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Wer das Elend von Menschen mit eigenen Augen gesehen hat, weiss, warum wir Hilfswerke brauchen. © CM

Nur ein Geschäft mit dem schlechten Gewissen?

Christian Müller /  Die Werbung der Hilfswerke sei «rührselige Marktschreierei», so eine Kritik in der NZZ. Eine unnötige Attacke gegen die Hilfswerke.

Die Medien verzichten immer mehr auf Medienkritik. Sie sparen damit Geld und vermeiden Ärger mit Kollegen. Noch seltener begegnet man einer Kritik von Werbung. Gerade hier aber gäbe es viel zu berichten und aufzuklären: Wie funktioniert Werbung psychologisch? Was ist erlaubt, was ist grenzwertig? Wie wirken Bilder? Wie emotional darf Werbung sein? Wie «wahr» muss Werbung sein? Das Thema ist indes weitestgehend tabu. Die Medien leben zu einem guten Prozentsatz von der Werbung. Sollen sie also ausgerechnet die Werbetreibenden kritisch begleiten? Nein, sagen sie, es könnten sonst ja Werbetreibende verärgert werden und Werbeaufträge verloren gehen.

Die NZZ hat’s am 19. Dezember 2017 trotzdem gemacht. An einem Beispiel, das für sie kein Risiko beinhaltet: Sie kritisierte die Werbung der Hilfswerke. Diese gehen, schon aus Kostengründen, mit ihrer Werbung nicht in die NZZ.

Die Kritik an der Werbung der Hilfswerke ist denn auch entsprechend hart. Da ist zum Beispiel von der «Wohltäterindustrie» und von «rührseliger Marktschreierei» die Rede.

Ein paar Zitate aus der Kritik:

«Auf Emotionen zu setzen, ist einfach. Das funktioniert immer.»

«Die Hilfswerke nutzen damit urmenschliche Neigungen aus: das Empfinden von Mitleid und das Bedürfnis nach Mitmenschlichkeit, nach Gegenseitigkeit. Dieses Geschäft mit dem schlechten Gewissen lohnt sich.»

«Gerade an Weihnachten herrscht Erntezeit in der Hilfswerkbranche.»

«Diese Masche ist beliebt.»

«Die Masche funktioniert auch bei Strassenkampagnen.»

«Auch emotionale Einzelschicksale werden gezielt vermarktet.»

«Im Kleingedruckten ist zu erfahren, dass die Namen geändert und Bilder von anderen Personen verwendet wurden. Ob die Geschichten wirklich stimmen, steht nirgends.»

«Die Hilfswerke bedienen unterm Strich das, was der amerikanische Psychologieprofessor Paul Slovic in der ‹Süddeutschen Zeitung› die Arithmetik des Mitgefühls nennt. Und diese Arithmetik ist irrational.»

«Der Wettbewerb in der Hilfswerkbranche wird zunehmend härter. Das verheisst nichts Gutes: Die Organisationen müssen noch mehr auf die Tränendrüse drücken.»

«Wer emotional berührt wird, bei dem sitzt das Portemonnaie lockerer.»

Der Autor versteht nichts von Werbung

Der Autor dieser Kritik der Hilfswerke-Werbung hat wenig Sachkenntnis. Er betont immer wieder, diese Werbung sei «emotional» – als ob das in der Werbung die Ausnahme wäre. Wie verkauft sich Champagner? Natürlich mit einem Bild einer fröhlichen Gesellschaft! Sollen da Leute gezeigt werden, die am Tisch sitzen und griesgrämig in die Gläser starren? Wie verkauft sich eine 10’000-fränkige Uhr? Etwa mit der Aussage, dass sie genau wie eine 100-fränkige Uhr einfach die genaue Zeit zeigt? Es muss eine prominente Person her, die diese Uhr trägt, ein Sportler zum Beispiel, der zeigt, wie man zu Prestige kommt! Rational ist wohl gerade noch jene Werbung, die darauf aufmerksam macht, dass etwas besonders preisgünstig ist. Aber auch da spielen Emotionen mit. So etwa sieht man immer wieder Werbung, auf der gesagt wird, dass jetzt das Auto XY für 4000 Franken günstiger zu haben ist – ohne Nennung des wirklichen Preises! Ist das rational? Nein, selbst diese Werbung versucht, Emotionen zu wecken: Wow, super, da kann ich Geld sparen!

Der Autor versteht nichts vom Markt

Als Beleg, dass die Werbung in der Weihnachtszeit unredlich sei, erwähnt der Autor, dass in den letzten zwei Monaten des Jahres bei den Hilfswerken ein Drittel des Jahresertrages gewonnen werde. Das aber ist nichts Besonderes. Die Buchhandlungen etwa machen die Hälfte des Jahresumsatzes im Weihnachtsgeschäft. Alkoholische Getränke – Champagner! – machen ebenfalls deutlich höhere Umsätze in der Weihnachtszeit. Warum sollen dann die Hilfswerke die Weihnachtszeit nicht nutzen dürfen, wo doch an Weihnachten an Jesus Christus erinnert wird, der, wie man lesen kann, die Nächstenliebe predigte? Nur wenige Branchen werben jahreszeitenunabhängig.

Der Autor versteht nichts von Psychologie

In seiner «Analyse», sofern der Artikel diese Bezeichnung überhaupt verdient, kritisiert der Autor insbesondere den Appell der Hilfswerke-Werbung ans «schlechte Gewissen». Warum denn? Dass man in einem Land, das zu den reichsten der Welt gehört, in Anbetracht der Hunderte von Millionen Menschen, die Hunger leiden, ein schlechtes Gewissen haben kann, ist ja so abwegig nicht. Und dass man in Anbetracht unserer privilegierten Situation an dieses potenzielle schlechte Gewissen appelliert, ist doch absolut legitim!

Vor allem aber ist auch legitim, dass nicht nur Zahlen genannt werden, wie es der Autor fordert, sondern auch Bilder aus Elendsgebieten gezeigt werden. Jeder ausgebildete Journalist hat in der Journalistenschule gelernt, dass jene Stoffe für die Leserinnen und Leser interessant sind, die sich a) in der Nähe – durchaus in km gemessen – abspielen, und b), die sich Herr Meier und Frau Müller auch lebensnah vorstellen können. Wie soll sich der Besucher der neuen «Mall of Switzerland» in Ebikon mit ihrem Wahnsinnsangebot quälenden Hunger vorstellen können? Mit einem Plakat vielleicht, auf dem steht: «100 Millionen Kinder hungern»? Es ist das Einzelschicksal, das interessiert und berührt. Schon mal was von Thornton Wilders «Die Brücke von San Luis Rey» gehört? Wohl eher nicht. Jeder Romanautor beschreibt Einzelschicksale, nur sie interessieren! Und jeder, der schon mal einen Roman gelesen hat, weiss das auch. Warum sollten dann ausgerechnet die Hilfswerke dieses Wissen nicht einsetzen dürfen?

Zum Bild: Die Tage dieses Kindes in den Armen seiner Mutter im oben gezeigten Auffanglager für Landlose in Südbrasilien – von ihren Dörfern vertrieben wegen des neu entstandenen Stausees nach dem Bau einer Staumauer – sind wohl gezählt: Die Ernährung ist ungenügend, medizinische Versorgung gibt es nicht. Hätte ich als Fotograf dieses Bild nie publizieren dürfen, weil es Emotionen auslöst? Und warum sollen das die Hilfswerke nicht tun dürfen? (Foto Christian Müller)

Wir brauchen Hilfswerke!

In einer Zeit, in der die einen Dutzende von Millionen für eigene Villen ausgeben können, während andere selbst im Winter unter freiem Himmel übernachten müssen, weil sie sich ein Dach über Kopf nicht leisten können, müssen wir froh sein, dass es Hilfswerke überhaupt gibt. Und es ist klar, dass Hilfswerke Geld brauchen, um die sich selbst gesteckten Aufgaben anzugehen – eine Erfüllung ihrer Ziele ist eh kaum je möglich. Es ist deshalb ziemlich unverständlich – um nicht zu sagen: abstossend – dass die NZZ ausgerechnet die Werbung der Hilfswerke unter die Lupe nimmt und die Hilfswerke mit der zu generellen Kritik auch noch ordentlich verunglimpft.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Der Autor zahlt an verschiedene Hilfsorganisationen Beiträge, nicht zuletzt auch in der Weihnachtszeit.

Zum Infosperber-Dossier:

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Kritik von Zeitungsartikeln

Printmedien üben sich kaum mehr in gegenseitiger Blattkritik. Infosperber holt dies ab und zu nach.

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7 Meinungen

  • am 26.12.2017 um 13:28 Uhr
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    Nur ein Geschäft mit dem schlechten Gewissen? Christian Müller kritisiert Florian Schoop mit Recht seinen Kommentar in der NZZ vom 19.12. mit welchem er eine Attacke gegen die schweizerischen Hilfswerke losliess. Die Frage ob der Autor überhaupt über die Mechanismen in Werbung und PR Bescheid weiss ist wohl berechtigt. Da gibt es keine Unterschiede zwischen Werbung/PR der Hilfswerke und der Wirtschaft. Beide wollen mit ihren Messages dasselbe: Erfolg für ihr Unternehmen. Und beide setzen dabei Emotionen ein. Der Wirtschaft stehen in vielen Bereichen des Konsums deutlich mehr Mittel zur Verfügung, hier geht es ausschliesslich um den Gewinn, der Jahr für Jahr – zum Beispiel für Aktionäre – «erwirtschaftet» werden muss, sprich um Gewinne die für die Reichen unserer Gesellschaft angedacht sind. Bei den anerkannten Hilfswerken geht es um Soziale Werke, die Einstehen für Menschen, die auf der Schattenseite stehen. Dafür sammeln sie. Wir brauchen die Hilfswerke, damit den betroffenen Menschen das Wenige zum Überleben überhaupt zuteil kommt. Für mich verdient Florian Schoop die Note «Schämdi». Dabei darf man sich auch fragen, was er als Dozent für Medienkunde am Kompetenzzentrum für Land- und Ernährungswirtschaft Strickhof seinen Lernenden vermittelt hat. Vielleicht hat er sich ja damals als Chamelion verhalten – schön angepasst was gerade für seine Karriere dienlich war. Und so wird wohl sein Kommentar entstanden sein. Angepasste Menschen führen aber kaum zu einer friedliche Welt.

  • am 26.12.2017 um 17:19 Uhr
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    Diese ‚Kritik‘ an den Sammelmethoden der Hilfswerke zielt nicht auf die Sammelmethoden (über die man in guten Treuen diskutieren kann), sondern ganz direkt auf die Hilfswerke. Sie sollen schlechtgeredet werden. Nicht in erster Linie, weil sie humanitäre Aufgaben übernehmen, die in unserer eigennutzorientierten Gesellschaft sonst durchfallen würden, sondern weil sie auch in entwicklungs- und wirtschaftspolitischen Fragen eine gesellschaftliche Sicht vertreten, die der grossen Wirtschaftslobby nicht ins Konzept passen. Wer bekämpft seit schon Jahrzehnten die schweizerischen Waffenausfuhrgeschäfte? Wer hat sich schon anfang der 80er-Jahre gegen die schweizerische Ausprägung des Bankgeheimnisses eingesetzt? Wer kritisiert die wirtschaftlichen Aktivitäten schweizerischer Multis (Nestlé, Pharma etc.) oder von der Schweiz aus operierender Multis (Goldraffinerien, Glencore usw.)? Wer stützt die eingereichte Konzernverantwortungsinitiative (KOVI), vor der sich heute Economiesuisse und der Gewerbeverband bis und mit NZZ fürchten, all die Kreise, die sich gewohnt sind, dass ihnen möglichst niemand dreinredet. Also ist es nur logisch, dass die Hilfswerke als wirklich zivilgesellschaftliche Kraft angegriffen und geschwächt werden sollen (ganz ähnlich wie auch die unabhängigen Medien). Hoffen kann man, dass die Breitseite von Christian Müller gegen die Sammelmethoden der Hilfswerke bzw. gegen die Hilfswerke derart plump ist, dass viele diesen Scheinkampf durchschauen!

  • am 26.12.2017 um 20:35 Uhr
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    Herr Berweger, im letzten Satz Ihres Kommentars ist Ihnen eine Namensverwechslung unterlaufen. Nicht Christian Müller von infosperber hat eine Breitseite gegen die Hilfswerke abgefeuert, sondern ein Journalist der NZZ. (lt. Kommentar von Frau Beyeler ein Florian Schoop.)

  • am 26.12.2017 um 21:06 Uhr
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    Ja, der besagte Artikel ‹Das Geschäft der Hilfswerke mit dem schlechten Gewissen› in der NZZ vom 19. Dezember 2017 ist von Florian Schoop verfasst, also nicht von Christian Müller, wie irrtümlich von mir angegeben. Danke für den Hinweis!

  • am 26.12.2017 um 23:19 Uhr
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    Aufgewühlte Menschen sind abgelenkt, denken nicht über die Ursachen der schlimmen Verhältnisse nach. Das sollte der NZZ eigentlich sympathisch sein. Ihre intellektuellen Leser muss sie wohl kaum vor den Manipulationen der Hilfswerke schützen und das bisschen Spendengeld ist auch irrelevant. Wozu also der Artikel? Ich nehme an, dass NGOs und private Initativen generell diskreditiert werden sollen, damit bei ernsthaften kritischen und unangenehmen Initiativen der Tenor schon gesetzt ist, die NGOs als reine Businessorganisationen und die Spender als Einfaltspinsel diffamiert sind. Ich teile ganz die Meinung Herrn Berwegers. Aber ehrlich gesagt ist mir das hypokritische Weihnachtsgetue einer im Wesentlichen aspirituellen Gesellschaft auch nicht sympathisch. Die vornehmlich emotional auftretenden Organisationen unterstütze ich nicht, weil sie sich meines Erachtens um das Wesentliche drücken, weil sie die Hauptverursacher der Miseren nicht benennen. Das scheint mir nicht ehrlich, nicht christlich und ich unterstütze deshalb lieber Public Eye, AI, Greenpeace, Atomkraftgegner… und Internetportale wie KenFM, Nachdenkseiten, SIPER… und habe mal ein Jahr «REPUBLIK» abonniert…

  • am 29.12.2017 um 00:09 Uhr
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    Lieber Herr Müller,
    Danke für den Artikel.
    Weltwoche frisst NZZ.

  • am 2.01.2018 um 17:40 Uhr
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    Ziemlich unverständlich soll es sein, dass » die NZZ ausgerechnet die Werbung der Hilfswerke unter die Lupe nimmt und die Hilfswerke mit der zu generellen Kritik auch noch ordentlich verunglimpft.» Für mich ist das sehr verständlich. Das schlechte Gewissen hat sich in der NZZ-Redaktion gemeldet und nun nimmt ein Gegenmittel. Auch wenn dieses bei normalen Leuten Brechreiz auslöst.

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