MaratRobespierre

Populisten Jean-Paul Marat und Maximilien de Robespierre © Wikipedia

1789: Ein Umsturz und drei Revolutionen

Jürg Müller-Muralt /  Spuren von Populismus und Faschismus lassen sich bis 1789 zurückverfolgen. Eine Neuinterpretation der Französischen Revolution.

Die Französische Revolution hat eine herausragende Bedeutung für die Geschichte der Moderne. Es war der erste nachdrückliche Versuch, einen säkularen, auf Menschenrechten basierenden Staat zu gründen. Sie ist deshalb von ganz anderer Qualität als alle früheren Revolutionen, und fundamentaler als die russische von 1917. Die Ereignisse am Ende des 18. Jahrhunderts zeigten das Potenzial einer demokratisch verfassten Republik ebenso auf, wie die Widersprüche und Gefahren moderner Gesellschaften. Denn es waren gleich drei Revolutionen: eine demokratisch-republikanische Umwälzung, ein gemässigter konstitutioneller Monarchismus und ein autoritärer Populismus. Und nicht nur das: Mit diesem autoritären Populismus zeigte auch erstmals der Faschismus seine Fratze. Dies sind, stark verkürzt, einige Hauptbefunde eines neuen Buches zum epochalen Umbruch am Ende des 18. Jahrhunderts.

«Ideen machen Politik»

Das Werk bietet allerdings mehr als bloss einige Thesen, sondern erzählt die Geschichte der Französischen Revolution neu. Ein ehrgeiziges und im Wortsinn gewichtiges Unterfangen: Das Buch bringt fast 1,5 Kilogramm auf die Waage und umfasst gegen tausend Seiten. Aber langfädig und trocken ist es nie, denn das Werk hat auch schriftstellerische Qualitäten, wie es für die britische Geschichtsschreibung nicht ungewöhnlich ist. Der Verfasser, Jonathan Israel, ist einer der weltweit profiliertesten Aufklärungsforscher. Und der Titel des Buches macht auch schon klar, welchen Ansatz der Autor verfolgt: Die Französische Revolution: Ideen machen Politik.

Gängige Interpretationen in Frage gestellt

Für Jonathan Israel ist klar, dass über wesentliche Elemente der Französischen Revolution Gemeinplätze im Umlauf sind, die zwar ständig wiederholt und auch von Historikern akzeptiert werden, «sich aber als grundlegend falsch herausstellen.» Marxistische und auch neuere soziale und wirtschaftliche Erklärungsversuche seien gescheitert. Für die «ehedem weit verbreitete Ansicht, Verarmung und sinkende Reallöhne hätten eine Subsistenzkrise ausgelöst, die den Lebensstandard der Bevölkerungsmehrheit verschlechtert habe», gebe es schlicht keine Beweise: «Es gab im Frankreich des späten 18. Jahrhunderts keine grössere Krise, welche die Wucht gehabt hätte, die gesamte Gesellschaft zu durchdringen und destabilisierende Unzufriedenheit zu zeitigen.»

Selbst die unter den meisten heutigen Historikern gängige Meinung, es habe zwar nicht eine grosse Ursache, sondern viele verschiedene Impulse gegeben, also etwa die Krise des absolutistischen Staates, die Verelendung des Volkes oder überhöhte Brotpreise, wischt Israel vom Tisch. Denn alle Faktoren seien zu wenig spezifisch, als dass sie die ausserordentliche Dynamik des Geschehens erklären könnten. Nur gerade die königliche Finanzkrise ab 1787 lässt der Autor als schwerwiegenden, fassbaren, materiellen Faktor gelten, der in direkter Kausalbeziehung zu den vordergründigen revolutionären Ereignissen steht. Aber auch das mache den vollständigen, dramatischen Bruch mit der Vergangenheit nicht plausibel.

Die radikale Aufklärung im Zentrum

Was war es dann? Die radikale Aufklärung! Sie gehört für Jonathan Israel in den Mittelpunkt, denn sie sei das zusätzliche und entscheidende Moment, das inmitten der sozialen und politischen Unruhe der Revolution die Richtung gab und sie vorwärtstrieb. Diese philosophische Radikalität zeichnete sich einerseits durch eine scharfe Religionskritik und das Gleichheitspostulat aus, anderseits durch ein Programm, das den sozialen Wandel und die Gleichheit politisch durchsetzt. Die Radikalaufklärung ist «die eine ‘grosse’ Ursache der Französischen Revolution. Sie war die einzige wirklich fundamentale Ursache, weil sie die Führer der authentischen Revolution politisch, philosophisch und logisch inspirierte und ausrüstete. Dies konnte sie, weil allein sie ein Bündel von Werten bereithielt, die hinreichend universell, säkular und egalitär waren, um die Kräfte einer breiten, generellen Emanzipation in Bewegung zu setzen, die auf Vernunft, Gedankenfreiheit und Demokratie gründete.»

Die Zweiteilung der Aufklärung

Jonathan Israel hat bereits in früheren Büchern die radikale Aufklärung ins Zentrum seiner Forschung gestellt. Darunter versteht er die materialistischen Philosophen Denis Diderot, Claude-Adrien Hélvetius und Baron d’Holbach. Sie haben einen dezidierten Atheismus vertreten, aber auch egalitäre Prinzipien. Deshalb seien sie die eigentlichen Stichwortgeber der Revolution. Er trennt sie scharf ab von der «moderaten Aufklärung» eines Locke, Hume, Voltaire oder Kant. Für diese Trennung der Aufklärung in zwei Lager wird Israel auch kritisiert. Auch die fast monokausal dargestellte politische Wirksamkeit der radikalen Aufklärer auf die Revolution ist umstritten.

«Standardtechnik autoritärer Populisten»

Es ist ein wichtiges Anliegen des Autors aufzuzeigen, dass die radikale Aufklärung nicht für das Terrorregime der Jahre 1793/94 verantwortlich ist. Im Gegenteil: Sie ist die Inspiration für die demokratisch-republikanische Revolution. Die «Terreur»-Periode der berüchtigten «Bergpartei», den Montagnards unter Robespierre und Marat, sei ein Verrat, ein Bruch mit der ursprünglichen Revolution gewesen. In Anlehnung an moderne Terminologie bezeichnet Israel die Haltung der beiden als «illiberalen Extremismus». Indem er die damalige revolutionäre Führung der Illoyalität gegenüber egalitären Prinzipien bezichtigte, «begründete Marat, was später eine Standardtechnik autoritärer Populisten zur Stigmatisierung ihrer Opponenten werden sollte. Marat gebärdete sich als öffentlicher Zensor – in dem Sinne, als er öffentlich Zensuren für politisches Handeln vergab. Daher die aggressiven Verbalinjurien, eine Rhetorik des Verdachts, die überall geheime Intrigen am Wirken sah, und unablässige Appelle zu gnadenloser Bestrafung und Säuberung.»

«Diktatur und scharfe Zensur»

Indem Marat die Volkssouveränität zur Leitlinie erkoren habe, sei er der erste politische Denker gewesen, der das Prinzip der Repräsentation von einem populistischen Standpunkt aus kritisierte. Israel beharrt darauf, dass die wirklich demokratischen Radikalen und Republikaner die Jakobiner um Jacques-Pierre Brissot gewesen seien, die Brissotins, und nicht die viel bekannteren Jakobiner um Marat und Robespierre. Letztere bezeichnet er als populistische Fraktion, die überhaupt nicht demokratisch oder republikanisch gewesen sei, sondern «eher unerbittlich autoritär; Marat strebte ausdrücklich nach Diktatur und scharfer Zensur.» Schon in den Jahren 1791/92 hat die «populistische Propaganda» unermüdlich die «Unbestechlichkeit» von Robespierre und Marat hervorgestrichen und immer wiederholt, die Nation sei von schlimmsten Gefahren bedroht.

«Frühe Form des modernen Faschismus»

Anders als die linken Republikaner forderten die autoritären Populisten, die sich auf Rousseau beriefen, dauernd ungeteilte Einigkeit. «Sie wollten jedweden Dissens eliminieren und politische Feinde ausschalten.» Ihr «Lieblingstrick»: Ihre eigenen Meinungen als den «Willen des Volkes» und die «volonté générale» (Rousseau) auszugeben. Damit das glaubwürdig wirkte, organisierten sie Strassenpetitionen, die dafür notwendigen Massen rekrutierten sie sorgfältig und bezahlten sie. «Das wachsende Gewicht des orchestrierten Populismus machte jene Linken, die echte republikanische Haltungen zum Ausdruck brachten, verwundbar gegenüber Robespierres Vorwurf, sie hätten eine elitäre Einstellung und streuten Ideen unter die einfachen Leute, die diesen fremd seien.»

Marat und Robespierre predigten zielsicher eine Kultur des kollektiven Konsenses: «Kompromissloses Streben nach Einheit, Orientierung an den Ressentiments der einfachen Leute, Chauvinismus und Antiintellektualismus – das waren Mittel, mit denen sich jeglicher Dissens zerschlagen und eine Diktatur errichten liess. Der Populismus der Montagnards ähnelte weniger einer libertären, emanzipatorischen Bewegung als einer frühen Form des modernen Faschismus.»

Geschichte immer wieder neu schreiben

Auch wenn man der Wirkkraft philosophischer Konzepte auf den Lauf der Dinge skeptisch gegenüberstehen mag, auch wenn man die Anwendung historischer und politikwissenschaftlicher Kategorien des 20. und 21. Jahrhunderts auf die Ereignisse am Ende des 18. Jahrhunderts kritisieren kann: Jonathan Israel hat eine materialreiche, bestens dokumentierte und spannend geschriebene Gesamtschau der Französischen Revolution verfasst und gleichzeitig eine höchst inspirierende Neuinterpretation geliefert. Israels Werk zeigt auch eindrücklich, warum Geschichte immer wieder neu geschrieben werden muss: Weil man in der Vergangenheit immer wieder Elemente entdeckt, die erst durch Entwicklungen in der Gegenwart zum Vorschein kommen.


Jonathan Israel, «Die Französische Revolution: Ideen machen Politik», Reclam Verlag, Stuttgart 2017. 990 Seiten, CHF 71.90

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Eine Meinung zu

  • am 17.12.2018 um 13:31 Uhr
    Permalink

    "Die radikale Aufklärung im Zentrum»… In obigem Beitrag wird die Aufklärung wortgewaltig und überzeugend dargestellt. Zitat: «Sie war die einzige wirklich fundamentale Ursache, weil sie die Führer der authentischen Revolution politisch, philosophisch und logisch inspirierte und ausrüstete. Dies konnte sie, weil allein sie ein Bündel von Werten bereithielt, die hinreichend universell, säkular und egalitär waren, um die Kräfte einer breiten, generellen Emanzipation in Bewegung zu setzen, die auf Vernunft, Gedankenfreiheit und Demokratie gründete.» Zitatende. Der Kern dieser Worte sind aktueller denn je. Seit ich gestern eine Satz für Satz Analyse des vom BR veröffentlichten Vertrages über die institutionelle Einbindung der Schweiz unter die ‹Diktatur verdächtige EU› gelesen habe, sehe ich eine nicht ganz banale Wiederholung der Geschichte, leider mit umgekehrten Vorzeichen. Den Ausführungen Jonathan Israels folgend, ist es erschütternd feststellen zu müssen zu welchen Fehlleistungen der Bundesrat und seine Diplomaten fähig sind. Ich befürchte, wenn der Bundesrat diesen Vertrag nicht umgehend mit einem dezidierten Nein beantwortet, muss er zur eigenen Sicherheit schon bald den Verkauf von «rot/weissen Vesten» unterdrücken. Ich habe den Mut, mich bei den radikalen Aufklärer einzureihen.

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