco-Diktatur entronnen, durch systematische Demagogisierung seiner Jugend eine praktisch gleich grosse Minderheit schlecht behandelt hat. Katalonien ist dadurch ein in sich tief gespaltenes Land voller Hass geworden, dessen Probleme durch eine «Unabhägigkeit» keineswegs gelöst würden. Der Auszug von Firmen und Personen ist die Folge.
    In Bern gab es einen katalanischen Kulturclub mit regen kulturellen und sozialen Veranstaltungen auf Katalanisch. Als er von Katalanisten politisiert wurde, zogen sich viele Mitglieder zurück und der Club ging ein.

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